Abstracts 4/2016 deutsch

 

Tokatlı, Mahir: Kommt jetzt ein neues Regierungssystem? Die türkischen Parlamentswahlen vom 7. Juni und 1. November 2015.

Mit der Parlamentswahl im Juni 2015 hat die seit 2002 allein regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) zum ersten Mal die absolute Mehrheit verloren. Die sich anschließenden Koalitionsverhandlungen scheiterten und Neuwahlen wurden angekündigt. In dieser von Instabilität geprägten Phase betonte die AKP Themen der Sicherheit und Stabilität und nahm eine noch stärker nationalistische Haltung ein als zuvor. Dies verhalf ihr dazu, die Wahl mit 49,5 Prozent der Stimmen für sich zu entscheiden. Sie verfehlte allerdings eine verfassungsändernde Mehrheit, die nötig gewesen wäre, um ein exekutivzentriertes Präsidialsystem „à la turca“ zu installieren. Dazu trug auch bei, dass die Demokratische Partei der Völker (HDP) erstmalig die 10-Prozent-Hürde zum Einzug in das Parlament überwinden konnte. Sie mobilisierte Wähler im Osten und konnte die dortige Dominanz der AKP brechen. Die Republikanische Volkspartei (CHP) wurde erneut zweitstärkste Kraft (25,3 Prozent) und erzielte mehr als ein Drittel ihrer Sitze in den drei größten Städten. Hingegen gewann die Nationalistische Aktionspartei (MHP) bei der ersten Wahl viele Stimmen (16,3 Prozent), verlor jedoch bei den vorgezogenen Neuwahlen die Hälfte ihrer Sitze wieder. Das Regierungssystem wurde nicht geändert, dennoch kann Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan in der Konstellation einer Einparteienregierung seine Kompetenzen umfassender nutzen als in einer Koalitionsregierung. Die Ausrufung des Ausnahmezustands ermöglicht zusätzlich das präsidiale Regieren per Dekret. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 4, S. 735 – 752]

 

Krumm, Thomas: Im Ausland wählen: Die Türkischen Parlamentswahlen von 7. Juni und 1. November 2015 in Deutschland im Vergleich.

Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in der Türkei werden die Ergebnisse der beiden Parlamentswahlen vom Juni und November 2015 unter türkischen Staatsangehörigen in Deutschland analysiert. Dazu werden die Ergebnisse der vier parlamentarischen Parteien aus 13 türkischen Konsulaten in Deutschland ausgewertet und international vergleichend eingeordnet. Die Stimmenanteile der regierenden AKP liegen in Deutschland etwa zehn Prozent über den Ergebnissen in der Türkei. In den Niederlanden, Belgien und Österreich sind diese sogar etwa zwanzig Prozent darüber. Innerhalb Deutschlands lässt sich ein West-Ost Gefälle der AKP-Unterstützung beobachten. Dies wirft Fragen nach den Ursachen des hochgradig konservativen Wahlverhaltens türkischer Staatsbürger in Deutschland bei „Heimatwahlen“ auf. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 4, S. 753 – 770]

 

Arndt, Christoph: Die Wahlen zum dänischen Folketing vom 18. Juni 2015: knapper bürgerlicher Sieg bei erdrutschartigen Wählerwanderungen.

Die Folketingwahl 2015 hatte einen abermaligen Regierungswechsel zur Folge, da die Mitte-links-Minderheitsregierung der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt ihre Mehrheit verlor und das bürgerliche Lager eine Einstimmenmehrheit im Folketing erreichte. Trotz dieses knappen Vorsprungs war die Wahl zugleich ein politischer Erdrutsch, da die rechtsliberale Venstre ihre Position als stärkste Partei an die Sozialdemokraten verlor und mehr als sieben Prozentpunkte einbüßte. Die nationalkonservative Dänische Volkspartei ist nun zweitstärkste Kraft noch vor der Venstre und gewann fast neun Prozentpunkte hinzu. Die vormaligen Regierungspartner der Sozialdemokraten, Sozialliberale und Sozialistische Volkspartei, büßten mehr als die Hälfte ihrer Stimmen ein. Die Wahlen vom 18. Juni 2015 brachten somit die stärksten Wählerwanderungen und höchste Nettovolatilität seit der „Erdbebenwahl“ 1973 mit sich. Der neue Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen von der rechtsliberalen Venstre sieht sich nun mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, da er keine Koalition mit anderen bürgerlichen Parteien formen konnte. So bildet die drittstärkste Partei allein eine Minderheitsregierung. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 4, S. 771 – 782]

 

Pfeiffer, Christian: Die spanischen nationalen Wahlen am 26. Juni 2016: Ein zweiter Anlauf zur Regierungsbildung im neuen Vierparteiensystem.

Die nationalen Wahlen am 26. Juni 2016 waren der zweite Urnengang in Spanien innerhalb von sieben Monaten. Bereits am 20. Dezember 2015 waren die spanischen Bürger dazu aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Die Dezember-Wahlen stellten eine politische Zäsur dar, da sie das Ende des seit dem Übergang Spaniens zur Demokratie vorherrschenden Zwei-Parteien-Systems aus PP und PSOE bedeuteten und dieses durch ein Vierparteiensystem der Parteien PP, PSOE, Podemos und Ciudadanos ersetzten. In der Folge kam es zu einer politischen Blockade, die schließlich zu den Neuwahlen 2016 führten. Mit der konservativen PP ging daraus ein klarer Sieger hervor, jedoch gestaltete sich die Regierungsbildung auch dieses Mal schwierig. Dies lag auch an der starken Polarisierung, die sich im mangelnden Kompromiss- und Dialogcharakter aller Parteien sowie durch das territoriale Problem um die Separatismusbewegung in Katalonien äußert. Die Sozialdemokraten, die sich derzeit in der wohl schwersten Krise seit dem Bestehen der spanischen Demokratie befinden, haben es vermocht, die politische Blockade zu lösen: Der am 29. Oktober 2016 gewählte neue und alte Ministerpräsident Mariano Rajoy (PP) steht mit seiner Minderheitsregierung indes vor gewaltigen Herausforderungen politischer wie ökonomischer Natur. Sie sind lediglich durch ein neues dialogbasiertes Vorgehen zu meistern. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 4, S. 783 – 799]

 

Poli, Maria Daniela: Der Wandel der politischen Parteien in Italien.

Der italienische Parteienpluralismus findet seine Grundlage in der Verfassungsgeschichte. Auf der Basis der drei Entwicklungsphasen des Parteiensystems in Italien (1949 bis 1994, 1994 bis 2013, seit 2013) werden sowohl dessen gravierender Wandel wie das Verhältnis zwischen Wahlrecht und politischen Parteien untersucht. Die ursprüngliche Entscheidung für die Verhältniswahl wird seit den 1990er Jahren in Frage gestellt. Dennoch sind alle Versuche gescheitert, durch Änderungen des Wahlrechts einen Bipolarismus einzuführen. Zudem hat das Wahlgesetz Nr. 270/2005 die Probleme der Unregierbarkeit nicht gelöst, und den Grundsatz der politischen Repräsentation angegriffen, sodass das Verfassungsgericht es für verfassungswidrig erklärt hat. Selbst das kürzlich verabschiedete Gesetz Nr. 52/2015 („Italicum“) scheint die Gründe der Verfassungswidrigkeit nicht zu überwinden. Die Parteienlandschaft, die in der ersten Phase durch den Gegensatz zwischen der Christdemokratischen Partei und der Kommunistischen Partei und die Funktionsunmöglichkeit des Wechselmechanismus wegen der so genannten „conventio ad excludendum“ geprägt war, ist in der zweiten und dritten Phase hoch fragmentiert und populistisch geworden. Die aktuelle Situation ist ein Paradebeispiel für die Problematik des Wahlgesetzes sowie die Krise der Repräsentation und des Parteiensystems. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 4, S. 800 – 813]

 

Johann, David, Marcelo Jenny und Sylvia Kritzinger: Mehr Wettbewerb bei Österreichs Wahlen? Die neue Partei NEOS und ihre engsten Konkurrenten.

Der Erfolg der neuen Partei „NEOS – Das Neue Österreich und Liberales Forum“ hat Folgen für das Parteiensystem. Unter Rückgriff auf Daten der Österreichischen Nationalen Wahlstudie (AUTNES), die die Angebots- (Parteien und ihre Kandidaten) wie auch die Nachfrageseite (Wähler) des politischen Systems umfassen, wird gezeigt, dass NEOS durchaus Überschneidungen mit der ÖVP und den Grünen aufweist. Insgesamt aber kann sie als eine klassische Partei der politischen Mitte gekennzeichnet werden, die ein modernes, liberales Bürgertum anspricht und zwischen den Grünen und der ÖVP zu verorten ist. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 4, S. 814 – 830]

 

Jarosz, Adam: Teilnahme der deutschen Minderheit an den polnischen Kommunalwahlen 1990 bis 2014.

Die deutsche Minderheit in Polen lebt vornehmlich im Oppelner Schlesien und ist dort eine wichtige politische Kraft. Die Deutschen erreichen regelmäßig viele Sitze in Gemeinde- und Stadtvertretungen, sowie in Kreistagen vor allem in den ländlichen Gebieten der Woiwodschaft. Auch stellen sie eine bedeutsame Fraktion im regionalen Parlament. Trotz Kontroversen Anfang der 1990er Jahre, haben sie sich als solider und offener Partner für andere Gruppen in der Lokalpolitik erwiesen. Die Präsenz der deutschen Minderheit in kommunalen Selbstverwaltungsstrukturen ist Teil der demokratischen Entwicklung Polens. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 4, S. 831 – 850]

 

Pautsch, Arne und Robert Müller-Török: Das Wahlrecht der Auslandsdeutschen nach § 12 Abs. 2 BWG auf dem neuerlichen Prüfstand? Eine Analyse aus juristischer und verwaltungswissenschaftlicher Sicht.

Im Jahr 1985 wurde für Auslandsdeutsche das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag eingeführt. 2012 hat das Bundesverfassungsgericht unter anderem entscheiden, dass die geforderte bestimmte frühere Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet nicht verfassungsgemäß sei. Daher wurden in Folge Anpassungen vorgenommen. Doch auch in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung bedarf das Bundeswahlgesetz abermals einer kritischen Überprüfung, insbesondere im Hinblick darauf, ob Auslandsdeutsche effektiv ihr Wahlrecht ausüben können. Die Ausgestaltung des Wahlrechts der Auslandsdeutschen als reine Briefwahl weist zahlreiche Mängel auf. Mögliche Abhilfemaßnahmen könnten die Stärkung der Präsenzwahl in den Auslandsvertretungen und auch ein Rückgriff auf Verfahren des E-Voting sein. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 4, S. 851 – 866]

 

Eisel, Stephan: E-Petitionen beim Deutschen Bundestag. Sinnvolles Angebot mit begrenzter Reichweite.

Seit 2005 ermöglicht es der Deutsche Bundestag, Einzelpetitionen durch die Nutzung eines Internetformulars einzureichen. Nach einem Modellversuch wurde ab 2009 auf einem eigenen Onlineportal des Petitionsausschusses auch das Instrument einer Öffentlichen Petition für Eingaben von allgemeinem Interesse dauerhaft etabliert, die durch elektronische Mitzeichnung unterstützt werden kann. Seit 2011 liegen Daten vor, die eine Analyse dieses elektronischen Petitionswesens ermöglichen. Die Daten zeigen, dass die Zahl der Einzelpetitionen durch das Online-Angebot nicht zugenommen hat und dass Öffentliche Petitionen online nur schwache Resonanz fanden. Massenpetitionen erhalten nach wie vor „offline“ den größten Zuspruch. Die angebotenen Diskussionsforen im Internet sind das Aktionsfeld einer kleinen Minderheit und Nutzer des Online-Portals sind ganz überwiegend einmalige Besucher und nicht wiederkehrende Teilnehmer. Obwohl dieses Angebot für Bürger den Weg vereinfacht, sich mit Anliegen an das Parlament zu wenden, wird er nur von einer kleinen Minderheit genutzt. Darin unterscheidet es sich nicht von Netzangeboten ähnlicher Art. Das ist auch eine Folge einer insbesondere für politische Foren begrenzten Reichweite des Internets. Eine Vorrangigkeit oder gar Ausschließlichkeit der digitalen Welt würde deshalb dem Grundgesetz garantierten Grundrecht einer Chancengleichheit zur politischen Partizipation zuwiderlaufen. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 4, S. 867 – 877]

 

Sturm, Roland: Brexit – das Vereinigte Königreich im Ausnahmezustand?

Die Brexit-Entscheidung hat weitreichende Folgen für die britische Politik und die britische Gesellschaft. Offen sind die folgenden Fragen: Fordern Referenden die Parlamentshoheit heraus und wie ist dies verfassungsrechtlich zu bewerten? Welche Perspektive hat das britische Parteiensystem und stehen wir vor einem Jahrzehnt der Tory-Dominanz? Was hält Großbritannien zusammen und fordert die Schottlandfrage die politische Einheit des Landes heraus? Weiterhin sind wirtschaftliche Fragen zu klären: Ist der Brexit ökonomisch eine Gefahr und wie wird das Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur EU aussehen? Welche Optionen hat das Vereinigte Königreich überhaupt? [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 4, S. 878 – 892]

 

Jesse, Eckhard: Plädoyer für ein Einstimmensystem bei der Bundestagswahl, ergänzt um eine Ersatzstimme.

Das seit 1953 geltende Zweistimmensystem für die Bundestagswahl, das nach und nach in den meisten Bundesländern übernommen wurde, weist massive Schwächen auf. Weil die Wählerschaft ihr Votum kaum von dem politischen Profil des Wahlkreiskandidaten abhängig macht, vermochte die Erststimme niemals die Bedeutung als „Persönlichkeitsstimme“ zu gewinnen. In den meisten Fällen zieht die Zweitstimme die Erststimme nach sich. Da viele Wähler das Wahlsystem zudem auch nicht richtig verstehen, wird der Zweitstimme oft sogar eine sekundäre Bedeutung zugeschrieben. Die Rückkehr zum Einstimmensystem von 1949 würde bedeuten, dass die Stimme doppelt verrechnet wird: für den Kandidaten und für dessen Partei. Zusätzlich sollten die Wähler eine Ersatzstimme haben, die dann zum Zuge kommt, wenn sie die Hauptstimme für eine Partei abgegeben haben, die an der Fünfprozenthürde scheitert. Auf diese Weise wird jede Stimme des Wählers verwertet. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 4, S. 893 – 903]

 

Röper, Erich: Bundestagsbeschlüsse in Petitionssachen: Plädoyer für mehr Öffentlichkeit und effektivere Umsetzung.

Gegen Maßnahmen von Behörden und Ämtern richten sich die Eingaben Einzelner oder von Gruppen bei den zuständigen Stellen oder der Volksvertretung. Die Bitten und Beschwerden werden vom Parlament im Petitionsausschuss zumeist ohne öffentliche Beratung geprüft und der Regierung von diesem oder dem Plenum als Material oder zur Weiterbearbeitung überwiesen. Das Parlament erfährt nicht, wie mit den Anliegen verfahren wurde. Die Abgeordneten können daher weder die nötige politische Kontrolle ausüben noch durch öffentlichen Druck den Petenten helfen. Hier muss die Pflicht der Regierung normiert werden, innerhalb einer festzusetzenden Frist einen Bericht vorzulegen, der im Plenum öffentlich behandelt werden kann. [ZParl, 47. Jg. (2016), H. 4, S. 904 – 908]

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