Niclauß, Karlheinz: Die Bundestagswahl als Kanzlerwahl? Personen und Parteien im Wahlkampf 2021.
Der Wahlkampf zur Bundestagswahl 2019 war außergewöhnlich, weil Angela Merkel mit Ablauf der Wahlperiode ihre politische Laufbahn beendete. Das übliche Duell zwischen dem amtierenden Bundeskanzler und dem Kandidaten der zweitstärksten Partei blieb deshalb aus. Stattdessen konkurrierten eine Kanzlerkandidatin und zwei Kandidaten aus verschiedenen Parteien um die Führungsposition. Der Artikel schildert anhand von Umfragen den volatilen Wahlkampf und kommt zu dem Ergebnis, dass die Bewertung der Spitzenkandidaten ausschlaggebend für das Abschneiden der Parteien war. Die alte Frage: „Wählen die Wähler Persönlichkeiten oder Parteien?“ wird damit aufs Neue gestellt und im Zusammenhang mit der Personalisierung der politischen Auseinandersetzung in anderen Demokratien neu bewertet. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 1, S. 3 – 16]
Klein, Markus, Frederik Springer und Christoph Kühling: „Last Man Standing“: Zur Bedeutung der Kanzlerkandidaten für das Ergebnis der Bundestagswahl 2021.
Die Bundestagswahl 2021 war mit Blick auf die Rolle der Kanzlerkandidatin und -kandidaten in mehrfacher Hinsicht besonders. Bündnis 90/Die Grünen gingen erstmalig mit einer eigenen Kanzlerkandidatin ins Rennen, sodass es zu einem Triell um das Kanzleramt kam. Zudem trat zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die bisherige Amtsinhaberin nicht erneut zur Wahl an. Auf der Basis von Umfragedaten können wir zeigen, dass im Zuge der Skandale von Annalena Baerbock und Armin Laschet während des Wahlkampfs sowohl ihre Beliebtheitswerte als auch die Stimmenanteile ihrer jeweiligen Parteien deutlich zurückgegangen sind. Erst durch diese Skandale seiner beiden Mitbewerber wurde Olaf Scholz – als „Last Man Standing“ – zum präferierten Kanzler der Deutschen. Unsere Analysen sprechen zudem dafür, dass die Union mit Markus Söder als Kanzlerkandidat deutlich besser abgeschnitten und vermutlich die Bundestagswahl gewonnen hätte. Mit Blick auf die erstmalige Aufstellung einer Kanzlerkandidatin durch Bündnis 90/Die Grünen finden wir, dass eine Kanzlerpräferenz zugunsten von Annalena Baerbock einen signifikanten und substanziellen Effekt auf die Wahl der Grünen hatte. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 1, S. 17 – 38]
Maier, Jürgen, Paul Lukowicz, Jennifer Bast, Marco Hirsch und Martin Lange: „Mexican Standoff“ – Trielle in Berlin: TV-Debatten in der heißen Wahlkampfphase 2021.
Der Artikel untersucht die Wahrnehmung und Wirkung der letzten drei TV-Debatten („Trielle“) zwischen den Kanzlerkandidaten Armin Laschet (CDU/CSU), Olaf Scholz (SPD) und Annelena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) im Bundestagswahlkampf 2021. Auf der Basis nicht-repräsentativer Befragungen von Zuschauern direkt vor und direkt nach den Kanzlerdebatten sowie einer Echtzeitmessung der Debattenleistung der Kanzlerkandidaten zeigt sich, dass die Debattenauftritte von Scholz und Baerbockdeutlich besser bewertet wurden als die Auftritte Laschets. Die Kandidaten haben sehr unterschiedliche Debattenstrategien verwendet. Während Laschet überraschend stark auf Angriff gesetzt hat, verfolgte Scholz eine klassische Amtsinhaberstrategie. Das wahrgenommene Abschneiden der Kanzlerkandidaten in den Debatten hatte einen direkten Einfluss auf ihre Sympathiebewertung. Der größte Effekt ging dabei von der ersten Debatte aus. Insgesamt konnte Scholz von den TV-Debatten am stärksten profitieren. Baerbock, vor allem aber Laschet gelang es nicht, den Rückstand auf die SPD zu verkürzen. Unserer Analysen unterstreichen die Wirkungsstärke von TV-Debatten und ihre herausragende Bedeutung in Wahlkämpfen. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 1, S. 39 – 52]
Jesse, Eckhard: Die Bundestagswahl 2021 im Spiegel der repräsentativen Wahlstatistik.
Die repräsentative Wahlstatistik in Deutschland, die seit der Bundestagswahl 1953 durchgeführt wird (mit Ausnahme der Bundestagswahlen 1994 und 1998), ist weltweit einzigartig. Sie ermittelt die Wahlbeteiligung nach zehn Altersgruppen und das Wahlverhalten nach dem Geschlecht und sechs Altersgruppen, das tatsächliche, nicht das bekundete. Ferner liefert sie Angaben zum Stimmensplitting, zu den Urnen- und den Briefwählern sowie zu den Wählern, die eine ungültige Stimme abgegeben haben. Die Union hat bei den Männern 11,9 Punkte verloren, bei den Frauen „nur“ 5,9. Das ist die größte geschlechtsspezifische Besonderheit. Bei der Stimmangabe der Altersgruppen fällt auf, dass Union und SPD „alte Parteien“ sind. Während Union und SPD bei jüngeren Wählern überproportional schlecht abgeschnitten haben, konnten die „jungen Parteien“, die Grünen und die FDP, gerade hier übermäßig viel gewinnen. Das Wahlverhalten der Wähler der Partei Die Linken ist im Osten und im Westen gegenläufig: Im Osten schneidet sie bei den alten Wählern am besten ab, im Westen am schlechtesten. Bei keiner Partei weichen die Präferenzen zwischen Männern (13,0 Prozent) und Frauen (7,8 Prozent) so stark voneinander ab wie bei der AfD. Auch wenn Alter und Geschlecht keine wahldeterminierenden Faktoren sind, ist die repräsentative Wahlstatistik für die Forschung unentbehrlich. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 1, S. 53 – 74]
Nyhuis, Dominic: Defizite bei der Briefwahl in Deutschland – und fünf Vorschläge zur Abhilfe.
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Beliebtheit des Wählens per Brief hat sich die politikwissenschaftliche Forschung jüngst vermehrt mit diesem wichtigen Aspekt demokratischer Teilhabe beschäftigt. Unter anderem wurde in diesen Beiträgen auch die praktische Ausgestaltung der Briefwahl hinterfragt. Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, die Literatur zur deutschen Briefwahlpraxis zu systematisieren, um auf dieser Basis Reformpotentiale zu identifizieren. Insgesamt werden fünf Reformfelder ausgemacht, (1) ein großzügiger Einsendeschluss für Wahlbriefe, (2) die Vereinfachung der Briefwahlunterlagen, (3), die Übersetzung der Briefwahlunterlagen, (4) die persönliche Mitteilung über zurückgewiesene Wahlbriefe, sowie (5) die Ausweisung von Formfehlern in der Wahlstatistik. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 1, S. 75 – 86]
Hellmann, Daniel und Danny Schindler: Kleinerer Bundestag durch vereinte Unionsparteien? Eine minimalinvasive und parteienproporzneutrale Option für die aktuelle Wahlrechtsdiskussion.
Das Bundestagswahlrecht ist seit Jahren permanent Gegenstand von Kritik. Diese entzündet sich vor allem an der Größe des Parlaments, das 2021 auf die Rekordzahl von 736 Abgeordneten anwuchs. Verantwortlich dafür sind Überhang- und Ausgleichsmandate, deren Zustandekommen sich in der Öffentlichkeit schwer vermitteln lässt. Die 2013 beschlossene Regel, dass Überhangmandate überwiegend parteiintern verrechnet werden, wird dadurch konterkariert, dass CDU und CSU getrennt antreten. Unser Reformvorschlag setzt hier an. Wir empfehlen eine Änderung des Bundeswahlgesetzes, wonach Landeslisten verschiedener, nicht konkurrierender Parteien als verbunden erklärt werden können. Ergänzt werden könnte diese Regelung durch eine Reform der Bundestagsgeschäftsordnung, die die Bildung von Fraktionen an eine Verbindung der Landeslisten knüpft. Wir zeigen, dass die wahl- und parlamentsrechtlichen Anreize zum Tragen kommen, da beide Unionsparteien von einer gemeinsamen Fraktion profitieren und so zu einer Verkleinerung des Bundestags beitragen können. Die vorgestellte Lösung kann ein Baustein für die angekündigte Wahlrechtsreform sein, weil sie parteienproporzneutral erfolgt und daher auch bei der Union selbst Unterstützung finden könnte. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 1, S. 87 – 100]
Muno, Wolfgang und Jan Müller: Die Landtagswahl 2021 in Mecklenburg-Vorpommern – rote Welle an der Ostsee.
Am 26. September 2021 fand die achte Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern, parallel mit der Bundestagswahl statt, bei der das Rennen um das Kanzleramt, nach dem Ende der Ära Merkel, so offen war, wie lange nicht mehr. Zusätzlich bestimmte seit 2020 die Corona-Pandemie die gesellschaftlichen und politischen Debatten und stellte die Parteien auch in Mecklenburg-Vorpommern vor neue Herausforderungen im Wahlkampf. Die Wahlen führten zu einem deutlichen Sieg der SPD, die seit 1994 im Land mit wechselnden Koalitionspartnern regiert und erneut den Status als Volkspartei in Mecklenburg-Vorpommern verteidigen konnte. Maßgeblich für das gute Wahlergebnis der SPD war die außerordentlich hohe Popularität der Spitzenkandidatin, der amtierenden Ministerpräsidentin Manuela Schwesig. Nach den Wahlen sah sich die SPD in einer komfortablen Mittellage und konnte einen Koalitionspartner aus mehreren Optionen wählen. CDU, Die Linke und AfD verloren deutlich Stimmen, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zogen wieder in den Landtag ein, der erstmals mit sechs Parteien eine nie zuvor dagewesene Vielfalt wiederspiegelte. Der große Wahlerfolg der SPD führte letztlich dazu, dass trotz eines Vielparteiensystems im Landtag eine Zweierkoalition aus SPD und Die Linke eine solide Mehrheit fand und die seit 2006 regierende rot-schwarze Koalition ablöste. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 1, S. 101 – 119]
Nyhuis, Dominic, Jan Velimsky, Sebastian Block und Martin Gross: Die Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen im September 2020: Starke Grüne und weiterer Absturz der SPD bei den Wahlen im Zeichen der Covid-19-Pandemie.
Der Beitrag analysiert die nordrhein-westfälischen Kommunalwahlen im September 2020. Dazu werden die Wahlergebnisse in den Kontext der historischen Kommunalwahlergebnisse in Nordrhein-Westfalen gestellt sowie Zusammenhänge mit Strukturmerkmalen der kreisfreien Städte untersucht. In einem zweiten Schritt werden die Ergebnisse der kommunalen Direktwahlen in den Kreisen und kreisfreien Städten betrachtet und schließlich der Blick auf die Koalitionen in den nordrhein-westfälischen Großstädten nach der Wahl geworfen. Die Befunde lassen sich wie folgt zusammenfassen. Während die SPD erneut schmerzliche Verluste hinnehmen muss, verzeichnen Bündnis 90/Die Grünen starke Zuwächse. Mit Blick auf die kommunalen Direktwahlen haben die meisten Stadtoberhäupter in den kreisfreien Städten nach wie vor ein SPD-Parteibuch, die Landräte sind dagegen fest in der Hand der CDU. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 1, S. 120 – 134]
Hilmer, Richard und Rita Müller-Hilmer: Bundestagswahl 2021 – Aufbruch mit begrenztem Risiko.
Die Bundestagswahl am 19. September 2021 fand unter außergewöhnlichen Bedingungen statt, außergewöhnlich waren auch Verlauf und Ausgang der Wahl. Das Wahljahr war wie nie zuvor geprägt von Krisen, die Wahlentscheidung durch die Erwartung eines überzeugenden Krisenmanagements. Erschwert wurde das Votum noch dadurch, dass die amtierende Kanzlerin nicht mehr antrat, und dass sich drei Kandidaten Hoffnungen auf das Kanzleramt machten – beides ein Novum bei einer Bundestagswahl. Entsprechend hoch war die Volatilität: anfangs lag die Union vorne, im Frühjahr kurzfristig die Grünen, und am Ende obsiegte völlig überraschend die SPD. Entscheidend war letztlich die Suche nach einer Person und einer Partei, denen man am ehesten zutraute, mit den großen Herausforderungen fertig zu werden. Hier besaß der in der Finanz- und in der Pandemiekrise erfahrene Olaf Scholz einen letztlich entscheidenden Vertrauensvorschuss, den er im Wahlkampf konsequent ausbaute und der noch verstärkt wurde durch gravierende Kommunikationspannen seiner Kontrahenten. Ihm und der SPD trauten die Bürger am ehesten zu, die anstehenden gesellschaftlichen Transformationen sozial verträglich zu gestalten – ein Motiv, das am Ende als wichtiger angesehen wurde als die Bewältigung von Klimakrise und Corona-Pandemie. Das Wahlergebnis fiel knapp wie nie aus, wobei Grünen und FDP bei der Regierungsbildung die Schlüsselfunktion zukam. Ausschlaggebend war am Ende die Entscheidung der FDP gegen ein Bündnis mit der angeschlagenen Union und für eine Ampel – auch dies ein Novum. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 1, S. 135 – 171]
Siefken, Sven T.: Der Weg zur ersten Ampel-Koalition im Bund – rationalisierte Regierungsbildung hinter verschlossenen Türen 2021.
Die Koalitions- und Regierungsbildung aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP nach der Bundestagswahl 2021 verlief in einem klar strukturierten Verfahren, das im Vergleich zu den Vorjahren durch fortschreitende Institutionalisierung gekennzeichnet war. Nach einer kurzen Phase von erstmals so genannten „Vorsondierungen“ folgten Sondierungsgespräche in mittelgroßer Runde. Diese führten zu den offiziellen Koalitionsverhandlungen, die in großer arbeitsteiliger Struktur mit einer Hauptverhandlungsgruppe und 22 politikfeldbezogenen Arbeitsgruppen durchgeführt wurden. Dabei waren in erheblichem Umfang Vertreter der Landesparteien einbezogen. Im Vergleich zu den Vorjahren wurden Details in der Verhandlungsorganisation angepasst, die vertikal flacher und horizontal stärker differenziert angelegt war, ohne dass es aber zu grundlegenden Veränderungen gekommen ist. Anders als 2017 waren die Verhandlungen selbst durch strikte Vertraulichkeit gekennzeichnet und liefen weitgehend abseits der Öffentlichkeit. Zu vorher definierten Schritten wurden nach den Sondierungen und Verhandlungen schriftliche Ergebnisse publik gemacht und den Parteien zu Entscheidung vorgelegt. Auch die verabredete Arbeitsweise der Koalition und die Ausschussstruktur des Bundestages knüpft an die Praxis in der Vergangenheit an. Insgesamt war in den Verhandlungen eine leichte Steigerung parlamentarischen Einflusses erkennbar. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 1, S. 172 – 199]
Zeh, Wolfgang: Parlamentsdebatten und Netzdebatten.
Debattenbeiträge im Parlament basieren auf der demokratischen Legitimation durch allgemeine Wahlen, während Diskussionen in sozialen Medien private Meinungsäußerungen der Teilnehmer darstellen. Für die Parlamente ist es wichtig, dass diese Formen öffentlicher Diskurse nicht miteinander vermischt werden. Es ist einem Parlament verfassungsrechtlich nicht erlaubt, den Kreis seiner Mitglieder um Teilnehmer ohne Mandat zu erweitern. Das geschieht jedoch, wenn Äußerungen in sozialen Netzen gleichwertig mit den Beiträgen der Abgeordneten in die laufende Debatte einbezogen werden. Der Präsident des Parlaments kann durch das parlamentarische Ordnungsrecht dafür sorgen, dass Abgeordnete nicht während der Sitzungen mit sozialen Netzen kommunizieren, um parlamentarische Verhandlungen dort zu kritisieren oder zu diskutieren oder spontane Netzäußerungen in die Parlamentsdebatte einzuführen. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 1, S. 200 – 211]