Abstracts 1/2016 deutsch

Sieberer, Ulrich: Lehren aus Weimar? Die erste Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages von 1951 zwischen Kontinuität und Reform.

Im Dezember 1951 beschloss der Deutsche Bundestag seine erste Geschäftsordnung. Angesichts des Scheiterns der Weimarer Republik und des veränderten Institutionensystems des Grundgesetzes, einer Weggabelung (‚critical juncture‘) im Sinne historisch-institutionalistischer Theorien, stellt sich die Frage, inwieweit diese Geschäftsordnung parlamentarische Verfahren und Organisation grundlegend reformiert hat. Die detaillierte Fallstudie belegt starke institutionelle Kontinuität mit der Geschäftsordnung des Weimarer Reichstags. Allerdings enthielt sie zwei größere Neuerungen – die Fragestunde und die Möglichkeit zu öffentlichen Anhörungen der Ausschüsse – und war begleitet von Konflikten hinsichtlich der Regelungen zu Fraktionsbildung, namentlichen Abstimmungen und Finanzvorlagen. Die Kontinuität ist damit zu erklären, dass die handelnden Akteure den Weimarer Reichstag als historisch relativ unbelastet ansahen und bei der Ausarbeitung der Geschäftsordnung vorrangig kurzfristige, am aktuellen politischen Wettbewerb orientierte Ziele verfolgten. Daher wurde eine mit schwer vorhersehbaren Folgen verbundene grundlegende Neuordnung des Parlaments weder als notwendig noch als wünschenswert angesehen. Über den analysierten Fall hinaus deutet diese Erklärung darauf hin, dass rationales Eigeninteresse der Akteure und Pfadabhängigkeit komplementäre und nicht alternative Erklärungsfaktoren für Institutionenreformen sind. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 1, S. 3 – 25]

 

Bergmann, Henning, Stefanie Bailer, Tamaki Ohmura, Thomas Saalfeld und Ulrich Sieberer: Namentliche Abstimmungen im Bundestag 1949 bis 2013: Befunde aus einem neuen Datensatz.

Die Analyse von namentlichen Abstimmungen spielt eine wichtige Rolle für das Verständnis der parlamentarischen Praxis. Der Aufsatz stellt einen neuen Datensatz sämtlicher namentlicher Abstimmungen im Bundestag von 1949 bis 2013 vor, der das individuelle Abstimmungsverhalten von Bundestagsabgeordneten mit Informationen zu den Abstimmungsgegenständen und individuellen Abgeordnetencharakteristika verknüpft. Erste Analysen illustrieren die Möglichkeiten dieses Datensatzes. Dabei zeigt sich erstens deutliche Varianz in der Häufigkeit namentlicher Abstimmungen über die Zeit. Die beobachteten Muster sind konsistent mit theoretischen Modellen, die das Verlangen namentlicher Abstimmungen als Positionierungs- und Disziplinierungsinstrument der Fraktionen verstehen. Zweitens können Unterschiede in der Geschlossenheit zwischen Fraktionen und über die Zeit nachgewiesen werden, die teilweise mit etablierten Theorien erklärt werden können und zugleich den Bedarf an weiterer Forschung aufzeigen. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 1, S. 26 – 50]

 

Brocker, Lars: Plenaröffentlichkeit und nicht öffentliche Ausschussberatung: Das arbeitsteilige Konzept des Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG.

Die Öffentlichkeit parlamentarischer Beratungen ist grundlegendes Ordnungsprinzip der repräsentativen Demokratie und ermöglicht dem Volk die Kontrolle des Parlaments. Ein allgemeines Transparenzgebot für die gesamte parlamentarische Arbeit folgt daraus jedoch nicht. Der Grundsatz der Parlamentsöffentlichkeit ist auf das Plenum beschränkt und lässt sich nicht auf die Ausschüsse erstrecken, denn auch parlamentarische Arbeit braucht Rückzugsräume. Nichtöffentlichkeit kann effizienz- und damit funktionssichernd sein. Für die Arbeit der Ausschüsse des Deutschen Bundestags wird dies zu Recht reklamiert. Dieses arbeitsteilige Konzept ist in Art. 42 Abs. 1 Satz 2 GG angelegt. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 1, S. 50 – 57]

 

Radojevic, Marco: Die Einsetzung Parlamentarischer Untersuchungsausschüsse im Deutschen Bundestag: Welchen Einfluss hat die Auffälligkeit eines Themas?

Untersuchungsausschüsse sind starke Instrumente der parlamentarischen Kontrolle und können erhebliche öffentliche Beachtung finden. Es wird gezeigt, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für ein Thema bereits Bedingung für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ist. Die Fraktionen im Bundestag nutzen Untersuchungsausschüsse strategisch, um sich gegenüber Anliegen der Öffentlichkeit responsiv zu zeigen. Untersuchungsausschüsse decken also in der Regel keine Skandale auf, sondern werden eingesetzt, um auf Themen zu reagieren, die bereits in der Öffentlichkeit und den Medien diskutiert werden. Die Einsetzung eines Untersuchungsausschuss erfordert die Ausschöpfung der regulären Kontrollinstrumente und ausreichende Ressourcen der Fraktionen. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind führen die Fraktionsspitzen eine Kosten-Nutzen-Abwägung zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses durch. Experteninterviews mit gegenwärtigen und ehemaligen Mitgliedern von Untersuchungsausschüssen, stützen die Bedeutung der Auffälligkeit eines Themas bei der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 1, S. 58 – 68]

 

Karow, Sophie und Sebastian Bukow: Demokratie unter Zeitdruck? Befunde zur

Beschleunigung der deutschen Gesetzgebung.

Beschleunigung ist ein dominierendes Merkmal der Gegenwartsgesellschaft. Dadurch gerät das politische System unter Druck, gerade die Entscheidungsgeschwindigkeit demokratischer Systeme gilt vielen als zu langsam. Es wird untersucht, ob der Gesetzgeber auf diese Entwicklung, die letztlich den Machtanspruch der Politik herausfordert, durch eine Beschleunigung seiner Gesetzgebung reagiert. Am Beispiel der deutschen Bundesgesetzgebung (1990 bis 2013) wird empirisch nachgewiesen, dass der Bundestag tatsächlich eine klare Beschleunigung erreicht hat. In den Verfahrensschritten außerhalb des Parlaments sind hingegen keine Reaktionen auf die gesamtgesellschaftliche Beschleunigung erkennbar. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 1, S. 69 – 84]

 

Reiding, Hilde, Wim van Meurs und Zoë Hulsenboom: Die europäische Subsidiaritätsprüfung auf dem Prüfstand. Erwartungen und erste Erfahrungen mit dem Lissaboner Instrument aus dem deutschen und dem niederländischen Parlament.

Fünf Jahre nach Einführung der Subsidiaritätsprüfung mit dem Vertrag von Lissabon ist eine Evaluierung angezeigt, ob es gelungen ist auf diesem Wege die Position nationaler Parlamente im europäischen politischen Entscheidungsprozess zu stärken. Die Parlamente müssen abwägen, ob der beträchtliche administrativen Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zu den geringen Erträgen (Zugewinn an öffentlichem Vertrauen oder Einfluss auf nationale Regierung und Europäische Kommission) steht. Politiker und Akademiker staunen über die großen Unterschiede in der Anwendung dieses Instruments in der Europäischen Union. Sie lassen sich weder durch externe Faktoren wie das nationale Ausmaß an Euroskepsis noch durch interne wie das parlamentarische Verfahren erklären lassen. Trotz breiter Einigkeit in den meisten Fragen europäischer Politik, gehen Deutschland und die Niederlande dabei unterschiedliche Wege: Im Bundestag herrscht die Überzeugung, dass es zuallererst der Regierung obliegt, als Teil der nationalen Interessenwahrung Kontrolle auf das Subsidiaritätsprinzip auszuüben. Die parlamentarische Subsidiaritätsprüfung wird allenfalls als letztes Rettungsmittel verstanden. In der Tweede Kamer hingegen steht die Subsidiaritätsprüfung für das Selbstwertgefühl des Parlaments, ungeachtet des Vertrauens in die nationale Regierung und sogar in die Europäische Kommission. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 1, S. 85 – 101]

 

Jochem, Sven: Die Parlamentswahl 2015 in Finnland – Herausforderungen für die Verhandlungsdemokratie.

Die finnische Parlamentswahl vom 19. April 2015 brachte einen Regierungswechsel und eine Koalition aus dem rechten politischen Lager im nordischen Land der Großen Koalitionen mit sich. Erstmals gelangte somit die rechtspopulistische Finnen-Partei in die Regierungsverantwortung. Vor dem Hintergrund großer ökonomischer und politischer Herausforderungen setzt die neue Regierung auf einen Austeritätskurs, der unmittelbar zu Protesten und Konflikten mit den linken Parteien und dem Gewerkschaftslager geführt hat. Die Finnen-Partei mit ihren politischen Zielen und Strategien stellt in unmittelbarer Zukunft eine der größten Herausforderungen für die finnische Verhandlungsdemokratie dar. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 1, S. 102 – 117]

 

Gawehns, Florian: Irresponsible Government? Der australische Senat als institutionelle Singularität im Zeitalter parteipolitischer Fragmentierung.

Während sich Zweite Kammern in Westminster-Demokratien generell Reformdebatten und Abschaffungsbestrebungen ausgesetzt sehen, konnte der Senat seine außergewöhnlich starke Stellung im Regierungssystem Australiens verteidigen. Die Einzigartigkeit der australischen Variante eines föderalen Bikameralismus besteht aus der Kombination einer starken Zweiten Kammer mit Verhältniswahlrecht mit einer der britischen Verfassungstradition folgenden Ersten Kammer mit Mehrheitswahlrecht. Kleine Parteien und unabhängige Senatoren nutzen ihre parlamentarische Repräsentation im Senat, um ihren Einfluss als Mehrheitsbeschaffer geltend zu machen. Gleichzeitig machte es die zunehmende parteipolitische Fragmentierung im Senat erforderlich, zur Umsetzung politischer Vorhaben volatile ad hoc Koalitionen zu schmieden. Am Beispiel der Klimapolitik zeigt sich, wie Charakteristika verhandlungsdemokratischer Entscheidungsfindung in ein ursprünglich mehrheitsdemokratisches Arrangement integriert werden. Während sich Regierungen mit der Macht des Senats und der Verzögerung ihrer politischen Vorhaben arrangiert haben, hat der Senat im Gegenzug die Suprematie der Exekutive in Fragen der Haushalts- und Ausgabengesetzgebung weitgehend anerkannt. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 1, S. 117 – 138]

 

Thomala, Tobias: Totgeglaubte leben länger? Die kanadische Unterhauswahl vom 19. Oktober 2015.

Die Wahlen zum kanadischen Unterhaus 2015 überraschten durch einen Wahlsieg der 2011 marginalisierten, einst dominanten Liberalen Partei Kanadas. Der Erdrutschsieg der Liberalen, die mit einer Steigerung von 34 Sitzen (2011) auf 184 Sitzen (2015) die Regierung bilden können, scheint in vielerlei Hinsicht das Rad der Wahlgeschichte zurückzudrehen. Die Konservative Partei wurde aufgrund des verbreiteten Wechselwunsches in der Bevölkerung auf ihre Kernwählerschaft in Western Canada und dem ländliche Ontario zurückgestutzt. Die bisherige offizielle Opposition, die NDP, konnte an ihre Wahlerfolge in Québec 2011 nicht anschließen und ist nunmehr nur zweitgrößte Oppositionspartei. Der Bloc Québécois verlor erneut Stimmen, was den Bedeutungsverlusts des Quebecker Separatismus untermauert. Der Liberalen Partei gelang es, alte Unterstützer wie die Regionen Québec und Ontario und die Wählerstimmen der Immigranten zurückzuerlangen sowie mit ihrem jungen charismatischen Spitzenkandidaten Justin Trudeau zu punkten. Der Wahlsieg der Liberalen Partei wirft Fragen über deren zukünftige Dominanz auf. Zudem kündigte die Partei eine große Reform an: Die relative Mehrheitswahl soll zugunsten eines proportionalen Systems geändert werden, wovon kleinere Parteien wie die Grünen profitieren dürften. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 1, S. 139– 155]

 

Klatt, Jonathan: Die Abkehr vom etablierten Wahlsystem – Ein Vergleich der Reformbestrebungen in Italien, Japan, Neuseeland und Kanada.

In den meisten Demokratien bleiben Wahlsysteme seit ihrer Etablierung bis auf kleinere Anpassungen unverändert. Ländern, in denen ein grundlegender Wandel des Wahlsystems vollzogen wurde, kommt vor diesem Hintergrund besondere Bedeutung zu. Italien, Japan und Neuseeland kehrten von ihren Wahlsystemen ab und führten Mischwahlsysteme ein. Jüngste Bemühungen in Kanada, einen solchen Schritt ebenfalls zu vollziehen, waren hingegen nicht von Erfolg gekrönt. Die Untersuchung der für eine erfolgreiche Reform nötigen Faktoren zeigt, dass neben Legitimationsdefiziten eine enge Interaktion zwischen reformwilligen Parteieliten und der Öffentlichkeit erforderlich war. Da für Reformen nötige parlamentarische Mehrheiten, aufgrund der Interessen der Machthaber, nicht gegeben waren, bedurfte es einzelner Politiker, die den öffentlichen Unmut kanalisierten und die Reform auf die politische Agenda setzten. In Folge konnte durch Volksbegehren oder die Abwahl reformresistenter Parteien ein Wahlsystemwandel vollzogen werden. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 1, S. 156 – 175]

 

Mosler, Hannes B.: Das Verbot der Vereinten Progressiven Partei in der Republik Korea.

Im Jahr 2014 verbot das südkoreanische Verfassungsgericht die kleine linksgerichtete Vereinte Progressive Partei (VPP) und entzog ihren fünf Abgeordneten im nationalen Parlament das Mandat. Der Partei war in dem von der rechtskonservativen Regierung angestrengten Verbotsantrag zur Last gelegt worden, Nordkorea zu unterstützen und einen Umsturz der südkoreanischen Regierung zu planen, was sowohl die freiheitlich demokratische Grundordnung verletze als auch gegen das Nationale Sicherheitsgesetz verstoße. Einer der insgesamt neun Verfassungsrichter widersprach in seinem Sondervotum der Mehrheitsmeinung in fast allen zentralen Punkten. Auch in der ideologisch stark polarisierten Politik, Wissenschaft und Gesellschaft traf das Verbot auf deutliche Kritik. Die Untersuchung zu den Hintergründen der Entstehung des Verbotsantrages und der Auslegung des Parteienparagraphen durch das Verfassungsgericht zeigt, dass aus demokratietheoretischer wie juristischer Sicht das Urteil kritisiert werden kann. Dass koreanische Verfassungsgericht ist mit dem besonderen Verfassungsrecht des Parteiverbots außergewöhnlich unvorsichtig umgegangen. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 1, S. 176 – 194]

 

Dörner, Andreas und Ludgera Vogt: Politiker im Satireformat: Aspekte der Selbst- und Fremdinszenierung politischer Akteure in der „heute show“.

Die „heute show“ (ZDF) ist eine Satiresendung, die innerhalb von wenigen Jahren einen enormen Stellenwert in der politischen Medienöffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland errungen hat. Dieser resultiert nicht nur aus der großen Reichweite der Sendung beim jüngeren Publikum, sondern insbesondere auch aus der Herausbildung einer neuen Tonlage im politischen Diskurs. Der Beitrag analysiert, was die Eigenart der „heute show“ zwischen Comedy und Kabarett ausmacht. Einerseits bieten die Studio-Interviews politischen Akteuren durchaus eine Bühne, sich als sympathisch, selbstironisch und volksnah zu inszenieren. Andererseits liegt der Schwerpunkt der Sendungen häufig in einer respektlos-kritischen Thematisierung von vermeintlichen oder realen Schwächen des politischen Personals. Gags und Pointen sind hier stärker gewichtet als Sachthemen und politische Aufklärung. Erste empirische Befunde deuten darauf hin, dass diese Ausrichtung der Sendung die Einstellungen zu Politikern durchaus negativ beeinflussen kann. Der Effekt einer generellen Politikverdrossenheit, die das grundlegende Vertrauen zum politischen System tangiert, ist allerdings nicht erkennbar. Gerade für die jüngeren Zuschauer bietet das Format die Möglichkeit, Interesse für politische Themen und Vorgänge zu wecken. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 1, S. 195 – 211]

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