EDITORIAL

Öffentlichkeit der Politik ist eine Grundvoraussetzung für Demokratie. Sie erschöpft sich aber nicht darin, dass jeder seine Meinung sagen kann. Vielmehr geht es um den zivilisierten Austausch dieser Meinungen auf Basis eines Grundkonsenses, so strittig sie im Einzelnen auch sein mögen, um Informationen zu erhalten und zu einem Urteil zu gelangen. Dieses Charakteristikum demokratischer Öffentlichkeit ist in der digitalen Welt in Gefahr – mit erheblichen Konsequenzen für die Kommunikation zwischen Parlament und Gesellschaft.

Diesem Thema widmete sich die Deutsche Vereinigung für Parlamentsfragen auf einer Forumsveranstaltung mit Vorträgen von Utz Schliesky und Gerhard Vowe, die der Frage nachgingen, ob es durch die Digitalisierung zu einem neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit komme. Beide finden sich in diesem Heft der ZParl in überarbeiteter Form. Schliesky geht auf zehn parlamentsspezifische Aspekte ein, an denen man einen solchen Wandel erkennen kann. Sie reichen von der Bedeutung sogenannter sozialer Netzwerke als Medium der Kommu­nikation über Kostenfragen und das Fehlen von Qualitätskontrolle bei der Meinungs­verbreitung bis zu Beschädigung demokratischer Repräsentation und Ansehensverlust der Parlamente. Fünf Vorschläge legt er vor, wie man die parlamentarische Demokratie trotzdem retten kann. Diese Vorschläge sieht Gerhard Vowe teilweise kritisch; auch stellt er den eher düsteren Befunden Schlieskys entwarnende Argumente entgegen und diskutiert den Wandel parlamentarischer Kommunikation unter den Stichworten Pluralisierung, Individualisierung und Dynamisierung.

Eng verbunden mit diesen Entwicklungen sind die Entstehung populistischer Parteien und ihre Wirkungen auf Parlamente und die repräsentative Demokratie. Aus unterschiedlichen Perspektiven wurde dieser Themenkomplex schon immer wieder in der ZParl aufgegriffen. Theoretisches wie Empirisches, aus Deutschland wie aus anderen Ländern, soll in diesem und in den Heften des nächsten Jahres dazu beitragen, Autokratisierungstendenzen und ihren Zusammenhang zu Repräsentationsdefiziten zu erhellen.

Wie weit die Türkei fortgeschritten ist auf dem Weg zu einer Autokratie, wird aus Mahir Tokatlıs Analyse der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 deutlich. Nicht nur erhält man daraus viele Informationen über die Entwicklung des Regierungs- und Parteiensystems im Lande, sondern Tokatlı unterbreitet auch einen Vorschlag, die gängige Typologisierung zu erweitern: Seines Erachtens sprechen die herrschenden Bedingungen des politischen Wettbewerbs dafür, die Türkei als semi-kompetitives System zu etikettieren. Thomas Krumm liefert Details zum Ausgang der Wahlen bei den in Deutschland lebenden Türken. Die Gründe, die er für ihr vom Herkunftsland abweichendes Wahlverhalten verantwortlich sieht, geben interessanten Aufschluss nicht nur für Deutschland und seine türkischstämmige Bevölkerung.

Christian Pfeiffer und Nikolaus Werz beleuchten das unerwartete Wiedererstarken der beiden Traditionsparteien in Spanien bei den Wahlen im Sommer 2023. Damit ist aber keineswegs das Ende der populistischen und separatistischen Kräfte eingeläutet. Ganz im Gegenteil: Warum die Koalition, die Ministerpräsident Pedro Sánchez im Parlament nach langem Ringen mit Mehrheit wählte, alles andere als stabil ist, warum vor allem der nur scheinbar eingefrorene Territorialkonflikt nun die politische Atmosphäre in Parlament und Gesellschaft weiter verschlechtert hat und welche europäische Dimension in all dem liegt, ist in ihrem Beitrag nachzulesen.

Länger als wohl jedes andere Land in Europa ist Italien mit politischem Populismus vertraut. Es begann 1993 mit der Forza Italia Silvio Berlusconis, mittlerweile sind drei weitere große Parteien dieser Art im Parlament vertreten, und seit 2018 ist die erste komplett populistische Regierung in Westeuropa im Amt. Dies bietet Alice Cavalieri und Elisabetta De Giorgi die Gelegenheit, verschiedene Spielarten – sie unterscheiden Rechts- von Valenzpopulisten – zu untersuchen. Über drei Wahlperioden analysieren sie deren Verhalten im Parlament. Mit diesem Vergleich helfen sie, besser zu verstehen, wie populistische Parteien ihre Repräsen­tationsrolle innerhalb der Institution konzipieren und ausüben.

„Ein kleiner Kosmos an historischem und modernem Parlamentarismus“ – so betitelt Moritz von Wyss seinen Beitrag über die Kantonsparlamente in der Schweiz, der zusammen mit drei weiteren Beiträgen ein facettenreiches Bild des schweizerischen politischen Systems zeichnet. Hierzulande wird dies zwar oft als „direkte“ oder „Konkordanzdemokratie“ eingeordnet, aber nur selten genauer unter die Oberfläche geschaut. Einen einführenden Überblick über Parlamentarismus, Parteien- und Wahlsystem gibt Thomas Dähler. Seine Ausführungen, wie stark sich Parlamentspraxis und -kultur der Eidgenossenschaft von anderen Ländern unterscheiden, bereitet den Boden für die detaillierte Befassung mit den Parlamenten auf Bundes-, Kantons- und Kommunalebene. Und sie lassen verstehen, warum das politische System der Schweiz eben „kein Exportartikel, aber bewährt für das Land“ ist.

Schon mit den fünf Fragen, die Ruth Lüthi zu Beginn ihres luziden Artikels über die Bundes­versammlung stellt, wird deutlich, dass man vertraute Begriffe wie Regierungsmehrheit und Opposition, Fraktionsdisziplin und Regierungsstabilität ad acta legen muss, wenn man Politik in der Schweiz verstehen will. Wie stark das gewaltenteilige System beide Kammern des Parlaments gerade im Gesetzgebungsprozess macht, erfährt man bei Lüthi genauso wie Erwägungen zu weiterer Professionalisierung von National- und Ständerat.

Wer weiß in Deutschland schon, dass es in der Schweiz über 500 Parlamente und circa 70 verschiedene Formen parlamentarischer Minderheitsrechte gibt? Mit dieser Vielfalt kontrastiert Moritz von Wyss die heutige Lage der Kantonsparlamente, die er nur noch in einer Nebenrolle sieht. Er erklärt ihre Rechtsstellung im Gesamtgefüge der Eidgenossenschaft, wirft Licht auf den Reichtum parlamentsrechtlicher Besonderheiten, untersucht ihre Funktionen. Und auch dazu, was es bräuchte, um den kantonalen Parlamentarismus „wieder zum Blühen zu bringen“, hat von Wyss eine klare Meinung. Die dritte Ebene wird von Michael Strebel behandelt. Er legt eindrucksvolle Daten zu den kommunalen Legislativen vor – zum Beispiel haben mehr als 90 Prozent der Gemeinden in der Deutschschweiz kein Parlament, sondern eine Gemeindeversammlung – und diskutiert die Vor- und Nachteile beider Formen im Lichte politischer Partizipation.

Unter dem Schlagwort „unequal democracy“ werden der große Einfluss finanzstarker Interessen auf die Politik und ungleiche Zugangschancen zum Parlament für finanziell schlechter gestellte Schichten thematisiert. Mit Daten der Jenaer Abgeordnetenstudie untersuchen Marion Reiser, Jonathan Rinne und Lars Vogel, welche Einstellungen deutsche Parlamentarier dazu haben. Die Ergebnisse ihrer Befra­gung zeigen: Abgeordnete sehen den Einfluss ökonomischer Ressourcen auf Responsivität und Rekrutierungschancen. Aber gleichzeitig wird aus ihren Antworten deutlich: Die Vorstellung „deskriptiver“ Repräsentation als eigentlich richtige und erstrebenswerte Form wird den vielschichtigen Beziehungen zwischen Repräsentanten und Repräsentierten nicht gerecht und übersieht die Funktion parlamentarischer Repräsentation als Vertretung und Aushandlung von Interessen.

Suzanne S. Schüttemeyer