Töller, Annette Elisabeth: Mythen und Methoden. Zur Messung der Europäisierung der Gesetzgebung des Deutschen Bundestages jenseits des 80%-Mythos.
Demokratie erfordert Transparenz. Deshalb sollten Bürger und Politiker wissen, wie viele der in Deutschland geltenden Gesetze ihren Ursprung in „Berlin“ oder in „Brüssel“ haben. Weil sich die Europäisierungsforschung bislang weitgehend auf die qualitative Analyse der Auswirkungen europäischer Politik auf die nationale Ebene beschränkt hat und es kaum Messungen gibt, in welchem Ausmaß nationale Politikgestaltung durch europäische Politik beeinflusst wird, sind „Mythen“ so einflussreich, allen voran die 80-Prozent-Prophezeiung des früheren Kommissionspräsidenten Jacques Delors. Mit der hier entwickelten Messmethode lässt sich zeigen, dass in den vergangenen 22 Jahren der Gesamtanteil der europäisierten Gesetze kontinuierlich zugenommen hat. Bei großer Varianz zwischen den Ministerien liegt der Gesamtanteil der deutschen Bundesgesetze, die von einem „europäischen Impuls“ beeinflusst wurden, heute bei annährend 40 Prozent, weit entfernt von den behaupteten 80 Prozent. Will man differenzierter Europäisierung im Vergleich der Politikfelder, im Zeitverlauf und insbesondere im Ländervergleich messen, bedürfte die Methode der weiteren Verbesserung beziehungsweise Verfeinerung. [ZParl, 39. Jg., H. 1, S. 3 ff.]
Lovens, Sebastian: Der Bundestag zwischen Wahl und Entsendung zu seinem Präsidium: die Causa Bisky.
Im September 2006 änderte der 16. Deutsche Bundestag das Wahlverfahren zu seinem Präsidium und regelte erstmalig das weitere Vorgehen für den Fall, dass ein Einzelbewerber in den ersten beiden Wahlgängen nicht die erforderliche Mehrheit erreicht. Dieser Änderung war die mehrmalige Nichtwahl des ersten Kandidaten der Fraktion Die Linke für das Amt des Bundestagsvizepräsidenten, Lothar Bisky, vorausgegangen. Bis zur Änderung sah die Geschäftsordnung des Bundestages (GO BT) lediglich vor, dass einerseits alle Fraktionen im Präsidium vertreten sein sollten, die Kandidaten andererseits – ergebnisoffen – zu wählen seien. Auf der Ebene der GO BT könnte dieser Konflikt durch ein Entsendungsrecht der Fraktionen gelöst werden. Dem steht jedoch die verfassungsrechtliche Vorgabe der Wahl entgegen. Der Bundestag entschloss sich, dass im dritten Wahlgang die einfache Mehrheit ausreichen soll. Bleibt dieser Wahlgang erfolglos, sind Vereinbarungen im Ältestenrat erforderlich. Diese Regelung ist nicht die einzig Mögliche. So könnte die Fraktion eines zunächst erfolglosen Bewerbers verpflichtet werden, einen Alternativkandidaten für die Stichwahl vorzuschlagen; andernfalls verlöre sie ihren Anspruch auf Präsenz im Präsidium. Dieser Vorschlag trägt der Zielvorgabe der Präsenz aller Fraktionen im Bundestagspräsidium und dem Vorrang des Wahlvorgangs vor dessen Ergebnis Rechnung. [ZParl, 39. Jg., H. 1, S. 18 ff.]
Hermsdorf, Fred: Zur Ausschussbesetzung in Parlamenten: Berechnungsverfahren im Vergleich.
Um ein Wahlergebnis in Parlamentsmandate umzusetzen, wurden verschiedene Berechnungsverfahren entwickelt. Schon die Anzahl dieser Verfahren zeigt, dass sich die theoretischen Anforderungen nicht einfach in mathematischen Algorithmen abbilden lassen. Bei der Ermittlung der Zusammensetzung der Parlamentsausschüsse werden die gleichen Methoden angewandt. Die Anforderungen sind hier aber anders. Dabei sind die Methoden von St. Laguë / Schepers und d’Hondt nicht geeignet, Ausschussbesetzungen zu berechnen. Das Verfahren Hare / Niemeyer eignet sich, wenn man vor allem die Einhaltung der Proportionalität wünscht, das Verfahren der Mehrheitstreue empfiehlt sich, wenn für die Ausschüsse vor allem die Widerspiegelung von „Machtverhältnissen“ im Parlament, dass also die Regierungsmehrheit auch die Mehrheit in den Ausschüssen stellt, angestrebt wird. [ZParl, 39. Jg., H. 1, S. 30 ff.]
Feldkamp, Michael F.: „Hammelsprung“ und Parlamentssymbolik im Reichstagsgebäude der Kaiserzeit. Ergänzungen zum Beitrag von Kai Zähle in Heft 2/2007 der ZParl.
Seit 1874 gibt es in deutschen Parlamenten eine besondere Form der Zählung der Stimmen: Beim „Hammelsprung“ verlassen alle Abgeordneten den Plenarsaal und betreten diesen danach durch eigens bezeichnete Ja-, Nein- und Enthaltungs-Türen. Der Architekt des Berliner Reichstagsgebäudes Paul Wallot schmückte 1894 in Anlehnung an den seit 1879 belegten Sprachgebrauch „Hammelsprung“ die Eingangstür, an der die Ja-Stimmen gezählt werden, mit dem Bild des Polyphem aus der Odyssee des Homer, weswegen schon bald irrtümlich geglaubt wurde, der „Hammelsprung“ habe dieser Abbildung seinen Namen zu verdanken. Tatsächlich steht die Wortschöpfung „Hammelsprung“ im Kontext mit der Entstehung von Begriffen wie „Leithammel“, „Stimmvieh“ und ähnlichen, konnte aber auch dank der Intarsia über der Eingangstür ihre negative Konnotation sehr schnell abstreifen. [ZParl, 39. Jg., H. 1, S. 35 ff.]
Gast, Henrik: Bundeskanzler und Parteiführer – zwei Rollen im Konflikt? Parteiendemokratie, Parteivorsitz und politische Führung.
Parteien stellen für Regierungschefs in parlamentarischen Regierungssystemen zentrale Legitimitätsressourcen dar. Daher müssen Bundeskanzler stets abwägen, unter welchen Bedingungen sie den Parteivorsitz entweder übernehmen oder ob sie ihn einem anderen Akteur überlassen sollten, um politische Ziele und Integration in den jeweiligen Handlungssystemen zu erreichen. Der Bundeskanzler kann beide Rollen kumulieren, wenn er den unterschiedlichen Erwartungen in seinem Handeln dauerhaft entspricht. Wenn die Konflikte zwischen den beiden Rollen ‚Bundeskanzler‘ und ‚Parteivorsitzender‘ allerdings zu stark werden und zusätzlich durch Konflikte zwischen der Persönlichkeit des Rollenträgers und den externen Rollenerwartungen forciert werden, ist hingegen eine Trennung beider Ämter die adäquate Handlungsoption. Die Fallbeispiele von Ludwig Erhard, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder zeigen, dass bei diesen drei Kanzlern die Führung in Kooperation mit einem Parteivorsitzenden vorteilhaft, allerdings zum Teil auch mit erheblichen Problemen verbunden war. [ZParl, 39. Jg., H. 1, S. 42 ff.]
Winkelmann, Helmut: Die Immunität der Mitglieder der Bundesversammlung.
Die Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten wählt, setzt sich aus allen Abgeordneten des Bundestages und einer gleich großen Zahl an Mitgliedern zusammen, die von den Parlamenten der 16 Bundesländer gewählt werden. Das Grundgesetz gewährt allen Bundestagsmitgliedern Immunität. Ein Bundesgesetz von 1959 erstreckte diese Immunität auf alle Mitglieder der Bundesversammlung. Seitdem setzen eine Strafverfolgung oder jede andere Beschränkung der persönlichen Freiheit eine Genehmigung voraus. Als das Gesetz erstmals im Jahr 2004 angewendet wurde, zeigte es einige Lücken. Insbesondere war nicht bestimmt, welches Organ zuständig war, eine Genehmigung zu erteilen. Seinerzeit hat der Bundestag diese Kompetenz für sich in Anspruch genommen, da die Bundesversammlung noch nicht einberufen und daher nicht in der Lage war, die Fragen zu entscheiden. In der Folge ist das Gesetz überprüft worden. Die Zuständigkeit des Bundestages wurde festgelegt, einige weitere Fragen wurden geklärt. [ZParl, 39. Jg., H. 1, S. 61 ff.]
Mackenrodt, Christian: Wie wichtig ist die Person? Zur Bedeutung von Persönlichkeitsfaktoren von Wahlkreisbewerbern bei Bundestagswahlen.
Das deutsche Wahlsystem der personalisierten Verhältniswahl erlaubt es dem Wähler, bei Bundestagswahlen mit der Erststimme für einen Wahlkreiskandidaten zu stimmen, der nicht für die Partei antritt, die die Zweitstimme erhält. Die Zweistimmenkonstruktion eröffnet die Möglichkeit zur Abgabe einer Erststimme, die bewusst einem Direktkandidaten als Person und nicht als Vertreter einer Partei gilt. Bürger, die so wählen, entscheiden sich für Kandidaten aufgrund ihrer Kompetenz oder sozialen Repräsentativität und setzen Informationsheuristiken ein, um die Direktkandidaten zu beurteilen. In den Bundestagswahlen 1998, 2002 und 2005 hat ein Teil der Wähler die Erststimme tatsächlich entsprechend ihrer ursprünglichen Funktion als Persönlichkeitsstimme genutzt. Amtsinhaber und national prominente Wahlkreiskandidaten haben zudem überdurchschnittlich viele Erststimmen erhalten. [ZParl, 39. Jg., H. 1, S. 69 ff.]
Tausendpfund, Markus und Daniela Braun: Die schwierige Suche nach Ergebnissen der Wahlen zum Europäischen Parlament: Ein neuer Datensatz für die Wahlen 1979 bis 2004.
Seit 1979 werden die Abgeordneten des Europäischen Parlaments (EP) durch die Bürger der Europäischen Union (EU) gewählt. Das EP stellt damit die einzige direkt legitimierte politische Institution der EU dar. Wissenschaft und Öffentlichkeit haben ein berechtigtes Interesse an einem einfachen Zugang zu verlässlichen Ergebnissen der Wahlen zum EP. Diese Resultate können nur die amtlichen Wahlergebnisse sein. Derzeit gibt es keine Institution, die diese sammelt, aufbereitet und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Wer Informationen zu den Europawahlresultaten sucht, muss folglich die einzelnen nationalen Wahlinstitutionen kontaktieren oder auf Sekundärquellen zurückgreifen. Bei letzteren lassen sich aber immer wieder Unterschiede in den veröffentlichten Ergebnissen feststellen. Zudem werden in den seltensten Fällen konkrete Quellen genannt. Eine Alternative bietet die Mannheimer Dokumentation der amtlichen Europawahlergebnisse 1979 bis 2004, die nahezu ausschließlich auf den amtlichen Wahlergebnissen der jeweils national zuständigen Institutionen beruht und die verwendeten Quellen nennt. [ZParl, 39. Jg., H. 1, S. 84 ff.]
Krumpal, Ivar und Adrian Vatter: Ökonomisches Wählen: Zum Einfluss von Wahrnehmungen der allgemeinen Wirtschaftslage auf das Abschneiden der Bundesregierungsparteien bei Landtagswahlen.
Für viele demokratische Nationen stellen zahlreiche quantitative Studien auf dem Gebiet der empirischen Wahlforschung einen robusten Zusammenhang zwischen ökonomischen Faktoren und politischen Wahlergebnissen fest. Demnach erleiden die in der Regierungsverantwortung stehenden Parteien bei einer objektiven Verschlechterung zentraler makroökonomischer Indikatoren deutliche Stimmenverluste bei subnationalen Wahlen, wobei das theoretische Konzept des rationalen Wählers, der die Regierung für die wirtschaftliche Entwicklung seines Landes verantwortlich macht, als Grundlage genutzt wird. Bis heute werden entsprechende Untersuchungen zumeist anhand von Aggregatdaten durchgeführt. Der vorliegende Beitrag geht einen Schritt weiter und mikrofundiert die These des ökonomischen Wählens bei Landtagswahlen mit einer systematischen Analyse von Survey-Daten. Das Hauptergebnis lautet: Je pessimistischer ein Wähler die zukünftige ökonomische Entwicklung in der Bundesrepublik einschätzt, desto eher wird er bei einer Landtagswahl gegen die Bundesregierungsparteien stimmen. [ZParl, 39. Jg., H. 1, S. 93 ff.]
Oberreuter, Heinrich: Stoibers Sturz. Ein Beispiel für die Selbstgefährdung politischer Macht.
Der Rücktritt Edmund Stoibers von seinen politischen Ämtern im Januar 2007 war nicht einer kurzfristigen Krise geschuldet. Er wurzelte in einer langfristigen Erosion des Vertrauens in Partei, Fraktion und Öffentlichkeit, deren Beginn bis ins Jahr 2003, als die CSU einen großen Wahlerfolg bei der bayerischen Landtagswahl erringen konnte, zurückreicht. Ausgeprägter Durchsetzungswille ohne Rücksicht auf die Gefühlslagen der Basis entfremdete Stoiber selbst von treuen Unterstützern. An diesem Fall zeigen sich die Risiken, die sich aus dem unangefochtenen langen Verbleib in Spitzenämtern ergeben: Selbstüberschätzung, Überlastung, Konkurrenz zwischen verschiedenen Gruppen im Umfeld und Monopolisierung des Zugangs zur Führung. [ZParl, 39. Jg., H. 1, S. 112 ff.]
Lhotta, Roland: Der Bundespräsident als „Außerparlamentarische Opposition“? Überlegungen zur Gewaltenteilung und Typologisierung des parlamentarischen Regierungssystems.
Die umstrittene Entscheidung des Bundespräsidenten, zum Ende des Jahres 2006 die Ausfertigung zweier Gesetze zu verweigern sowie bei einem weiteren Gesetz schwere verfassungsrechtliche Bedenken anzumelden, wirft die grundsätzliche Frage nach einer möglichen sektoralen Präsidentialisierung des parlamentarischen Regierungssystems der Bundesrepublik Deutschland auf. Damit verbunden ist eine kritische Auseinandersetzung mit den bislang vorliegenden Versuchen der Politikwissenschaft und der Staatsrechtslehre, den Bundespräsidenten in die Typen- und Gewaltenteilungslehre einzubauen. Die grundgesetzlich gegebene Möglichkeit des Bundespräsidenten, als situativer und fallabhängiger Vetospieler zu agieren, erscheint als Ergebnis eines anti-majoritär geprägten Mischverfassungsdenkens, in dem gerade gegenüber starken Mehrheiten (wie etwa im Fall einer Großen Koalition) eine oszillierende Reservefunktion des Bundespräsidenten in Kauf genommen wird. Die somit mögliche Terminierung des Gesetzgebungsprozesses mittels einer Ausfertigungsverweigerung des Bundespräsidenten ist ein dem Grundgesetz immanenter Widerspruch zum parlamentarischen System. [ZParl, 39. Jg., H. 1, S. 119 ff.]
Silberhorn, Hubert: Nachhaltige Dominanz? Präsident Bush, die Republikaner und ihr Masterplan.
Präsident George W. Bush war mit dem Ziel angetreten, die USA zu einen, verfehlte dieses jedoch bei weitem. Der 43. US-Präsident hinterlässt nicht nur eine stark polarisierte Gesellschaft, sondern trug mit seiner eigenwilligen Politik auch dazu bei, dass sich die Republikanische Partei nun mit erheblichen politischen und ideologischen Altlasten seiner Administration auseinandersetzen muss. Präsident Bush brach unter dem Mantel seiner Regierungsphilosophie des „Compassionate Conservatism“ mit vormals sakrosankten Prinzipien der konservativen Bewegung, hinterlässt eine Rekordverschuldung, definierte das konservative staatliche Rollenverständnis neu und schlug ungewohnte Töne im Umgang mit Minderheiten an. Zugleich jedoch war der Präsident mit seiner im Grundsatz neokonservativen Politik in der Lage, bisher dominante Konfliktlinien aufzuweichen und die Republikaner für neue Themen und Wählerschichten zu öffnen. Der „mitfühlende Konservatismus“ entpuppte sich als effektives Mittel, unterschiedlichste, für den Wahlerfolg entscheidende Gruppen anzusprechen. Gepaart mit einer effektiven, hoch professionalisierten Wahlkampfführung, einer schlagkräftigen Allianz mit Lobbyisten sowie einer Sozial- und Steuerpolitik, die in kleinen Schritten auf eine gesellschaftliche Transformation abzielte, wurde der Grundstein für eine nachhaltige politische Dominanz der Konservativen gelegt. [ZParl, 39. Jg., H. 1, S. 134 ff.]