EDITORIAL

Überrascht, verwundert, teilweise sogar recht fassungslos fielen die Reaktionen aus, als im Mai dieses Jahres in der FAZ zu lesen war, wie der mittlerweile auf 736 Sitze angewachsene Bundestag wieder kleiner werden soll. Aus der Wahlrechtskommission, die Lösungen für dieses langwierige Problem erarbeiten soll, hatten sich die drei Obleute der Ampelkoalition zu Wort gemeldet und ein „Gesprächsangebot zur Reform des Wahlrechts“ unterbreitet. In der Öffentlichkeit prägte sich vor allem ein: Im Wahlkreis gewonnene Mandate sollten nicht zugeteilt werden, also direkt gewählte Abgeordnete ihren Sitz nicht erhalten. Was genau es damit auf sich hat, erläutert Joachim Behnke, selbst Mitglied der Wahlrechtskommission, in diesem Heft der ZParl. Er kontrastiert den vorliegenden Vorschlag, der das Prinzip der Verhältniswahl bewahren und auch ein Personalwahlelement enthalten würde, mit der Empfehlung eines Grabenwahlsystems, die drei andere Kommissionsmitglieder inzwischen vorgelegt haben. Die Anwendung beider Varianten auf die zurückliegenden Bundestagswahlen zeigt, welche Verzerrungen bei der Mandatsverteilung entstehen würden; und Behnke führt noch weitere Gründe gegen eine Grabenwahl an. Dies sollte – so hofft die Redaktion der ZParl – der Auftakt zu einer Diskussion sein, an deren Ende ein Konsens steht, der die – demokratietheoretisch und demokratiepraktisch benötigte – breite Akzeptanz des Wahlrechts sichert.

Mit so manchen Vorurteilen gegenüber dem oft abschätzig konnotierten „Lobbyismus“ räumen Niclas Hüttemann und Eric Linhart auf. Sie schreiben ihre Erhebungen zur Interessenvertretung in den Ausschüssen des Bundestages in der 17. Wahlperiode fort. Keineswegs korporatistisch verengte, sondern vielfältige Positionen von Verbänden und Vereinen finden Gehör auf regulären Sitzungen und bei öffentlichen Anhörungen . Dabei sind deutliche Unterschiede zwischen Ausschüssen und Veränderungen in den Mustern der Interessenvertretung zu beobachten. Nicht zuletzt bei der Einrichtung der Ausschüsse zu Beginn einer neuen Wahlperiode sollte bedacht werden, was Hüttemann und Linhart beispielsweise für den Agrarausschuss und seine inhaltliche Neuzuschneidung feststellen.

Wie vorsichtig man mit Prognosen umgehen muss, belegen einmal mehr die drei Landtagswahlen in der ersten Jahreshälfte 2022. Es ist noch nicht lange her, dass der end- gültige Abschied von absoluten Mehrheiten oder die Zersplitterung der Parlamente an die Wand gemalt wurde. Die Saarländer belehrten die Auguren eines Besseren, wie Uwe Jun und Marius Minas erklären. Mit dem Vorteil großer Popularität ihrer Spitzenkandidatin gewann die SPD die Wahl und kann allein die Regierung stellen; und die Opposition besteht nur noch aus der CDU und der AfD. In Schleswig-Holstein war das Führungsper- sonal der Parteien ebenfalls wahlentscheidend. Wilhelm Knelangen zieht die Bilanz der Jamaika-Koalition in Kiel mit ihrem sehr beliebten Regierungschef, dem ein weitgehend unbekannter SPD-Kandidat gegenüberstand . Am Ende verpasste die AfD zum ersten Mal in einem Flächenland den Wiedereinzug in den Landtag, erreichte die Partei der dänischen und friesischen Minderheit erstmals Fraktionsstärke, und die CDU verfehlte die absolute Mehrheit nur um einen Sitz. Dass bei Fortführung des schwarz-grün-gelben Bündnisses eine übergroße Koalition entstanden wäre, war wohl aber nicht der wichtigste Grund, warum CDU und Grüne die FDP nicht mehr an der Regierungsbildung beteiligten.

Auch aus der eine Woche später stattfindenden Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen ging eine schwarz-grüne Koalition hervor. Anders als in den beiden vorherigen Wahlen spielten hier aber Themen jenseits der Landespolitik die entscheidende Rolle. Stefan Bajohr analysiert die „kleine Bundestagswahl“, die diesmal als Feuerprobe für die neue Ampelkoalition im Bund angesehen wurde. Bei ihm ist nachzulesen, wie die Düsseldorfer Regierungsparteien CDU und FDP die Zustimmung der Wählerschaft verloren, warum nur die Grünen gewannen und welche bundespolitischen Auswirkungen die Wahl hat.

Eine Komponente der Entscheidungen der Wähler ist gewiss die Einschätzung der Leistungen gewesen, die Parteien, Parlamente und Regierungen im Verlauf der Corona-Pandemie erbracht haben. Auf eine andere Folgeerscheinung der Pandemie macht Norbert Ker- sting aufmerksam: Um Corona zu bekämpfen waren Maßnahmen nötig, die als „demokratischer Lockdown“ wahrgenommen wurden. Einerseits beeinträchtigten diese teilweise massiv die Durchführung von Kommunalwahlen. Andererseits aber führten die organisatorischen Hindernisse und die erzwungene Verlagerung von politischer Beteiligung ins Netz zu einem „Digitalisierungsschub“, wie Kersting am Beispiel der Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen beobachtet hat.

Auf den amerikanischen Kontinent richten zwei Beiträge in diesem Heft ihr Augenmerk. Nur wenig wird hierzulande über Südamerika geforscht, und so blieb auch weitgehend unbeachtet, wie sich der Übergang von der Militärdiktatur zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Chile gestaltete. Dabei kann aus diesem Fall viel gelernt werden über Theorie und Praxis solcher Transformationsprozesse. Ralf Lunau gibt Aufschluss über Vorgeschichte und Verfahren der Verfassungsgebung, die nun erst nach seit gut dreißig Jahren aufgrund wachsender sozialer Unruhen und institutioneller Erstarrung in Angriff genommen wurde. Der „alten“, aber in letzter Zeit durchaus zu Besorgnis Anlass gebenden Demokratie USA widmet sich Marco Bitschnau mit einer Zwischenbilanz der Präsidentschaft Joe Bidens. Dessen Probleme, linke Demokraten, skeptisch-moderate Kräfte im Senat und erstarkte Republikaner zu parlamentarischen Mehrheiten zusammenzuführen, werden die Kongresswahlen in diesem November wesentlich beeinflussen – und auch das Risiko einer erneuten Kandidatur Trumps für das Präsidentenamt .

Eine Rechtspopulistin als französische Staatschefin wurde im April dieses Jahres verhindert. Warum Marine Le Pen ihr bislang bestes Ergebnis erzielte und Emmanuel Macron seine Wiederwahl schaffte, analysiert Udo Kempf. Aus deutscher Sicht besonders beunruhigend sind die zunehmend europafeindlichen und protektionistischen Einstellungen, die Kempf als Ausdruck der großen Zerrissenheit unseres Nachbarlandes sieht. Ob sich daran etwas ändert, wird nicht zuletzt von der Entwicklung des Parteiensystems abhängen. Claire Bloquet und Anastasia Pyschny zeichnen nach, wie sich die französische Linke im Zuge der Kandidatenaufstellung zu einem Bündnis für die Parlamentswahl zusammenschloss. Dabei werden auch wenig bekannte Kontextfaktoren, etwa die Parteienfinanzierung, erörtert und die Zukunftsaussichten der neuen Allianz eingeschätzt . Wird die „Quadripolarisation“ früherer Jahrzehnte nun durch drei Pole ersetzt? Und welche Folgen hat dies für das politische System?

Je mehr sich populistische europafeindliche Haltungen in den Mitgliedstaaten der EU breitmachen, desto mehr bedarf es der Gegengewichte, wenn man die europäische Integra- tion erhalten oder sogar intensivieren möchte. Dafür sind politische Parteien unverzichtbar; sie sind bisher aber nationalstaatliche Organisationen geblieben. Fiene Kohn arbeitet die Vorzüge echter paneuropäischer Parteien heraus und entwirft konkrete rechtliche Maßnahmen, um eine solche Parteiform zu etablieren, mit der demokratische Legitimation und europäische Integration gefördert würden.

Suzanne S. Schüttemeyer