Birsl, Ursula und Peter Lösche: Parteien in West- und Ostdeutschland: Der gar nicht so feine Unterschied.
Allein die Tatsache, daß die westdeutschen Parteien durch Fusionen und Neugründungen in Ostdeutschland ein Pendant gefunden haben und mit Ausnahme der PDS keine anderen nennenswerten Parteien und Gruppierungen aus der Zeit des Umbruchs in der DDR überleben konnten, ist noch kein Beleg dafür, daß das westdeutsche Parteiensystem auf die neuen Bundesländer wirklich übertragen wurde. Die innenparteilichen Strukturen und Arbeitsweisen, die Mitgliederentwicklung und -zusammensetzung, das Organisationsverständnis und Wählerverhalten, aber auch die Entstehungsgeschichten der ostdeutschen Parteien verweisen vielmehr auf ein zu Westdeutschland anders strukturiertes System und auf noch neu zu bestimmende Typen von Parteien. Die Ursachen dafür dürften sowohl in den historischen, kulturellen und politischen Voraussetzungen aus DDR-Zeiten als auch in den Transformationserfahrungen und Legitimationsbrüchen nach der deutschen Vereinigung zu suchen sein. Das Parteiensystem in den neuen Bundesländern könnte zwischen dem in Westdeutschland und Parteiensystemen in einigen osteuropäischen Ländern verortet werden. Dennoch kann aufgrund des Wandels der Parteien und des Parteiensystems auch in den alten Ländern davon ausgegangen werden, daß sich beide Systeme aufeinanderzuentwickeln, die Ursachen hierfür und auch der Verlauf des Wandlungsprozesses jedoch verschieden sind. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 1, S. 7 ff.]
Kreikenbom, Henry: Nachwirkungen der SED-Ära: Die PDS als Katalysator der Partei- und Wahlpräferenzen in den neuen Bundesländern.
Ermittelt werden die Einstellungen und Wahlverhaltensmuster der ehemaligen DDR-Bürger gegenüber CDU, SPD und PDS. Dabei zeigt sich: Nach wie vor wirkt in die ostdeutsche Bevölkerung von heute ein bereits zu DDR-Zeiten entstandener normativ-weltanschaulicher Konflikt hinein. Er bestimmt die Einstellungen zu den Parteien und durchdringt alle rationalen und emotionalen Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens. Die Tiefe dieses Konfliktes wird im Streit um die politische Einlassung auf die PDS offensichtlich. Von diesem Grundkonflikt profitieren vor allem die CDU und die PDS als Repräsentanten der politischen Pole. Für die SPD aber resultieren aus diesen Nachwirkungen vornehmlich Risiken, weil sich ihre Anhänger und Wähler im Osten mental im Grenzbereich zwischen jenen Konfliktlinien befinden, die vier unterschiedliche, sich wechselseitig bedingende Wahlverhaltensmuster zur Folge haben. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. l, S. 24 ff.]
Fischer, Wolfgang: Von Maastricht nach Amsterdam: Die Regierungskonferenz aus Sicht der deutschen Länder.
Die Regierungskonferenz zur Überprüfung des Maastrichter Vertrages über die Europäische Union (29. März 1996 bis 2. Oktober 1997) wurde mit der Paraphierung eines überarbeiteten Vertrages abgeschlossen. Dieser hat nicht nur die Organe der EU und die Regierungen der Mitgliedstaaten, sondern auch die deutschen Länder beschäftigt. Ermutigt durch die Erfolge, die sie bei den Verhandlungen zum Maastrichter Vertrag erringen konnten, und auf der Grundlage des neu in das Grundgesetz eingefügten Artikel 23 machten sie ihre Wünsche an die Vertragsrevision geltend: Stärkung der Bürgerrechte und mehr Bürgernähe, mehr Mitsprache für die Regionen und eine bessere Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips, institutionelle Reformen zur Stärkung der Handlungsfähigkeit und demokratischen Legitimation der Union, zusätzliche Kompetenzen für die Union in der Innen- und Rechtspolitik sowie mehr Gewicht in der Außen- und Sicherheitspolitik, Vorbereitung auf den Beitritt weiterer Mitglieder. Im ständigen Gespräch mit der Bundesregierung und durch Teilnahme an den Verhandlungen gelang es den Ländern erneut, wichtige Anliegen durchzusetzen. Insbesondere die Präzisierung des Subsidiaritätsprinzips in einem alle Organe der EU bindenden Protokoll und die Stärkung des Ausschusses der Regionen können die Länder als Erfolg ihrer Einflußnahme betrachten. Sie sind daher mit dem Ergebnis der Regierungskonferenz zufrieden und haben die Ratifizierung des Vertrages von Amsterdam in Aussicht gestellt. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 1, S. 46 ff.]
Krauß, Stefan: Fortentwicklung des Vertragswerks der EU: Grenzen des intergouvernementalen Ansatzes.
Das im Unionsvertrag geregelte Verfahren für die Reform der Europäischen Verträge weist den Vertretern der nationalen Regierungen zentrale Entscheidungsbefugnisse zu. Das Europäische Parlament (EP) hat in diesem deutlich intergouvernemental ausgestalteten Verfahren lediglich ein Recht auf Anhörung. Im Verlauf der Amsterdamer Regierungskonferenz zeigte sich, daß dadurch der Fortgang der Reformverhandlungen nachhaltig beeinträchtigt werden kann. Statt von wohlüberlegten verfassungsrechtlichen Entscheidungen wird der Konferenzfortgang nicht zuletzt auch von nationalen Wahlterminen und von Rücksichten auf tagespolitische Sorgen der nationalem Regierungen bestimmt. Durch ein Zustimmungserfordernis des EP bei Vertragsrevisionen könnte die Konsensbereitschaft des Rates erhöht werden; zudem würde die Gemeinschaftsperspektive deutlich stärker berücksichtigt. Zu überlegen ist außerdem, inwieweit die Einrichtung eines Europäischen Verfassungskomitees zu einer rationelleren Arbeit bei Vertragsrevisionen beitragen kann. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 1, S. 64 ff.]
Pöhle, Klaus: Das Demokratiedefizit der Europäischen Union und die nationalen Parlamente. Bietet COSAC einen Ausweg?
Seit dem Vertrag von Maastricht wenden sich die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten deutlich ihren jeweiligen Parlamenten zu, um dem Vorwurf des Demokratiedefizits entgegenzutreten, und bieten ihnen außer Verbesserung ihrer Information eine stärkere Beteiligung an. Der Vertrag von Amsterdam gibt ihnen COSAC als Instrument vor: die im November 1989 gegründete Konferenz der auf europäische Angelegenheiten spezialisierten Einrichtungen (= Ausschüsse/Delegationen) der nationalen Parlamente. COSAC erweist sich von seiner Zusammensetzung sowie Arbeitsweise und Geschäftsordnung her als eher schwerfällige und wenig legitime Vertretung parteipolitisch komplexer Kammern. Bei der anhaltenden Fülle von EU-Normsetzungen kann COSAC nur punktuelle Beiträge leisten. Außerdem blockieren innerhalb der COSAC Befürworter und Gegner die Stärkung ihrer Handlungsfähigkeit. Dem EP entsteht mit COSAC nach dem „Ausschuß der Regionen“ ein weiterer ambitionierter Mitbewerber im legislativen Bereich. Vorteile aus der neuen Konstruktion dürften dagegen die Regierungen ziehen, deren Vorherrschaft nach dem Grundsatz gefestigt wird: Je mehr Institutionen an der Normsetzung beteiligt sind, um so unangefochtener bleibt – getreu der römischen Maxime „divide et impera“, nicht aber der Römischen Verträge – die Letztentscheidung beim Rat der EU. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 1, S. 77 ff.]
Möckli, Silvano: Direktdemokratische Einrichtungen und Verfahren in den Mitgliedstaaten des Europarates.
Fast alle Mitgliedstaaten des Europarates kennen zwar direktdemokratische Einrichtungen; Ausgestaltung und Anwendung sind aber höchst unterschiedlich. Für die Datenerhebung wurde begrifflich unterschieden zwischen fakultativ-minoritärem und fakultativ-plebiszitärem Referendum. Die erstmals eingeführte Unterscheidung erlaubte eine Beurteilung der „Qualität“ der direkten Verfahren hinsichtlich der Frage, ob direktdemokratische Entscheidungen „von unten“ ausgelöst werden können oder ob sie schon vom institutionellen Ansatz her Instrumente der Politik „von oben“ sind. Nur wenige Staaten lassen eine Sachabstimmung gegen den Willen der Staatsorgane zu. In diesen Fällen bestehen zudem meistens hohe Hürden bezüglich der erforderlichen Unterschriftenzahlen, der zu erfüllenden Beteiligungs- und/oder Zustimmungsquoten. Es mangelt an niederschwelligen Verfahren, die eine tatsächliche Partizipation der Stimmbürgerschaft bei der Fragestellung und der Auslösung von Volksentscheiden ermöglichen. Lediglich in fünf Staaten ist es zulässig, daß ein Teil des Elektorats einen Gegenstand selbst definiert und der Wortlaut den Fragestellung bestimmt. Nur in der Schweiz und in Liechtenstein sind die Zahl der erforderlichen Unterschriften und die Stimmbeteiligungsquoten tief angesetzt. Die direkten Verfahren politischer Entscheidung sind in Europa eher ein Instrument der Politik „von oben“ als „von unten“. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. l, S. 90 ff.]
Thibaut, Bernhard: Institutionen direkter Demokratie in Lateinamerika.
Im Zuge der Demokratisierung der politischen Systeme in Lateinamerika seit den 80er Jahren sind in einer beträchtlichen Zahl von Ländern institutionelle Vorkehrungen für eine unmittelbare Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungsprozessen geschaffen worden. Insbesondere in neueren oder jüngst reformierten Verfassungen in der Region spielen direkte Beteiligungsformen eine größere Rolle als in früheren demokratischen Regierungssystemen. Im Zentrum des Beitrags steht eine systematisch-vergleichende deskriptive Analyse direktdemokratischer Mechanismen der Willensbildung in allen Ländern Lateinamerikas, die Mitte der 90er Jahre solche Beteiligungsformen auf nationaler Ebene vorsehen. In den meisten Fällen handelt es sich um eher „schwache“ Elemente direkter Demokratie, um obligatorische Referenden bei Verfassungsreformen oder in vorbestimmten Sachfragen und um von „oben“ einzuleitende Verfahren mit sachlich begrenztem Anwendungsbereich, die in den präsidentiellen Systemen Lateinamerikas die Funktion haben können, Streitfälle zwischen Exekutive und Legislative zu klären. Ein Blick auf die Referendumspraxis der lateinamerikanischen Länder seit Beginn der 80er Jahre zeigt, daß bislang nur in Uruguay und Ecuador das direktdemokratische Potential der Verfassung in einer den politischen Prozeß insgesamt prägenden Weise realisiert wurde. Die Ergebnisse sind stärker von politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als von institutionellen Merkmalen abhängig. Generalisierende Aussagen über Effekte direktdemokratischer Verfahren in bezug auf die Schwächung, Stärkung oder Entlastung des repräsentativdemokratischen Institutionensystems lassen diese Erfahrungen daher nicht zu. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 1, S. 107 ff.]
Kleinsteuber, Hans J. und Martin Hagen: Was bedeutet „elektronische Demokratie“? Zur Diskussion und Praxis in den USA und Deutschland.
Die bisherigen Entwürfe von Computerdemokratie (H. Krauch) und Kabeldemokratie (C. Vowe/G. Wersig) überzeugen noch nicht. Die Hoffnung, der demokratische Prozeß könne unter Zuhilfenahme neuer Informations- und Kommunikationstechniken gestärkt werden, wird gern mit dem Begriff „elektronische Demokratie“ verbunden. Bei den amerikanischen Ansätzen „elektronischer Demokratie“ handelt es sich weniger um die Einführung weitreichender „direktdemokratischer“ Verfahren als um die technische Abstützung des gesamten Prozesses überwiegend repräsentativer Willensbildung. Während die Diskussion in Deutschland eher mit grundsätzlichen Argumenten geführt wird, finden sich in den USA eine Fülle konkreter Erprobungen: Computernetzwerke für politische Diskussionen, bei Wahlen, zur Unterstützung politischer Aktivitäten. Inhaltlich geht es in den USA um die Unterstützung (1) der politischen Informations-, (2) der Diskussions- und (3) der Aktivitätsmöglichkeiten. Überschaubare Experimente sollen auch in Deutschland zum praktischen Einstieg in die „elektronische Demokratie“ ermutigen. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. l, S. 128 ff.]
Dreyer, Michael, Markus Lang und Oliver Lembcke: Das Internet und der Senat der Vereinigten Staaten.
1996 brachte für das Internet den Durchbruch in der Politik. Vor allem in den USA wurden seine Möglichkeiten zur verbesserten Kommunikation zwischen Bürgern und staatlichen Stellen eingesetzt, und im Wahljahr nutzten zahlreiche Politiker Homepages zu Wahlkampfzwecken. Exemplarisch ist für den Senat der Vereinigten Staaten eine stetig steigende Bereitschaft seiner Mitglieder zur Nutzung des Internets für politische Zwecke festzustellen. 1996 hatten bereits drei Viertel der US-Senatoren eigene Homepages eingerichtet. Dabei kristallisieren sich zwei unterschiedliche Typen heraus: im engeren Sinne „politische“ und eher „unpolitische“ Formen des elektronischen Informationsangebots. Bemerkenswert ist, daß die Senatoren der Demokraten und liberale Senatoren ihre Homepages weit häufiger inhaltlich-politisch ausgestalten als ihre republikanischen Kollegen beziehungsweise konservative Senatoren. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 1, S. 143 ff.]
Lhotta, Roland: Verfassungsreform und Verfassungstheorie: Ein Diskurs unter Abwesenden?
Die in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat institutionalisierte Verfassungsreformpolitik zur deutschen Einheit führte zur faktischen Konvergenz von Verfassungsänderung und Verfassungsgebung, reproduzierte jedoch aufgrund ihrer latent etatistischen Tendenz die Trennung von Staat und Gesellschaft. Somit führte sie zu einer „selbstreferentiellen“ Integration der an der Verfassungspolitik beteiligten Eliten. Die Verfassung wurde — unter geflissentlicher Vernachlässigung des Republikprinzips und Verkürzung des Demokratieprinzips — dem demos entzogen und zum Objekt der Berufspolitiker gemacht. Anstelle der republikanisch-aktivistischen Zumutung einer paktierten Verfassung trat die Superkonstitutionalität einer Verfassung, deren materieller Gehalt autoritativ festgesetzt und somit einer diskursiv-integrativen Aktualisierung entzogen ist. Insoweit die pouvoirs constitués der Berufspolitiker lediglich die Beziehungen untereinander regelten, geschah dies nach den hergebrachten Mechanismen der Politikverflechtung, die per se die Möglichkeiten von „Inklusionsreformen“ verringern. Das Ergebnis ist eine „halbierte Integration“, eine Schwächung des Integrationspotentials des Grundgesetzes. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 1, S. 159 ff.]
Fikentscher, Rüdiger: Die Mehrheit als politischer Gestaltungsfaktor.
Mehrheiten vermögen wesentlich weniger und Minderheiten wesentlich mehr als allgemein angenommen wird. Die Mehrheit kann nicht über die Wahrheit entscheiden noch darüber, was richtig oder falsch ist. Sie kann in unserer Grundrechtsdemokratie weder dem einzelnen noch einer Minderheit bestimmte Rechte entziehen. Andererseits entfalten Minderheiten im Parteiensystem erhebliche Gestaltungskraft: innerhalb von Mehrheitsparteien, als kleine Partner in Koalitionen und innerhalb von Fraktionen. Minderheiten können unter bestimmten Bedingungen ein ebenso bedeutender Gestaltungsfaktor wie Mehrheiten sein, wenn ihre Geschlossenheit einer uneinheitlichen Mehrheit gegenübersteht, was an zahlreichen Beispielen einer vergleichsweise stabilen Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt gezeigt werden konnte. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. l, S. 180 ff.]
Jung, Otmar: Keine Erneuerung der Demokratie „von unten“? Kritische Stellungnahme zu Hiltrud Naßmachers Beitrag in Heft 3/1997 der ZParl.
Naßmacher unterlaufen faktische Irrtümer, und sie benutzt irreführende Formulierungen, die richtig- beziehungsweise klarzustellen sind. Dies betrifft insbesondere ihre Ausführungen über die Verhältnisse in Bayern. Bei ihrer Behauptung, die empirisch feststellbaren Folgen direktdemokratischer Beteiligungsmöglichkeiten hätten bei der Verfassungsarbeit nur unzureichend berücksichtigt werden können, weil es insoweit keine Beteiligungsforschung (vergleichbar der Wahlforschung) gebe, erscheinen die Maßstäbe überprüfungsbedürftig. Die von Naßmacher erhobenen empirischen Daten sind unvollständig. Bei der kommunalen Direktdemokratie hat sie ausgerechnet das am besten geeignete Forschungsfeld — Bayern — übergangen. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. l, S. 190 ff.]