Abstracts 2/1998 deutsch

Schoen, Harald: Stimmensplitting bei Bundestagswahlen: eine Form taktischer Wahlentscheidung?
Seit 1953 bietet das bundesdeutsche Wahlrecht die Möglichkeit des Stimmensplitting. Trotz der ausgezeichneten Datenbasis in Gestalt der repräsentativen Wahlstatistik wurde diese Form der Stimmabgabe in der wissenschaftlichen Diskussion bisher weitgehend vernachlässigt. Soweit Untersuchungen vorliegen, stützen sie sich zumindest implizit auf die Prämisse, die Wähler entschlössen sich auf Grund taktischer Erwägungen, ihre Stimmen zu splitten. Diese Annahme bedarf einer empirischen Fundierung. Legt man rationale Meßinstrumente zugrunde, so erweisen sich die tatsächlichen Wahlentscheidungen der Jahre 1953-1990 weniger als Ausfluß taktischer Überlegungen denn als Zufallsprodukte. Dieses Ergebnis gibt Anlaß, am Sinn der Zweitstimmenregelung bei Bundestagswahlen zu zweifeln und für eine Änderung des Wahlsystems zu plädieren. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 2, S. 223 ff.]

Kranenpohl, Uwe: Zwischen politischer Nische und programmatischer Öffnung: kleine Parteien und ihre Bundestagsfraktionen 1949 bis 1994.
Ähnlich wie Union und SPD setzen die kleinen Fraktionen an der Willensbildung des Deutschen Bundestages in ihrer parlamentarischen Tätigkeit auf einen Mix unterschiedlicher Instrumente, wobei die Rollenverteilung zwischen Parlamentsmehrheit und Opposition den Einsatz stark beeinflußt. Thematisch besetzen Kleinfraktionen politische Nischen, die zumindest in der Wahrnehmung einiger Wählergruppen von der Konkurrenz nicht besetzt sind. Die Strategie kann aber mittelfristig nur dann erfolgreich sein, wenn diese gesellschaftliche Basis durch soziale Wandlungsprozesse nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Das Beispiel der WAV und des GB/BHE aus den Anfangsjahren der Bundesrepublik verdeutlichen dies. Außerdem ist es für den längerfristigen Erfolg vorn Kleinfraktionen unerläßlich, daß sie sich programmatisch fortentwickeln und neuen Politikfeldern zuwenden. Nicht nur die FDP hat ihre Anpassungsfähigkeiten mehrfach unter Beweis gestellt; auch die Grünen haben sich neben der Ökologie- und Friedenspolitik auch für innen- und wirtschaftspolitische Themen geöffnet. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 2, S. 244 ff.]

Schmidt, Roland: Verfahrensökonomie und Gewissensfreiheit bei der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes.
Die Einforderung der Fraktionsdisziplin hat unbestrittenermaßen dort eine Grenze, wo das Gewissen, also eine tief verwurzelte Grundüberzeugung, einen Abgeordneten dagegen bestimmt. Hieraus zieht die Verfahrensordnung des Bundestages jedoch keine ausdrücklichen Konsequenzen. Die auf Effektivität der Parlamentsarbeit ausgerichtete Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages verlangt von den federführenden Ausschüssen vollständige und abstimmungsfähige Beschlußempfehlungen zu den ihnen überwiesenen Vorlagen. Die Abstimmung zum Transplantationsgesetz verdeutlichte, dass diese — für den parlamentarischen Regelfall bewährte Verfahrenspraxis — nicht funktioniert, wenn es um schwierige Gewissensentscheidungen geht, bei denen die Positionen „quer durch das Plenum“ verlaufen. Gleichwohl ermöglicht die Flexibilität der Verfahrensordnung des Deutschen Bundestages durch das Ausweichen auf ein alternatives Abstimmungsverfahren sowie die Einführung eines neuartigen Typs parlamentarischer Vorlagen zur Komplettierung unvollständiger Beschlußempfehlungen in derartigen Situationen ein angemessenes Abstimmungsverfahren. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 2, S. 263 ff.]

Brunner, Wolfram und Dieter Walz: Die Hamburger Bürgerschaftswahl vom 21. September 1997: SPD verliert, Voscherau tritt ab, Rot-Grün koaliert.
Die Hamburger Bürgerschaftswahl vom 21. September 1997 war die einzige des Jahres 1997. Die Hamburger hatten sowohl über die Fortsetzung der vierzigjährigen SPD-Vorherrschaft in der Hansestadt als auch — indirekt — über die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat zu entscheiden. Vielfach wurde die Wahl daher als Testwahl für Bonn sowie als Beginn des Dauerwahlkampfes bis hin zur Bundestagswahl 1998 apostrophiert. Thematisch wurde sie sowohl von den Sorgen um die Arbeitslosigkeit als auch von den Sorgen um die innere Sicherheit beherrscht. Der Ausgang der Wahl ist maßgeblich von zwei Aspekten charakterisiert: Zum einen mußten die Sozialdemokraten — trotz der für sie günstigen Stimmung im Bund sowie der guten Popularitätswerte Henning Voscheraus — schmerzliche Stimmenverluste hinnehmen; ganz offensichtlich waren viele Hamburger mit der Senatspolitik gerade im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung unzufrieden. Zum anderen ist es zu merklichen Stimmzuwächsen der CDU gekommen; die Verluste seit Anfang der neunziger Jahre konnten jedoch bei weitem noch nicht ausgeglichen werden. Der GAL gelang es, ihr Wählerpotential zu stabilisieren; ihr hervorragendes Resultat von 1993 war insofern kein Ausnahmeergebnis. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 2, S. 275 ff.]

Müller-York, Christina C. und Christoph Irrgang: Zur Verfassungsmäßigkeit von gestaffelten Diäten und Funktionszulagen für Funktionsträger der Fraktionen. Anmerkungen anläßlich des Urteils des Hamburgischen Verfassungsgerichtes vom 11. Juli 1997.
Das Bundesverfassungsgericht hatte 1975 (in Diätenentscheidung) festgestellt, daß Mehrfachentschädigungen und Zulagen für Funktionsträger der Fraktionen nicht zulässig sind. Dennoch enthalten die entsprechenden Abgeordneten-Fraktionsgesetze in fast allen deutschen Ländern und im Bund weiterhin Regelungen, nach denen Spitzenfunktionäre eine höhere Entschädigung erhalten als andere Abgeordnete. Das Hamburgische Verfassungsgericht hat nun in einem Urteil vom Juli 1997 entschieden, daß eine im Vergleich zu anderen Abgeordneten der Hamburgischen Bürgerschaft mehrfach höhere Entschädigung von Fraktionsvorsitzenden, deren Stellvertretern sowie Gruppensprechern verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Zur Begründung verwies es zum einen auf eine Besonderheit der Hamburgischen Verfassung, wonach den Abgeordneten nicht nur ein angemessenes Entgelt, sondern auch die Vereinbarkeit des Mandats mit einer Berufstätigkeit zu gewährleisten ist. Zum anderen sah es einen zwingenden Grund in den gesteigerten Aufgaben und Funktionen der Fraktionen in den heutigen Parlamenten und der damit verbundenen persönlichen Inanspruchnahme der Fraktionsspitzen. Zweifel an der rechtlichen Zulässigkeit beziehungsweise Zweckmäßigkeit solcher Funktionszulagen bleiben bestehen. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 2, S. 295 ff.]

Röper, Erich: Ausschußsitzverteilung nur unter den stimmberechtigten Mitgliedern.
Ausschüsse müssen ein Spiegelbild des Plenums sein. Bei den Rangmeßzahlverfahren erfolgt die Sitzverteilung in der Reihenfolge der Mitgliederzahl der Fraktionen und Gruppen. Fraktionslose Abgeordnete und Mitglieder parlamentarischer Gruppen, die mangels Größe keinen Sitz erhalten, werden — regelmäßig ohne Stimmrecht — hinzugezogen. Bei der mathematisch-proportionalen Verteilung ist die Basiszahl für die Zuordnung stimmberechtigter Ausschußmitglieder die Gesamtzahl der Fraktions- und Gruppenmitglieder, die wegen der Größe ihres Entscheidungsgremiums mit allen Rechten mitwirken können, nicht die Gesamtabgeordnetenzahl. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 2, S. 313 ff.]

Wild, Michael: Der Elefant im Porzellanladen: parlamentarische Redebeiträge vor den Zivilgerichten. Anmerkungen zum Beschluß des OLG Hamburg vom 8. April 1997.
Der untersuchte Beschluß des OLG Hamburg verbietet einem Bundestagsabgeordneten die Wiederholung bestimmter parlamentarischer Äußerungen, weil diese eine Verleumdung des Bürgers darstellen. Es handelt sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit, so daß richtigerweise der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten und nicht zu den Zivilgerichten eröffnet ist. Als Prozeßvoraussetzung wird die Indemnität von Abgeordneten geprüft. Schließlich wird die Bedeutung der parlamentarischen Redefreiheit der Abgeordneten untersucht. Deren Gewicht muß auch und gerade im gerichtlichen Verfahren in besonderer Weise beachtet werden, entsprechend etwa den von der Rechtsprechung für die Handhabung des prozeßlichen Instrumentariums bei Berührung der Meinungs- und Pressefreiheit entwickelten Regeln. Der Beschluß des OLB Hamburg erweist sich — gemessen an den aufgezeigten Kriterien — in dreierlei Hinsicht als rechtsfehlerhaft. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 2, S. 317 ff.]

Patzelt, Werner J.: Wider das Gerede vom ,Fraktionszwang’! Funktionslogische Zusammenhänge, populäre Vermutungen und die Sicht der Abgeordneten.
Innerfraktioneller Zusammenhalt und in der Regel entlang den Fraktionslinien verlaufende Abstimmungen sind nicht als Abweichung von einer erstrebenswerten Norm, sondern ganz im Gegenteil als notwendige Leistung anzusehen. Dafür sollte der positive Begriff „Fraktionsdisziplin“, keinesfalls der irreführende pejorative Begriff „Fraktionszwang“ benutzt werden. Das demoskopisch erhobene Bild der Bürger vom Fraktionszusammenschluß erweist sich als unvollständig und falsch, doch als so fest eingewoben in eine „populäre Abgeordnetentheorie“, daß erst diese um ihre Geltungskraft gebracht werden muß, bevor sich ein sowohl empirisch zutreffendes als auch normativ angemessenes Verständnis von Fraktionsdisziplin verbreiten kann. Die Abgeordneten wissen die Ausübung ihres freien Mandates zwar sehr wohl mit Fraktionsdisziplin zu verbinden, sie tun sich aber schwer, die Ursachen solcher Disziplin offensiv und ohne Bedienung populärer Vorurteile zu vertreten. Im politischen System der Bundesrepublik Deutschland gibt es keinen „Fraktionszwang“, sehr wohl jedoch und aus guten Gründen „Fraktionsdisziplin“. Aufklärung bleibt nach wie vor geboten gegen das ahnungslose Gerede vom „Fraktionszwang“. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 2, S. 323 ff.]

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