Abstracts 3/2002 deutsch

Jesse, Eckhard: Die wahrscheinlichen und die sinnvollen Koalitionen (vor) der Bundestagswahl 2002.
Zentrale Determinante der Wahlentscheidung ist die Option auf eine bestimmte Koalition. Demokratietheoretisch macht es deshalb Sinn, dass die Parteien vor der Wahl eine klare Aussage über ihre Koalitionspräferenz treffen. In der Vergangenheit war dies auch meist der Fall, in jüngerer Zeit scheint sich dies jedoch zu ändern: Die FDP lässt offen, ob sie eine Koalition mit der CDU oder der SPD will. Die SPD legt sich nicht fest, ob sie für den (wahrscheinlichen) Fall, dass rot-grün keine Mehrheit erhält eine große oder eine Ampel-Koalition favorisiert. Mit Blick auf die Koalitionsarithmetik erscheinen nach der Bundestagswahl 2002 drei Koalitionen wahrscheinlich: eine schwarz-gelbe, eine große oder – am unwahrscheinlichsten – eine Ampel-Koalition. Demokratietheoretisch sinnvoll sind: eine rot-grüne Koalition, weil bisher noch jede Regierungskoalition in Deutschland „eine zweite Chance“ bekam und dies auch seinen guten Sinn hat; eine schwarz-gelbe Koalition, weil sie die Alternative zur amtierenden Koalition kennzeichnet; schließlich eine große Koalition für den Fall, dass die beiden anderen Koalitionen arithmetisch nicht möglich sein sollten. Nimmt man die zahlreichen Regierungswechsel nach Landtagswahlen zwischen 1998 und 2002 als Test für den Bund, so spricht Vieles für einen Wechsel: sei es ein ungefilterter Wechsel wie 1998 oder ein Wechsel zu einer – großen – Koalition mit der SPD als Juniorpartner. (ZParl, 33. Jg., H. 3, S. 421 ff.)

Kropp, Sabine: Exekutive Steuerung und informale Parlamentsbeteiligung in der Wohnungspolitik.
Den Parlamenten in Bund und Ländern wird ein fortschreitender Kompetenzverlust diagnostiziert, der jene zu Ratifikationsinstanzen exekutiv gesteuerter Entscheidungen abstufe. Als Ursachen für diese Entwicklung werden unter anderem die europäische Integration, der Exekutivföderalismus, die Auslagerung von Entscheidungen in Policy-Netzwerke sowie die Einbeziehung von Expertenkommissionen in die für Entscheidungsprozesse bedeutsame Phase der Informationsbeschaffung genannt. Anhand des Entscheidungsprozesses zur Regulierung des Wohnungsleerstands wird untersucht, inwieweit eine informale parlamentarische Mitwirkung den exekutiven Entscheidungsvorsprung zu kompensieren vermag. Die Befunde zeigen, dass Parlamentarier zwar durchaus auch in vermeintlich rein exekutiv gesteuerte Abschnitte des Entscheidungsprozesses einbezogen werden. Dabei ist jedoch zwischen solchen Formen informaler Parlamentsbeteiligung zu unterscheiden, die strukturell, das heißt durch institutionelle Konfigurationen des Regierungssystems, erklärbar sind, und solchen, die auf akteursspezifische Merkmale, wie Autorität und Regierungs- beziehungsweise Führungsstile, zurückverweisen. Während jene als informelle Regeln Parlamentariern einen berechenbaren Zugang zu exekutiv geprägten Etappen von Entscheidungsprozessen verschaffen können, bleiben letztere kontingent. (ZParl, 33. Jg., H. 3, S. 436 ff.)

Korte, Karl-Rudolf: Die Regierungserklärung als Führungsinstrument der Bundeskanzler.
Kommunikation ist das Nervensystem der Politik und Sprache das zentrale Instrument des Politikers. Mit der politischen Rede kann er machtvoll agieren oder scheitern. Regierungserklärungen sind deshalb nicht nur wichtige Zeugnisse der Zeitgeschichte, sondern spannende Dokumente des Regierens. Wie entsteht eine Große Regierungserklärung zu Beginn einer Legislaturperiode? Wie sieht der Kampf um Worte aus? Wie nutzt der Kanzler die politische Rede als Führungsinstrument? Die Große Regierungserklärung zu Beginn einer Kanzlerschaft ist Visitenkarte und zentrales Führungsinstrument des Kanzlers gegenüber Partei, Fraktion, Koalitionspartner und der Öffentlichkeit. Standortbestimmung, Entscheidungspaket, Führungsinstrument, Zeitgeist-Quelle – diese Funktionen bündelt die Regierungserklärung. Die Kanzler können das Instrument der Regierungserklärung zur Erweiterung ihres Handlungsspielraums nutzen, wenn sie sich auf die Eigentümlichkeiten des Regierens in Deutschland einlassen: Kanzler-, Koalitions-, Parteiendemokratie. Die hochritualisierte Rede in Form der Regierungserklärung ist in jedem Wort sensibel kalkuliert. Die Kanzler haben persönlich viel Zeit aufgewendet, um an Formulierungen mitzuarbeiten. Im Idealfall kann aus der durch die Rede zum Ausdruck kommenden Darstellungspolitik eine Entscheidungspolitik werden: Worte sind dann Taten. (ZParl, 33. Jg., H. 3, S. 452 ff.)

van den Berg, Guido und Silke Vogt: Die Großen Regierungserklärungen der Bundeskanzler im quantitativen Vergleich.
Die Großen Regierungserklärungen können auch quantitativ miteinander verglichen werden: Zunächst wird der formale Entstehungsprozess der Erklärungen aufgezeigt, um die Phasen im Produktionsprozess einer Regierungserklärung zu vergleichen. Im Anschluss wird ein Längenvergleich aller Erklärungen vorgenommen. Reden differieren im Umfang erheblich; hierfür werden Erklärungsansätze und Hintergründe aufgezeigt. Danach folgt eine Themenanalyse aller Regierungserklärungen. Untersucht wird, wie sich zum Beispiel der Themenanteil „Wirtschaft und Finanzen“ in den Reden aller Kanzler quantitativ entwickelt hat. Als Vergleichsmaßstab dient eine modellhafte Regierungserklärung mit einer durchschnittlichen Themenverteilung von Adenauerbis Schröder. (ZParl, 33. Jg., H. 3, S. 463 ff.)

Walter, Franz und Kay Müller: Die Chefs des Kanzleramtes: Stille Elite in der Schaltzentrale des parlamentarischen Systems.
Die Leiter des Bundeskanzleramtes sind verborgene Organisatoren der Macht. Sie besetzen im Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland eine Schlüsselstellung, die ihnen ein immenses Gestaltungspotenzial beschert, die aber auch erhebliche Vorkenntnisse und ungewöhnliche Befähigungen in Regierungs- und Verwaltungstechnik, Krisenmanagement und politischer Moderation des Alltags der Exekutive erfordern. Die Analyse zeigt, dass in der Geschichte des bundesdeutschen Parlamentarismus die eher leisen und wenig politischen, administrativ starken Kanzleramtschefs erfolgreich waren. Ein guter Kanzleramtschef verfügt über beträchtliches Insiderwissen und exzellente Verbindungen, die den Respekt fundieren, den man vor ihm haben sollte, damit er das schwierige Regierungsgeschäft in einer Arena voll von Interessendivergenzen, Rivalitäten, Eifersüchteleien und Eitelkeiten erfolgreich managen kann. Dabei helfen Netzwerke, die sich über die verschiedenen Zentren der fragmentierten Macht spannen. Mittels dieser personellen Flechtwerke kann der Kanzleramtschef die politischen Stimmungen ausloten. So kann er zum Frühwarnsystem des Kanzlers werden, die parzellierten Teile des Regierungslagers wirksam koordinieren und dem Regierungschef den Spielraum verschaffen, den er im komplexen Regierungssystem der Bundesrepublik für eine effiziente Politikgestaltung benötigt. (ZParl, 33. Jg., H. 3, S. 474 ff.)

Reutter, Werner: Verbände, Staat und Demokratie. Zur Kritik der Korporatismustheorie.
Die Bedeutung von Verbänden und Verbandssystemen für demokratische Herrschaft ist umstritten. Insbesondere die Korporatismustheorien haben dabei unterstellt, dass zwischen der Struktur und den Funktionsweisen von Verbands- und politisch-administrativen Systemen enge Zusammenhänge bestehen und insbesondere der Staat eine konstitutive Rolle einnimmt. In komparativer Perspektive ist dieser Zusammenhang allerdings weit weniger eindeutig als vielfach unterstellt. Es ist wohl kaum übertrieben, auch den Korporatismustheorien „etatozentrische Fehlorientierungen“ (Bodo Zeuner) vorzuwerfen. Denn überraschenderweise ergeben sich in Bereichen Erklärungsdefizite, für die das korporatistische Erklärungsinstrumentarium als besonders aussagekräftig galt: nämlich im Verhältnis zwischen Verbandssystem und Staat. (ZParl, 33. Jg., H. 3, S. 501 ff.)

Sebaldt, Martin: Pluralismus zwischen Tradition und Moderne: Transformation und Entwicklung des Verbändesystems der USA seit 1955.
Das Spektrum organisierter Interessen hat deutlich an Umfang gewonnen. Bestand es 1955 lediglich aus knapp 9.000 Vereinigungen, so sind vierzig Jahre später rund 24.000 zu veranschlagen. Dieser Anstieg auf mehr als das Zweieinhalbfache geht jedoch einher mit einer substanziellen verbandlichen Mortalitätsrate: Über 7.000 Organisationen sind in den untersuchten Jahrzehnten erloschen oder in anderen Verbänden aufgegangen. Daraus resultiert eine sehr große Fluktuation in der Interessengruppenlandschaft. Die Expansion der Verbändelandschaft kommt in überproportionalem Maße den Non-Profit-Interessen zugute: Sozial-, Kultur-, Freizeit- und Umweltverbände, aber auch politisch motivierte „Public Interest Groups“ erlebten in den letzten Jahrzehnten einen Gründungsboom. Traditionell schlecht formierbaren Klientelen (Verbraucher, Behinderte, ethnische Minoritäten etc.) gelingt es immer besser, sich verbandlich zu organisieren. Der traditionelle Organisationsschwerpunkt in den Staaten des Nordostens bleibt zwar erhalten, zumal die Sogwirkung der Bundeshauptstadt Washington, D.C. ungebrochen ist. Jedoch ist in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Abschwächung dieser Dominanz zugunsten der übrigen Landesteile feststellbar. (ZParl, 33. Jg., H. 3, S. 512 ff.)

Siefken, Sven T.: Vorwahlen in Deutschland? Folgen der Kandidatenauswahl nach U.S.-Vorbild.
Seit Gründung der Bundesrepublik wird angeregt, die Prozesse der Kandidatenaufstellung stärker zu demokratisieren. Ein Vorbild sind die Vorwahlen („Primaries“) in den USA. Der vorliegende Aufsatz untersucht die Konsequenzen eines solchen Verfahrens für den Deutschen Bundestag anhand einer breit angelegten akteursorientierten Analyse. Ausdrücklich geht es nicht allein um die innerparteilichen Machtverschiebungen, sondern um das Zusammenspiel aller für die Wahlkämpfe relevanten Akteure. Eine entsprechende Öffnung des Nominierungsprozesses hätte den Bedeutungsverlust der mittleren Funktionseliten zur Folge. Zugleich könnten die Parteizentralen ihren Einfluss auf die Kandidatenauswahl steigern. Auch würden andere Akteure – Interessengruppen, Wahlkampfberater, Massenmedien – an Bedeutung gewinnen und der Quereinstieg von politischen Außenseitern erleichtert. Dass sich Abgeordnete stärker als „politische Unternehmer“ in eigener Sache verstehen müssten, würde zudem die Geschlossenheit der Parlamentsfraktionen gefährden. Im Ausblick wird vor der ausgeprägten Eigendynamik einmal eingeführter Vorwahlen gewarnt: Da sie in der Struktur den journalistischen Nachrichtenwerten sehr gut entsprechen, können sie unter anderem starke Medienaufmerksamkeit generieren. (ZParl, 33. Jg., H. 3, S. 531 ff.)

Wiefelspütz, Dieter: Das Untersuchungsausschussgesetz des Bundes.
Seit dem 26. Juni 2001 ist das einstimmig vom Deutschen Bundestag verabschiedete Untersuchungsausschussgesetz (PUAG) in Kraft. Art. 44 GG, das Fundament des parlamentarischen Untersuchungsrechts, ist endlich durch ein Verfahrensgesetz ergänzt worden. Der Ertrag des Gesetzes ist nicht unerheblich. Es präzisiert die Rechte der qualifizierten Minderheit bei der Einsetzung des Untersuchungsausschusses. Die Reihenfolge der Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen kann von der qualifizierten Minderheit wirksam beeinflusst werden. Das Gesetz verzichtet auf den Rechtsstatus des Betroffenen, greift aber auch nicht die Forderung nach einer uneingeschränkten Aussagepflicht der Auskunftspersonen auf. Es bleibt vielmehr bei den Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechten der Strafprozessordnung. Die Zwangrechte erhalten eine eindeutige gesetzliche Grundlage. Ein Gegendarstellungsrecht wird eingeräumt. Das Rechtswegechaos wird durch die alleinige Zuständigkeit von Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof beseitigt. (ZParl, 33. Jg., H. 3, S. 551 ff.)

Fischer, Jörg-Uwe: Majestätsbeleidigung im Reichstag: „Eine solche Verletzung der monarchischen Gefühle der Majorität des Reichstages …“.
Als Ausdruck ihrer Verehrung und Huldigung gegenüber dem Monarchen und als sichtbares Zeichen ihrer monarchischen Gesinnung brachten die Reichstagsabgeordneten bei besonderen Anlässen ein dreifaches Hoch auf den Kaiser aus. Ausgerufen wurde es zunächst vom Reichstagspräsidenten, die Abgeordneten stimmten dann ein. Dazu erhoben sie sich von ihren Plätzen. Eine Ausnahme bildeten die Sozialdemokraten, die als Ausdruck ihres Protestes das Plenum entweder kurz vor der Huldigung verließen, es erst danach betraten oder aber einfach auf ihren Plätzen sitzen blieben. Dieses Sitzenbleiben rief bei der Mehrheit der im Reichstag vertretenen Parteien Empörung hervor. Man sah darin eine Missachtung der „gebotenen Ehrfurcht vor Seiner Majestät“ und eine Verletzung der „Würde des Reichstags“. Zwei Fälle von „Majestätsbeleidigung“ führten zu scharfen Auseinandersetzungen über die „opportune“ Haltung der Abgeordneten gegenüber der Krone. Um ein solches Verhalten ahnden zu können, votierte die Mehrzahl der Abgeordneten für eine Verschärfung der Disziplinargewalt des Reichstagspräsidenten zu Lasten sogar der Redefreiheit. (ZParl, 33. Jg., H. 3, S. 573 ff.)

Helms, Ludger: Parlamentarismus, Präsidentialismus und Elitenstruktur – ein empirischer Drei-Länder-Vergleich.
Auf der Grundlage unterschiedlicher Hypothesen über die Elitenrekrutierung und -struktur in der parlamentarischen und präsidentiellen Demokratie und über die potenziellen systemischen Auswirkungen eines bestimmten Elitenprofils untersucht der Beitrag die Exekutivelite (Regierungschefs und Kabinettsmitglieder) in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Deutschland. Dem verfassungsrechtlichen Systemunterschied Parlamentarismus versus Präsidentialismus kommt eine gewisse Erklärungswirkung hinsichtlich des gouvernementalen Elitenprofils und deren systemischen Auswirkungen zu. Daneben entfalten jedoch vor allem die sekundären Merkmale des jeweiligen Systemtyps, wie insbesondere die unterschiedliche Rolle der politischen Parteien, sowie eine Reihe anderer Variablen, zu denen vor allem politische Konventionen und die territoriale Organisation des Gemeinwesens zählen, eine starke Wirkung auf das politische Profil der Exekutivelite und deren Funktion im politischen System. (ZParl, 33. Jg., H. 3, S. 589 ff.)

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