Abstracts 2/2015 deutsch

Steinsdorff, Silvia von: Institutionelle Stabilität, politische Fragilität: Die mittel- und osteuropäischen Parlamente 25 Jahre nach dem demokratischen Neubeginn.

25 Jahre nach dem Ende des Realsozialismus haben sich alle Parlamente in Mittelosteuropa (MOE) zu konsolidierten, funktionsfähigen Verfassungsinstitutionen entwickelt und nehmen eine zentrale Rolle in den jeweiligen politischen Systemen ein. Trotz aller nationalen Unterschiede, die sich im Lauf des vergangenen Jahrzehnts ausgeprägt haben, offenbart die vergleichende Untersuchung nach wie vor signifikante regionale Gemeinsamkeiten. Diese lassen sich nicht länger als reine Transitionsphänomene erklären, vielmehr hat sich eine spezifische Form institutioneller Autonomie herausgebildet, die die parlamentarische Funktionsfähigkeit auch unter nach wie vor fragilen politischen Rahmenbedingungen mit teils schwach institutionalisierten, volatilen und fragmentierten Parteiensystemen sichert. Im Vergleich zu den westeuropäischen Fraktionenparlamenten weisen die Parlamente der MOE-Staaten eine stärkere Stellung der ständigen Ausschüsse und weitere Mechanismen der „rationalisierten Inklusion“ auf, die die institutionelle Autonomie der Parlamente auch im Fall unklarer oder wechselnder Mehrheitsverhältnisse begünstigen. [ZParl, 46. Jg. (2015), H. 2, S. 235 – 256]

 

Buzogány, Aron: Institutionalisierung durch Imitation. Die Europäisierung des Parlamentarismus in Mittel- und Osteuropa.

Nach dem Regimewechsel 1989/1990 kamen die Parlamente in Mittel- und Osteuropa (MOE) kurzfristig zu neuer Kraft als zentrale Akteure der politischen Systeme. Doch bereits Ende der neunziger Jahre begann ihr gradueller Machtverlust: Ihr Ansehen in der Bevölkerung sank und die Exekutive baute ihre Macht aus, wobei sie durch den Prozess der europäischen Integration noch unterstützt wurde. Wie reagierten vor diesem Hintergrund die Parlamente der MOE-Staaten auf die Anforderungen der Europäisierung? Formell sind die gefundenen institutionellen Lösungen den nordeuropäischen Wegen sehr nah: Die meisten MOE-Staaten optierten für besonders starke parlamentarische Rechte in Bezug auf die Kontrolle ihrer Regierungen in europäischen Belangen. Die häufig unreflektierte Übernahme „Guter Praktiken“ aus Skandinavien, deren Passfähigkeit in den nationalen politischen Kontext nicht gegeben war, führte in der Praxis allerdings zu bedeutenden Diskrepanzen zwischen der formalrechtlichen Ausgestaltung und der tatsächlichen Nutzung dieser parlamentarischen Kontrollinstrumente. Es zeigt sich jedoch, dass von einer allgemeinen Entkopplung keinesfalls die Rede sein kann. Ostmitteleuropäische Parlamente haben sehr ausdifferenzierte europapolitische Aktivitäten entwickelt, die an die Anforderungen des jeweiligen politischen Systems angepasst sind. [ZParl, 46. Jg. (2015), H. 2, S. 257 – 271]

 

Semenova, Elena: Parliamentary Party Switching – eine Besonderheit des postkommunistischen Parlamentarismus? (in englischer Sprache)

In den meisten westeuropäischen Parlamenten kommen Fraktionswechsel von Abgeordneten selten vor. In ost- und mitteleuropäischen Staaten hingegen wechseln Parlamentarier ihre Fraktionen häufiger. Der Beitrag prüft, ob dies auf Karrierevorteile für die Parlamentarier zurückzuführen ist. Dazu werden Individualdaten aus zehn Ost- und Mitteleuropäischen Ländern (Russland, Ukraine, Moldawien, Lettland, Litauen, Estonia, Kroatien, Slowenien, Rumänien und Bulgarien) für den Zeitraum von 1990 bis 2009 analysiert. Die Effektstärke von Fraktionswechseln auf die Karrieredauer im Parlament wird mit den Effekten von Parteierfahrung und lokaler Erfahrung verglichen. Dies zeigt, dass mit Ausnahme von Slowenien, Bulgarien und Kroatien Fraktionswechsel auf den Verbleib im Parlament einen stärkeren Effekt haben als Führungspositionen in der Partei und lokale Erfahrung. Dies deutet in der Mikro-Perspektive darauf hin, dass Parlamentarier versuchen, ihre Karrieren durch Fraktionswechsel zu schützen. In der Gesamtperspektive destabilisiert dieses Verhalten allerdings das Parteisystem in Ost- und Mitteleuropa und führt zu erhöhter Volatilität und damit verbundenen Risiken für die Parlamentarier. [ZParl, 46. Jg. (2015), H. 2, S. 272 – 291]

 

Priebus, Sonja und Astrid Lorenz: Strategische Institutionenpolitik. Inhalte, Effekte und Risiken der Parlamentsreformen in Ungarn seit 2010.

Der Aufsatz zeigt am Beispiel der aktuellen Änderungen des Parlamentsrechts in Ungarn, welch weitreichende Konsequenzen institutionelle Reformen unterhalb der konstitutionellen Ebene haben können. Er analysiert die Veränderungen ab 2010, die von der regierenden Parlamentsmehrheit aus Fidesz und KDNP durchgesetzt wurden. Ihre Zweidrittelmehrheit ermöglichte es ihnen, die Geschäftsordnung mehrfach zu ändern, ein neues Parlamentsgesetz zu verabschieden und noch kurz vor den Parlamentswahlen am 6. April 2014 eine gänzlich neue Geschäftsordnung zu verabschieden. Diese Änderungen haben Folgen für das Funktionieren des Parlaments, seine Position im politischen System und den parlamentarischen Entscheidungsprozess. Die Analyse zeigt, dass die parlamentarischen Akteure dabei nicht stringent im Sinne eines Wandels zu einer Mehrheitsdemokratie vorgingen und kein bestimmtes Modell verfolgten. Vielmehr setzten sie lediglich diejenigen Charakteristika der Mehrheitsdemokratie um, welche die Effizienz der Entscheidungsfindung stärkten und ihren eigenen politischen Einfluss unabhängig von künftigen Mehrheiten sicherten. [ZParl, 46. Jg. (2015), H. 2, S. 292 – 309]

 

Grotz, Florian und Ferdinand Müller-Rommel: Schwache Regierungschefs? Politische Erfahrung und Amtsdauer von Premierministern in Mittel- und Osteuropa.

Bisherigen Forschungsergebnissen zufolge sind die Premierminister in den parlamentarischen Demokratien Mittel- und Osteuropas (MOE) deutlich kürzer im Amt als ihre westeuropäischen Kollegen. Die Untersuchung von 90 Regierungschefs in elf ostmitteleuropäischen Ländern von 1990 bis 2014 fördert dagegen beträchtliche Unterschiede zutage. Während die Premierminister in Bulgarien, Polen, Rumänien und Tschechien relativ kurze Amtszeiten aufwiesen, lag die durchschnittliche Amtsdauer in Kroatien, der Slowakei, Slowenien und Ungarn auf westeuropäischem Niveau. Zudem finden sich in allen MOE-Staaten einzelne Amtsinhaber, die jeweils vier Jahre und länger regiert haben; einige von ihnen wurden nach Ablauf einer regulären Wahlperiode wiedergewählt oder übernahmen nach einer Phase in der Opposition erneut die Leitung der Exekutive. Zur Erklärung dieser Varianz wird das „politische Erfahrungskapital“ der Regierungschefs untersucht. Dies zeigt, dass Premierminister, die den Vorsitz einer Partei innehatten, wesentlich länger regiert haben als andere. Demgegenüber kam einer vorherigen Kabinetts- oder Parlamentszugehörigkeit geringere Bedeutung zu. Insgesamt legen die Ergebnisse nahe, dass die unterschiedliche Amtsdauer von Premierministern in Mittel- und Osteuropa mit personenbezogenen Faktoren erklärt werden kann, die auch in Westeuropa eine wichtige Rolle spielen. [ZParl, 46. Jg. (2015), H. 2, S. 310 – 327]

 

Szabó, Zsolt: Der zwingende Minderheitsantrag zur Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses: eine deutsche Erfindung, die nur in Deutschland funktionsfähig ist?

Das parlamentarische Untersuchungsrecht ist eines der wichtigsten Instrumente der Opposition um die Kontrolle der von der Parlamentsmehrheit getragenen Regierung wahrzunehmen. Es wurde als Minderheitsrecht zum ersten Mal in Deutschland geregelt und steht im Gegensatz zum fakultativen Minderheitsantrag, bei dem die Minderheit die Einsetzung des Untersuchungsausschusses nur vorschlagen, nicht aber erzwingen kann. Dieses deutsche Modell haben weitere europäische Länder übernommen: Es existiert heute in Albanien, Liechtenstein, Litauen, Portugal und Slowenien; in Ungarn wurde es 2014 wieder abgeschafft. Die Erfahrungen zeigen, dass dieses Rechtsinstitut dann nicht richtig funktioniert, denn es fehlen rechtliche Garantien für die effektive Durchführung der Untersuchungen. Abgesehen von der Einsetzungsphase müssen dazu parlamentarische Minderheitsrechte auch im Laufe der ganzen Untersuchungsverfahren gesichert werden, damit der Wille der Antragsteller beachtet werden kann. In diesem Beitrag wird die Rechtslage und Praxis des obligatorischen Minderheitsantrages im Vergleich dargestellt und Ursachen für die Misserfolge parlamentarischen Untersuchungen herausgearbeitet. So werden abschließend Kriterien für ein effektives Minderheits-Untersuchungsrechts formuliert. [ZParl, 46. Jg. (2015), H. 2, S. 328 – 348]

 

Wimmel, Andreas: Die Ausschüsse des Bundestages in der Euro-Krise.

Die Ausschüsse des Bundestages haben in der Euro-Krise regelmäßig Gesetzentwürfe zur Umsetzung von Euro-Rettungsmaßnahmen beraten, die zuvor von den Staats- und Regierungschefs der EU vereinbart worden waren. Dieser Beitrag zeichnet die Kontrollaktivitäten der federführenden Ausschüsse im nationalen Gesetzgebungsverfahren nach und analysiert, welchen Einfluss die parlamentarische Opposition auf Beschlussempfehlungen ausüben konnte. Wenngleich insbesondere der Haushaltsausschuss zahlreiche Änderungsanträge beschlossen hat, haben diese die inhaltliche Substanz der auf europäischer Ebene vereinbarten Verträge und Maßnahmen kaum berührt. Zudem scheiterten die Oppositionsfraktionen aufgrund des komplexen Mehrebenensystems der EU selbst dann an der Durchsetzung ihrer politischen Ziele, wenn sie im Plenum des Bundestages über eine Vetoposition verfügten. [ZParl, 46. Jg. (2015), H. 2, S. 349 – 370]

 

Stykow, Petra: Parlamente und Legislativen unter den Bedingungen „patronaler Politik“: Die eurasischen Fälle im Vergleich.

Die Vertretungskörperschaften in den autoritären und hybriden Regimen Eurasiens sind keine demokratischen Parlamente, aber auch nicht einfach deren defizitäre Imitate. Ein Vergleich ihrer konstitutionellen Kompetenzen, ihre Funktionserfüllung und ihrer Binnenorganisation zeigt, dass sich im vergangenen Jahrzehnt drei unterschiedliche Typen herausgebildet haben: In den hybriden postsowjetischen Regimen sind im Ergebnis von politischen Krisen und Verfassungskompromissen konkurrierender Elitengruppen Parlamente entstanden, die eigenständige korporative Identitäten entwickelt haben und regierungsbezogene Funktionen erfüllen; sie arbeiten jedoch wenig effizient, kaum professionell und schwach regelgeleitet. Davon zu unterscheiden sind Legislativen in den autoritären Regimen welche die politische Dominanz ihrer Präsidenten ebenso widerspiegeln wie konsolidieren. Zum einen handelt es sich um konstitutionell schwach ausgestattete, kaum handlungsfähige Körperschaften von lediglich zeremonieller Bedeutung, zum anderen um institutionalisierte, rationalisierte Legislativen mit ausdifferenzierten Binnenstrukturen, die durch eine präsidententreue „Partei der Macht“ kontrolliert werden. [ZParl, 46. Jg. (2015), H. 2, S. 396 – 425]

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