Deutschsprachige Abstracts der aktuellen Ausgabe der ZParl

Gallon, Johannes: Eilgesetzgebung und parlamentarische Praxis in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. 

Der Beitrag untersucht Eilgesetzgebung in der parlamentarischen Praxis der Bundesrepublik Deutschland aus rechtlicher Perspektive mit einem empirisch-historischen Zugriff. Eilgesetzgebung zeichnet sich durch eine Beschleunigung aller Bestandteile des Gesetzgebungsverfahrens aus. Eine zeitliche Mindestdauer für dieses Verfahren enthält das Grundgesetz anders als die Geschäftsordnung des Bundestags bislang nicht. Im Jahr 2023 deutete das Bundesverfassungsgericht an, zeitliche Bindungen aus dem Status der Gleichheit der Abgeordneten für das Gesetzgebungsverfahren abzuleiten (Beschluss vom 5. Juli 2023 – 2 BvE 4/23 und Urteil vom 24. Januar 2023 – 2 BvF 2/18). Eine Auswertung der Daten des Dokumentations- und Informationssystems für Parlamentsmaterialien zwischen 1994 und 2023 zeigt eine allgemeine Verkürzung der Dauer von Gesetzgebungsverfahren. Weniger als ein Prozent der Gesetze werden als Eilgesetze innerhalb weniger Tage durchgeführt. Eilgesetzgebung lässt sich auch schon seit der Gründung der Bundesrepublik feststellen. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber oft krisenbedingt. Das Bundesverfassungsgericht hat das Phänomen bisher erratisch behandelt. Im Anhang findet sich eine Übersicht über die Eilgesetze in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 2023. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 2, S. 239 – 262]

FrieheMatthias: Neben-Parlament Bürgerrat?

Im Jahr 2023 hat der Deutsche Bundestag einen Bürgerrat zu Ernährung im Wandel eingesetzt. Das institutionelle Design entsprach den Vorschlägen von Vertretern deliberativer Demokratie wie James Fishkin oder Peter Dienel. Dies betrifft die Auswahl der Teilnehmer per Los, eine Beratung der Teilnehmer durch Experten und eine Moderation der Diskussionen. Dieser Beitrag argumentiert, dass der Bürgerrat auf verfassungswidrige Weise eingerichtet worden ist. Als Reaktion auf das Scheitern der Weimarer Republik hat der Verfassungsgeber von 1949 die Autorität des Grundgesetzes dadurch geschützt, dass er Verfassungsänderungen „außerhalb“ der Verfassung verboten hat. Jede Verfassungsänderung muss den Text des Grundgesetzes ausdrücklich ändern. Der Bundestag hat diese Anforderung verfehlt, als er durch einfachen Parlamentsbeschluss de facto ein Neben-Parlament eingerichtet hat. Der Beitrag schließt mit einem Vorschlag, wie der Bundestag einen Bürgerausschuss verfassungskonform einrichten könnte. Dieser Vorschlag unterscheidet sich vom Design des Bürgerrats. Der Ausschuss soll Berufspolitiker und „normale“ Bürger ins Gespräch bringen und daher gemischt aus gelosten Bürgern und gewählten Abgeordneten zusammengesetzt sein. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 2, S. 263 – 281]

MagdenkoAnna: Blockade im Bundesrat – ein Resultat verfassungswidriger Koalitionsvereinbarungen in den Ländern.

Das Gesetzgebungsverfahren von Zustimmungsgesetzen offenbart ein verfassungsrechtliches Dilemma. Die in der Bundesregierung sowie in der Bundesopposition vertretenen Parteien nutzen den Bundesrat zuweilen, um sich politisch für oder wider die Bundespolitik zu profilieren. Das Resultat sind vorprogrammierte Blockaden des Verfassungsorgans. Diese Instrumentalisierung des Bundesrates erregt nicht nur politische Aufmerksamkeit. In der Literatur werden diverse Ansätze diskutiert, das Problem der Blockade im Bundesrat verfassungsrechtlich zu lösen. Dieser Beitrag entwickelt anhand der Schranken des Grundgesetzes einen neuen Blickwinkel auf die Problematik: Die bestehenden Koalitionsvereinbarungen der Länder setzen sich über die Verfassung hinweg und sind daher verfassungswidrig. Zugleich beleuchtet der Beitrag den Meinungsstand kritisch und betrachtet alternative Bundesratsklauseln, die die Schranken des Grundgesetzes respektieren. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 2, S. 282 – 299]

HillerTobias: Zur Messung der Schwierigkeiten bei der Regierungs- und Mehrheitsbildung in Parlamenten.       

Sperrklauseln sind in Wahlsystemen ein Instrument, mit dem eine Zersplitterung des Parlaments verringert und damit die Regierungs- und Mehrheitsfindung verbessert werden soll. Daneben verursachen Sperrklauseln jedoch auch Verwerfungen und führen dazu, dass nicht mehr alle Stimmen der Wahlberechtigten berücksichtigt werden. Bei der Einführung von Sperrklauseln durch Parlamente sowie bei der Kontrolle durch Verfassungsgerichte müssen diese beiden Effekte gegeneinander abgewogen werden. Für diese Abwägung hatte der Autor 2023 ein Konzept basierend auf der kooperativen Spieltheorie eingeführt, mit dessen Hilfe die Schwierigkeiten der Regierungs- und Mehrheitsfindung in Parlamenten messbar gemacht werden können. In diesem Artikel wird dieses Konzept auf die Bundestagswahlen zwischen 1994 und 2021 angewendet. Dabei werden plausible Ergebnisse erzielt, die eine weitere Anwendung erwarten lassen. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 2, S. 300 – 311]

BaumertJona-Frederik: Wählen mit Kübeln und Kaskaden: Wie sich das Personenstimmenparadox bei Wahlen in Bremen, Hamburg und Niedersachsen auf einfache Weise vermeiden lässt. 

Bei Bürgerschaftswahlen in Bremen und Hamburg sowie Kommunalwahlen in Niedersachsen haben Wähler die Möglichkeit, direkt einen oder mehrere Kandidaten zu wählen oder die von den Parteien vorgeschlagene Listenreihenfolge zu bestätigen. Das Verhältnis der für die Kandidaten und die Liste abgegebenen Stimmen bestimmt darüber, wie viele Sitze in der Listenreihenfolge und wie viele Sitze in der Reihenfolge der auf die Kandidaten entfallenen Stimmen besetzt werden. Hierbei kann der Fall eintreten, dass eine zusätzliche Stimme für einen Kandidaten dazu führt, dass dieser keinen Sitz erhält. Jenes Phänomen, das an negatives Stimmgewicht bei Bundestagswahlen erinnert, stellt aus demokratietheoretischer Sicht ein Ärgernis dar, weil es gegen die grundlegende Forderung verstößt, dass eine Stimme für einen Kandidaten stets zu einer Steigerung seiner Wahlchancen führt. Probst und Schröder sprechen vom Personenstimmen- oder Fremdverwertungsparadox. Hier werden drei einfache Verfahren vorgestellt, die das Personenstimmenparadox vermeiden, ohne dabei die Funktionslogik des Wahlsystems grundlegend zu verändern. Die Auswirkungen der vorgeschlagenen Verfahren werden anhand des Wahlergebnisses der Bremer Bürgerschaftswahl von 2023 illustriert. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 2, S. 312 – 328]

WendlingLisa und Martin Gross: Kleine Gemeinden in der kommunalpolitischen Forschung: Eine Fallstudie in Bayern. 

Die Analyse von Kommunalwahlen und lokalem Parteienwettbewerb finden eher selten Berücksichtigung in politikwissenschaftlicher Forschung. In den wenigen Fällen, in denen dies dennoch geschieht, sind es vor allem die großen Städte oder die Bürgermeisterwahlen, die im Zentrum des Forschungsinteresses stehen. In diesem Beitrag wird die politische Vielfalt in 1.063 kleinen Gemeinden mit weniger als 3.000 Einwohnern bei den bayerischen Gemeinderatswahlen 2020 beleuchtet und beschrieben, welches politische Angebot gemacht wird und wie sich dieses auf die Wahlbeteiligung auswirkt. Die Ergebnisse zeigen, dass das politische Angebot an die Bürgerinnen und Bürger von Klein- und Kleinstparteien und lokalen politischen Gruppierungen dominiert wird. Einzig der CSU gelang es, in mehr als der Hälfte der Gemeinden eine eigene Liste zu den Gemeinderatswahlen aufzustellen. Darüber hinaus ist festzustellen, dass mit steigender Gemeindegröße und zunehmender Anzahl an zu vergebenden Gemeinderatssitzen die Anzahl der zur Wahl antretenden politischen Gruppierungen tendenziell ansteigt. Außerdem führte ein größeres politisches Angebot auch dazu, dass die Wahlbeteiligung in den entsprechenden Gemeinden höher ausfiel als in denjenigen Gemeinden, die ein geringeres politisches Angebot aufwiesen. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 2, S. 329 – 349]

KownatzkiPaul Philipp: Kommunale Parteiensysteme in Rheinland-Pfalz und Thüringen: Welchen Einfluss hat die Gemeindegröße? 

Auch für die kommunale Ebene wird eine zunehmende Zersplitterung der Parteiensysteme in den Räten konstatiert. Dabei ist Kommunalpolitik in der Bundesrepublik maßgeblich von der Einwohnerzahl der Gemeinde/Stadt abhängig. Am Beispiel der Bundesländer Rheinland-Pfalz und Thüringen – mit vielen kleinen und Kleinstgemeinden – kann dies anhand der Parteiensysteme in den lokalen Räten aufgezeigt werden. Dabei bestätigt sich ein positiver Zusammenhang zwischen Zahl der Listen im Rat, der Zersplitterung und der Parteipolitisierung. Allerdings bestehen gerade zwischen ähnlich kleinen Gemeinden teilweise deutliche Unterschiede in Bezug auf Format und Fragmentierung der Räte. Dort gibt es ein buntes Nebeneinander von fragmentierten Parteiensystemen, Wählergruppensystemen oder der dörflichen Mehrheitswahl mit und ohne Liste. Eine mögliche Erklärung könnte die lokale Politische Kultur und insbesondere Gebietsreformen liefern. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 2, S. 350 – 372]

KleinMarkus, Christoph Kühling und Frederik Springer: Ein Drittel des Himmels. Die politische Partizipation von Frauen in Deutschlands Parteien. 

Der Anteil der Frauen an den deutschen Parteimitgliedern beträgt gegenwärtig etwa 30 Prozent. Unter den Neueintritten liegt dieser Anteil mit einem Drittel nur unwesentlich höher. In Deutschland existieren folglich weiterhin Barrieren für die parteipolitische Partizipation von Frauen. Im Rahmen des Beitrags werden geschlechtsspezifische Unterschiede in der Wahrnehmung von Anreizen und Kosten einer Parteimitgliedschaft entlang des kompletten Mitgliedschaftszyklus untersucht. Als Datengrundlage dienen die Deutschen Parteimitgliederstudien der Jahre 1998, 2009 und 2017. Danach geben Frauen häufiger als Männer innerparteiliche Konflikte als Grund für den Nicht-Beitritt in eine Partei angeben. Auch erwarten sie häufiger, wenig Spaß an der Arbeit innerhalb einer Partei zu haben. Treten sie dennoch einer Partei bei, tun sie dies häufiger aufgrund entsprechender Erwartungen ihres sozialen Umfelds. Sie streben seltener als Männer eine politische Karriere an. Dementsprechend übernehmen Männer häufiger als Frauen innerparteiliche Funktionen und kandidieren häufiger für öffentliche Ämter. Es finden sich keine Hinweise darauf, dass innerparteiliche Quotenregelungen den Anteil von Frauen in der Mitgliedschaft erhöhen. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 2, S. 373 – 394]

Best, Volker: Institutionelle Konsequenzen des Parteiensystemwandels in der Bundesrepublik Deutschland. 

Der erhebliche Wandel des deutschen Parteiensystems in den letzten Jahrzehnten schlägt sich auf das demokratische Institutionengefüge nieder. Der Beitrag beleuchtet die negativen Auswirkungen von der schwieriger gewordenen Regierungsbildung über die Spaltung und Schwächung der Opposition, die schwindende Mehrheitsfähigkeit der Bundesregierung im Bundesrat, die Delegitimierung des Wahlsystems und den Reputationsverlust der repräsentativen Demokratie bis hin zur drohenden Degeneration des Bundesverfassungsgerichts zum Repräsentativgremium. Positive Konsequenzen zeichnen sich lediglich für das Bundespräsidentenamt ab; das Gesamtbild ist klar von Funktionsverlusten geprägt. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 2, S. 426 – 448]

LeunigSven: Ist die Thüringer Rechtsordnung resilient genug? Zum Policy-Paper „Rechtsstaatliche Resilienz in Thüringen stärken. Handlungsempfehlungen aus der Szenarioanalyse des Thüringen-Projekts“.

Im April 2024 wurde im Thüringer Landtag eine Szenarioanalyse zur Resilienz der Thüringer Verfassungs- und Rechtsordnung mit Blick auf die mögliche Regierungsbeteiligung einer autoritär-populistischen Partei nach den Landtagswahlen im September 2024 vorgestellt. In dieser Studie wurde eine Reihe von Vorschlägen gemacht, wie die Demokratie im Freistaat widerstandsfähiger gemacht werden könne, auch wenn eine Partei wie die AfD „nur“ die meisten bzw. mehr als ein Drittel der Stimmen erzielen würde. Im vorliegenden Beitrag werden diese Vorschläge aus politikwissenschaftlicher Sicht auf ihren Nutzen bzw. ihre Notwendigkeit hin geprüft. Im Ergebnis kann den meisten zugestimmt werden, auch wenn darauf verwiesen werden muss, dass die Demokratie nicht allein durch Änderungen von (verfassungs-)rechtlichen Bestimmungen „gerettet“ werden kann. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 2, S. 449 – 460]

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