Abstracts 3/2011 deutsch

 

Hornig, Eike-Christian: Direkte Demokratie und Parteienwettbewerb – Überlegungen zu einem obligatorischen Referendum als Blockadelöser auf Bundesebene.
Angesichts von Politikverflechtungsfalle und Verhandlungsdemokratie im deutschen Parteienstaat eröffnet die Implementierung von direkter Demokratie Möglichkeiten parteitaktische Blockaden zu Gunsten sachorientierter Politik institutionell zu umgehen. Der internationale Vergleich von Verfassungsreformen in verflochtenen Systemen zeigt, dass besonders abgekoppelte Entscheidungs- und Verhandlungsarenen zum Erfolg von Reformen beitragen, da sie sachorientiertes Verhalten von Parteien fördern. In diesem Sinne können auch direktdemokratische Verfahren alternative Handlungsräume in der repräsentativen Demokratie eröffnen, wie der Vergleich von Partei-Motiven bei der Auslösung von direktdemokratischen Abstimmungen auf nationaler Ebene in Westeuropa belegt. Getrennt nach Verfahren zeigt sich, dass besonders obligatorische Referenden aufgrund ihrer speziellen Konstruktionsweise weniger für eine parteitaktische, als für eine sachorientierte Nutzung geeignet sind. Ein dementsprechend entworfenes Szenario eines möglichen obligatorischen Referendums im politischen System der Bundesrepublik würde die Hürden und Verfahren bei Verfassungsänderungen flexibilisieren und Politikblockaden auflösen. [ZParl, 42. Jg., H. 3, S. 475 – 492]

 

Harald Schoen, Alexander Glantz und Rebecca Teusch: Raucher oder Nichtraucher – ist das die Frage? Wahlbeteiligung und Abstimmungsverhalten beim Volksentscheid über das Rauchverbot in Bayern.
Die erfolgreiche Volksabstimmung für einen strikteren Nichtraucherschutz in Bayern wurde in der Öffentlichkeit häufig als ein Konflikt zwischen Rauchern und Nichtrauchern interpretiert. In diesem Aufsatz untersuchen wir mit Hilfe von Daten aus einer Rolling-Cross-Section-Befragung, welche Rolle das Rauchverhalten für die Mobilisierung und das Abstimmungsverhalten beim bayerischen Volksentscheid spielte. Die Ergebnisse zeigen, dass das Rauchverhalten keinen Einfluss auf das Interesse und die Kenntnisse über den Volksentscheid hatte, aber Nichtraucher eine deutlich höhere Beteiligungsbereitschaft zeigten als Raucher. Darüber hinaus wurde die Abstimmungsentscheidung maßgeblich durch das Rauchverhalten beeinflusst: Eine große Mehrheit der Nichtraucher stimmte für die Gesetzesverschärfung, eine beinahe ebenso große Mehrheit der Raucher dagegen. Das polarisierte Stimmverhalten und insbesondere die Schwierigkeiten, einen erheblichen Anteil der Nichtraucher zu einem Votum gegen einen strikteren Nichtraucherschutz zu bewegen, sprechen dafür, dass Versuche, die Verschärfung des Nichtraucherschutzes zurückzunehmen, kaum Aussicht auf Erfolg haben dürften. Daher scheint der Volksentscheid über den Nichtraucherschutz den gesellschaftlichen Konflikt in dieser Frage befriedet zu haben. [ZParl, 42. Jg., H. 3, S. 492 – 502]

 

Töller, Annette Elisabeth, Sylvia Pannowitsch, Céline Kuscheck und Christian Mennrich: Direkte Demokratie und Schulpolitik. Lehren aus einer politikfeldanalytischen Betrachtung des Scheiterns der Hamburger Schulreform.
Seit der PISA-Studie von 2000 steht das deutsche Schulsystem unter Dauerkritik. Da in der Schulpolitik die Parteiendifferenz sehr ausgeprägt ist, variieren auch die Schulreformen, die die Länder in Reaktion auf PISA in Angriff nehmen: die einen setzen einen Schwerpunkt auf die Verbesserung der Qualität, die anderen wollen die Bildungsgerechtigkeit steigern. Die Hamburger Schulreform, die die schwarz-grüne Landesregierung 2008 plante, sollte durch die Einführung der sechs Jahre dauernden Primarschule die Bildungsgerechtigkeit wesentlich verbessern. Die zuvor in der Bürgerschaft einstimmig beschlossene Reform scheiterte im Sommer 2010 an einem Volksentscheid. Der Beitrag untersucht zum einen, warum die Hamburger Schulreform scheiterte. Zum anderen geht er der Frage nach, ob dieses Scheitern der Hamburger Reform ein Zufall war, oder ob man strukturelle Auswirkungen direktdemokratischer Verfahren auf solche Schulreformen erwarten kann, die Bildungschancen umverteilen. Dies würde bisherigen Sichtweisen widersprechen, wonach Volksbegehren und Volksentscheide Instrumente sind, mit denen sich gerade benachteiligte Minderheiten (sogenannte „Outgroups“) besser Gehör verschaffen können als über repräsentativdemokratische Verfahren. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass der Hamburger Fall zwar einige Besonderheiten aufweist, dass aber bei Chancen umverteilenden Schulreformen eine deutlich erhöhte Gefahr besteht, dass diese von gut organisierten „Ingroups“ mit Hilfe direktdemokratischer Verfahren zu Fall gebracht werden. [ZParl, 42. Jg., H. 3, S. 503 – 523]

 

Jungherr, Andreas und Pascal Jürgens: E-Petitionen in Deutschland: Zwischen niedrigschwelligem Partizipationsangebot und quasi-plebiszitärer Nutzung.
Seit der Einführung der E-Petitionsplattform des Deutschen Bundestags im Jahr 2005 haben einzelne E-Petitionen immer wieder hohe Unterstützerzahlen gefunden und damit Medieninteresse und öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Dieser Aufsatz nutzt die maschinenlesbare Datenstruktur der E-Petitionsplattform, um Nutzungsmuster der Plattform quantitativ zu untersuchen. Hierbei zeigen wir, dass auch wenn sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf E-Petitionen mit hohen Unterstützerzahlen konzentriert, die überwiegende Mehrheit aller eingereichten E-Petitionen nur wenige Mitzeichner anziehen. Die Daten der E-Petitionsplattform erlauben uns vier Typen von Nutzern der Plattform anhand ihrers Nutzungsverhaltens zu identifizieren. Diese Typen nennen wir (1) Neue Lobbyisten, (2) Hit-and-Run Aktivisten, (3) Aktivismus-Konsumenten und (4) Stakeholder. Zusätzlich wird gezeigt, dass E-Petitionen mit wenigen Mitzeichnern systematisch mehr Unterstützer sammeln können, wenn sie gleichzeitig mit erfolgreichen E-Petitionen aktiv sind. Dieses Phänomen wird Mitzeichner-Overspill gezeigt. [ZParl, 42. Jg., H. 3, S. 523 – 537]

 

Seyfried, Markus: Noch immer „Stiefkind der Sozialwissenschaften“? Ein Plädoyer für mehr politikwissenschaftliche Forschung über Rechnungshöfe.
Rechungshöfe als Untersuchungsgegenstand werden in den Sozialwissenschaften noch immer weitgehend ignoriert. Dieses Forschungsfeld ist stark von formaljuristischen Auseinandersetzungen geprägt, was sich in einem geringen kumulativen Erkenntnisgewinn, in nicht vorhandenen oder mangelhaften empirischen Untersuchungen und begrenzter Erklärungskraft äußert. Eine große Vielzahl möglicher Datenquellen und Erhebungsmethoden bleibt bis heute größtenteils ungenutzt. Dazu gehören beispielsweise Jahresberichte, Ergebnisberichte, Beschlussempfehlungen der Haushaltsausschüsse, Parlamentsprotokolle, Medienberichte beziehungsweise Befragungen und Interviews. Das zur Verfügung stehende Material sollte systematisch analysiert werden, um die Rolle der Rechnungshöfe empirisch zu bewerten – etwa in Beziehung zum Parlament, zum Haushaltsausschuss oder zu geprüften Ministerien. Dabei sind gerade die Politikwissenschaften prädestiniert dafür sich diesem Forschungsgegenstand empirisch zu nähern. [ZParl, 42. Jg., H. 3, S. 537 – 549]

 

Hausen, Marcus: Der strafrechtliche Schutz bei parteiinternen Wahlen.
Die Frage, ob und gegebenenfalls welches Fehlverhalten bei Wahlen innerhalb einer politischen Partei zu strafrechtlichen Konsequenzen führen kann, ist bislang nicht Gegenstand einer eingehenden juristischen Betrachtung gewesen. Dennoch sind parteiinterne Wahlen kein strafrechtsrechtsfreier Raum. Allerdings ist nicht jede Wahl strafrechtlich gleich zu werten, der Schutz der §§ 107 ff. StGB gilt lediglich für die Aufstellung von Bewerbern zu öffentlichen Wahlen. Der Gesetzgeber hat diese Versammlungen bereits durch die Versicherung an Eides statt gemäß § 21 Abs. 6 BWahlG iVm § 165 StGB unter strafrechtlichen Schutz gestellt. Dies ist angesichts der Bedeutung der Aufstellungsversammlungen für Wahlen nicht nur konsequent, sondern auch sinnvoll. Die Urkundendelikte nach §§ 267 ff. StGB sind auch auf alle parteiinternen Wahlen und Abstimmungen anwendbar, so auch auf Vorstands- und Delegiertenwahlen. Die Tatbestandsverwirklichung hängt jedoch vom Einzelfall ab. Da es sich bei Vorstandswahlen und Abstimmungen um rein parteiinterne Vorgänge handelt, erscheint dieser strafrechtliche Schutz ausreichend. [ZParl, 42. Jg., H. 3, S. 550 – 567]

 

Baethge, Christopher: Rolle im Bund und Erfolg im Land – eine parteienbezogene Analyse der Landtagswahlen von 1949 bis 2010.
Die Ergebnisse von Landtagswahlen stehen im Zusammenhang mit der politischen Machtverteilung auf Bundesebene: Regierungsparteien im Bund scheinen gegenüber Oppositionsparteien bei Landtagswahlen im Nachteil zu sein. Bisher ist allerdings unklar, welches Ausmaß dieser Nachteil annimmt, ob er alle Parteien in gleicher Weise betrifft und welche Konsequenzen er für die Regierungswechsel auf Landesebene hat. Unter diesen Gesichtspunkten wurden daher in der vorliegenden Analyse die Landtagswahlen zwischen 1949 und 2010 untersucht. Es war für alle Parteien der Bundesregierung nach der Wende ganz (SPD, Grüne) oder nahezu (CDU/CSU, FDP) unmöglich, neue Landesregierungen zu etablieren. Vor 1990 haben dies Christdemokraten und FDP noch vermocht, die Sozialdemokraten nicht. Auf der Ebene der Wahlergebnisse selbst – unabhängig von den machtpolitischen Konsequenzen – lässt sich für alle Parteien ein Zusammenhang zwischen Rolle im Bund und Abschneiden bei Landtagswahlen zeigen. Allerdings ist der Effekt relativ schwach, der Vorhersagewert dieser Rolle in Bezug auf Gewinne und Verluste bei Landtagswahlen ist gering, denn es besteht eine enorme Varianz der Wahlresultate. Als ähnlich wichtig wie die Rolle auf Bundesebene stellt sich die Landesfunktion einer Partei heraus. Es fanden sich keine Hinweise auf in der Literatur formulierte Hypothesen über eine zeitliche Abhängigkeit des Zusammenhanges zur letzten Bundestagswahl. [ZParl, 42. Jg., H. 3, S. 568 – 586]

 

Flick, Martina: Der Einfluss der Landesverfassungsgerichte auf das Parlamentsrecht der deutschen Bundesländer.
Dass Verfassungsgerichte einen gewichtigen Beitrag zur Fortentwicklung von Grundrechten leisten, ist hinlänglich bekannt. Doch wie ist ihr Einfluss auf das Parlamentsrecht zu beurteilen? Ist die Ausweitung von parlamentarischen Minderheitsrechten, die während der letzten beiden Jahrzehnte in fast allen Bundesländern zu beobachten war, auch auf ihre Rechtsprechung zurückzuführen? Diese Frage wird anhand der Entscheidungen der Verfassungsgerichte in den deutschen Bundesländern untersucht. Im Rahmen von Organstreitverfahren entscheiden sie über den Umfang der Rechte und Pflichten von obersten Landesorganen, was ihnen die Möglichkeit zur Fortentwicklung des Parlamentsrechts gibt. Die Untersuchung zeigt allerdings, dass der Einfluss der Landesverfassungsgerichte auf die Ausweitung parlamentarischer Minderheitsrechte trotz des erheblichen Umfangs ihrer Rechtsprechung in Organstreitverfahren gering ist. [ZParl, 42. Jg., H. 3, S. 587 – 603]

 

Krumm, Thomas: Die irische Parlamentswahl vom 25. Februar 2011: Ende des dominierten Parteiensystems?
Die Wahl zum Irischen Dáil vom 25. Februar 2011 stellt eine Zäsur in der Entwickung des irischen Parteiensystems dar. In dieser Wahl wurde die seit 13 Jahren regierende strukturelle Mehrheitspartei Fianna Fáil für Auswirkungen der globalen Banken- und Finanzkrise auf die irische Wirtschaft empfindlich abgestraft. Die Partei, deren Stimmenanteil bislang nie unter 39 Prozent gefallen war, erreichte bei der vorgezogenen Neuwahl nur noch 17,3 Prozent der Erstpräferenzen beziehungsweise zwölf Prozent der Sitze. Ausgangspunkt dieser Betrachtung sind die Auswirkungen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Stabilität der Regierungskoalition aus Fianna Fáil und Grünen bis zur Parlamentsauflösung Anfang 2011. Um die Dimension des mit der Wahl zum Ausdruck kommenden Wandels zu verdeutlichen, werden strukturelle Indikatoren wie Disproportionalität, effektive Zahl der Parteien und gemeinsame Stimmen- und Sitzanteile der bis 2007 größten Parteien Fianna Fáil und Fine Gael berechnet. Letztere Indikatoren erreichten 2011 historische Tiefststände, während Disproportionalität und effektive Zahl der Parlamentsparteien – unter anderem aufgrund der gestiegenen Unterstützung für unabhängige Kandidaten – Höchstwerte erreichten. Trotz gestiegener Fragmentierung des Parteisystems wurden die Koalitionsverhandlungen von Fine Gael and Labour Party in nur fünf Tagen erfolgreich abgeschlossen. [ZParl, 42. Jg., H. 3, 604 – 619]

 

Kenneder, Martin: Jenseits berufsständischer Romantik. Die Funktionen des Senats im irischen Parlamentarismus.
Als vorgeblich berufsständische Parlamentskammer wirkt der Senat der Republik Irland (Seanad Éireann) auf den ersten Blick anachronistisch. Im imperfekten irischen Bikameralismus hat der Senat nur einen sehr begrenzten Anteil an den allgemeinen Parlamentsfunktionen. Er ist aber auch keine idealtypische Zweite Kammer, welche die spezifischen Zweitkammerfunktionen (Repräsentation nach einem anderen Repräsentationsprinzip als in der Ersten Kammer, Gutachterfunktion in der Gesetzgebung, Kontrolle der Ersten Kammer, spezialisierte Interessenartikulation sowie administrative beziehungsweise jurisdiktionale Funktionen) vollständig erfüllt. Der Wert des Senates für das politische System liegt nicht in der durch den Wahlmodus unterbundenen Repräsentation berufsständischer Interessen, sondern vor allem darin, Erste Kammer und Regierung zu entlasten ohne sie zu behindern. Dies geschieht etwa durch die symbolische Repräsentation Nordirlands oder durch die Aufgabe als „Reservebank“ für die politische Elite. Diese Leistungen haben die Kammer bisher vor Reformen und Abschaffung bewahrt. [ZParl, 42. Jg., H. 3, S. 620 – 631]

 

Mickler, Tim: Der Europaausschuss des dänischen Folketing. Eine Analyse der Verhandlungsmandate.
Eine Ausweitung der Kompetenzen von Institutionen der Europäischen Union (EU) erschwert die Ausübung der Kontrollfunktion von nationalen Parlamenten gegenüber ihren Regierungen. Mit Anpassungsprozessen haben Parlamente der Mitgliedsstaaten versucht ihren Einfluss in Angelegenheiten der EU zu bewahren. Der Europaausschuss des dänischen Folketing wird durch die Möglichkeit, bindende Verhandlungsmandate auszustellen in diesem Zusammenhang oft als der stärkster Kontrolleur angesehen. Eine Überprüfung der Anzahl der angenommenen Verhandlungsmandate zwischen 2006 und Ende 2009 zeigt jedoch, dass die Regierung, trotz parlamentarischer Minderheit im Rücken, ihre Position in fast allen Fällen bestätigt bekommt. Aufgrund dieser Basis wird der Frage nachgegangen, wann und ob effektiver Einfluss von Seiten der Parteien ausgeübt wird. Während es in der abschließenden Sitzung kaum Diskussionen und Änderungen der Position der Regierung gibt, wird gezeigt werden, dass Abstimmungen im Vorfeld der Sitzungen und eine Zusammenarbeit von EU-freundlichen Parteien den Einfluss des Parlaments sicherstellen. [ZParl, 42. Jg., H. 3, S. 632 – 647]

 

Sturm, Roland: Verfassungsrechtliche Schuldenbremsen im Föderalismus.
Mit der Föderalismusreform II wurde eine „Schuldenbremse“ für Bund und Länder im Grundgesetz festgeschrieben. Aus der Sicht der Landesparlamente wurde ihr „Königsrecht“, nämlich die souveräne Entscheidung über ihr Budget, eingeschränkt, ohne dass es zu einer parlamentarischen Willensbildung in den Ländern gekommen war. Dieses Defizit haben einige Länder durch nachholende Änderungen der Landesverfassungen zu heilen versucht. Neben der Frage nach der Legitimation der Schuldenbremse stellt sich diejenige nach ihrer Wirksamkeit. Ganz abgesehen von dem noch ausstehenden Beweis des politischen Willens, die vorgegebenen Zeiträume einzuhalten, kann bezweifelt werden, ob die Wiederbelebung keynesianischer Konjunktursteuerung erfolgreich sein kann. [ZParl, 42. Jg., H. 3, S. 648 – 662]

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