Abstracts 2/2022 deutsch

HohendorfLukas und Ulrich Sieberer: Parteienwettbewerb im Bundestag nach dem Einzug der AfD und während der Corona-Krise: eine Analyse namentlicher Abstimmungen. 

Der Beitrag nutzt namentliche Abstimmung zur Vermessung des Parteienwettbewerbs im Bundestag. Während der Konflikt zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen dominant ist, finden wir interessante Varianz in der Beziehung zwischen Oppositionsfraktionen. Die Analysen zeigen über die letzten Wahlperioden eine deutliche Annäherung zwischen Grünen und Linken, nicht hingegen zwischen Grünen und FDP. Zwischen der AfD und den übrigen Fraktionen ist in der 19. Wahlperiode eine klare Trennung zu beobachten, insbesondere wurden sämtliche Vorlagen der AfD von allen anderen Fraktionen geschlossen abgelehnt. Zweitens spiegelt sich in der Beantragung namentlicher Abstimmungen die Themenagenda einzelner Fraktionen wider. Dies zeigen wir anhand der von der AfD beantragten namentlichen Abstimmungen, die einen klaren Zusammenhang mit Kernthemen der Partei (v.a. im Bereich Migration) aber auch allgemeinen Themenkonjunkturen (v.a. im Kontext der Corona-Pandemie) aufweisen. Drittens zeigen die Daten, dass ein anfänglicher parteiübergreifender Konsens zum Umgang mit der Corona-Pandemie relativ schnell von bekannten Mustern des Konflikts zwischen Regierungsmehrheit und Opposition überdeckt wurde, wobei gewisse Konflikte innerhalb der Fraktionen, vor allem der Union, deutlich werden. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 2, S. 261 – 286]

DemlerKatja: Im Schatten von Covid-19: Thematisierungsstrategien der Parteien in der Bundestagswahl 2021. 

Die Corona-Pandemie und die mit ihr einhergehenden Folgen haben das gesellschaftliche, politische, ökologische und ökonomische Leben der letzten fast zwei Jahre maßgeblich beeinflusst. Dem Umgang der politischen Parteien mit Covid-19 wurde daher auch ein maßgeblicher Einfluss auf die Bundestagswahlen 2021 nachgesagt – nicht zuletzt aufgrund der starken Thematisierung der Pandemie im Wahlkampf. Basierend auf grundlegenden Annahmen der Salienztheorie, der Issue Ownership-Theorie sowie zum Issue Framing geht der vorliegende Aufsatz der Frage nach, wie die im Deutschen Bundestag der 19. Wahlperiode vertretenen Parteien die Themen der Corona-Pandemie in ihren Bundestagswahlkampf aufgenommen haben. Er analysiert hierfür mittels inhalts- und häufigkeitsanalytischer Verfahren den programmatischen Raum in den Wahlprogrammen der Parteien zur Bundestagswahl 2021 und fokussiert hierbei im Besonderen auf die parteispezifischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Thematisierungsstrategien. Die Ergebnisse zeigen, dass der Corona-Pandemie als Valenz-Issue eine große Bedeutung in den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl 2021 beigemessen wurde. Hierbei wird ersichtlich, dass die etablierten Parteien die Corona-Krise vorrangig mit Themen ihrer eigenen Issue Ownership verbinden. Zuletzt verdeutlichen die Ergebnisse auch, dass die Corona-Krise offenbar nicht nur als Valenz-Issue, sondern auch als Positions-Issue zu verstehen ist – ein Aspekt, den künftige Arbeiten aufgreifen und näher beleuchten können. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 2, S. 287 – 303]

TrägerHendrik: Ost vs. West, Nord vs. Süd, Stadt vs. Land? Regionale Spezifika des Wahlverhaltens bei der Bundestagswahl 2021. 

Fünf aus der Forschungsliteratur abgeleiteten Hypothesen folgend, werden die Ergebnisse der Bundestagswahl 2021 auf mehreren Ebenen analysiert: Ost- und Westdeutsche unterscheiden sich insbesondere hinsichtlich ihres Abstimmungsverhaltens bezüglich Unionsparteien und Bündnis 90/Die Grünen mit elektoralen Hochburgen im Westen sowie AfD und Linke mit weit überdurchschnittlichen Zweitstimmenanteilen im Osten. Es sind also auch mehr als drei Jahrzehnte die Konturen von „[t]wo [g]erman [e]lectorates“ (Dalton / Bürklin) klar zu erkennen. Allerdings bestehen auch innerhalb der beiden Großregionen Unterschiede; diese weisen aber nur vereinzelt geografische Muster entlang der Nord-Süd-Perspektive auf. Auf der Ebene der kreisfreien Städte und Landkreise gibt es vor allem bei Bündnis 90/Die Grünen und der AfD erhebliche Differenzen bei der Höhe der Wahlergebnisse, die auf einen Konflikt zwischen urbanen Gebieten wie Großstädten und ländlichen Regionen hindeuten. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 2, S. 304 – 327]

PyschnyAnastasia und Melanie Kintz: Die Berufsstruktur des Deutschen Bundestages in der 20. Wahlperiode.

In Folge der Bundestagswahl 2021 hat sich die Zusammensetzung des Parlaments erheblich verändert. Mit 736 Mandatsträgern zählt der Bundestag so viele Abgeordnete wie nie zuvor; über 38 Prozent von ihnen sind neu in das Parlament eingezogen. Anknüpfend an frühere Dokumentationen untersucht der vorliegende Beitrag mithilfe des Kategorienschemas von Adalbert Hess, wie sich die personellen Veränderungen auf die Berufsstruktur der Abgeordneten ausgewirkt hat. Insgesamt fällt auf, dass es im Vergleich zur vorherigen Wahlperiode deutlich mehr Angestellte aus politiknahen Berufsbereichen, besonders aus dem Mitarbeiterkreis der Fraktionen und Parteien, im Bundestag gibt. Dieser „Vorberuf“ findet sich häufig bei den jüngeren und noch häufiger bei ostdeutschen Abgeordneten. Annäherungstendenzen zwischen ost- und westdeutschen Abgeordneten sind nach wie vor rar, es gibt sie aber: So sind ostdeutsche MdBs zwar immer noch seltener freiberuflich und häufiger selbstständig tätig als ihre westdeutschen Kollegen, die Unterschiede zwischen den Gruppen haben sich im Vergleich zur vorherigen Wahlperiode jedoch merklich verringert. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 2, S. 328 – 343]

GrotzFlorian und Wolfgang Schroeder: Die Rekrutierung des Regierungspersonals in der Ampel-Koalition: Zwischen Repräsentation, Loyalität und Kompetenz.

Die neue Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP hat ein ambitioniertes Programm formuliert. Für dessen Umsetzung kommt dem Regierungspersonal erhebliche Bedeutung zu. Der Beitrag untersucht, wie sich zentrale Rekrutierungsdimensionen für exekutive Spitzenpositionen – Repräsentation, Loyalität und Kompetenz – im Personalprofil der Ampel-Regierung abbilden. Neben den 17 Mitgliedern des Bundeskabinetts werden auch die 37 Parlamentarischen Staatssekretäre bzw. Staatsminister sowie die 34 beamteten Staatssekretäre einbezogen. Insgesamt ist das Personalprofil der Regierung Scholz stark parteipolitisch geprägt und zeichnet sich durch hohe Frauenanteile in allen Ämterkategorien aus. Gleichzeitig differieren die Rekrutierungsmuster der drei Koalitionsparteien. Das Regierungspersonal der SPD reflektiert nicht nur die dominante Rolle des Kanzlers bei der Ämterbesetzung, sondern auch die Schwierigkeiten, angesichts der innerparteilichen Machtarchitektur eine Balance zwischen (Gender-)Repräsentation, Loyalität und Kompetenz zu erreichen. Bei den Grünen liegt ein deutlicher Akzent auf Frauenrepräsentation und parteipolitischer Loyalität, während das Regierungspersonal der FDP durch eine Kombination von persönlicher Loyalität auf Kabinettsebene und Kompetenzorientierung in den anderen Ämtern gekennzeichnet ist. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 2, S. 344 – 364]

SairingerLukas: „Mehr Demokratie wagen?!“ Zur Absenkung der Altersgrenze für das aktive Wahlrecht zum Deutschen Bundestag. 

Seit einigen Jahren wird die Herabsenkung des Wahlalters zu den Bundestagswahlen diskutiert. Auch der Koalitionsvertrag der Ampelregierung sieht eine entsprechende Herabsenkung des Wahlalters auf das vollendete 16. Lebensjahr vor. Zurzeit können an der Wahl nur Bürger teilnehmen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben. Zahlreiche politische Kräfte sind aber bestrebt, durch eine Herabsenkung des Wahlalters auch Minderjährigen die Möglichkeit zu eröffnen, an der demokratischen Willensbildung zu partizipieren. Neben soziologischen Aspekten stellen sich auch aus dem Blickwinkel des Verfassungsrechts einige beachtenswerte Fragen, die berücksichtigt werden müssen. Insbesondere gilt es dabei die zahlreichen Vergleichsgrundlagen von Altersgrenzen aus der Rechtsordnung hinsichtlich deren Geeignetheit zur Begründung einer Herabsenkung des Wahlalters sorgfältig zu prüfen. Dabei ist festzustellen, dass eine Herabsenkung des Wahlalters nur unabhängig jeglicher Vergleichsgrundlagen und ausschließlich orientiert an der demokratischen Teilnahmefähigkeit der Wähler am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Parlament begründet werden kann. Diese Einschätzung zu treffen, obliegt allein dem verfassungsändernden Gesetzgeber. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 2, S. 365 – 381]

PytaWolfram: Berlin statt Bonn: Die Hauptstadtentscheidung des Bundestags vom 20. Juni 1991 als Ergebnis überfraktioneller Willensbildung.          

Überfraktionelle Willensbildungen stellen in der parlamentarischen Kultur der Bundesrepublik eine Ausnahme dar, da sich wegen ihrer funktionalen Unterscheidung Regierungs- und Oppositionsfraktionen im Parlament gegenüberstehen. Am Beispiel der Bundestagsentscheidung vom 20. Juni 1991, durch die der Umzug von Regierung und Parlament nach Berlin beschlossen wurde, geht der Beitrag der Frage nach, mit Hilfe welcher Verfahren sich parlamentarische Willensbildungsprozesse koordinieren lassen, wenn dieser Dualismus von Regierungsfraktionen und Oppositionsfraktionen nicht greift. Anhand des Abstimmungsverhaltens baden-württembergischer CDU-Abgeordneter, die für Berlin votierten, zeigt sich zum einen die ausschlaggebende Rolle der Landesgruppen, speziell in derartigen Ausnahmekonstellationen. Zum anderen wird eine enge Verflechtung von Landes- und Bundespolitik erkennbar, wobei es im Falle Baden-Württembergs die CDU-Landtagsfraktion war, die sich als Zuspieler der CDU-Landesgruppe im Bundestag in Szene setzte. Das Beispiel belegt zugleich, dass fraktionsübergreifende Gruppenanträge nicht nur der Pazifizierung innerhalb der Fraktionen dienen, sondern ein Verfahren darstellen, um den Volkswillen zu konstituieren – und zwar nicht in Form eines Plebiszits, sondern durch innerparlamentarischen Ausgleich. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 2, S. 409 – 433]

JesseEckhard: Repräsentation versus Repräsentativität. Die Rede des Alterspräsidenten Wolfgang Schäuble.

Wolfgang Schäuble ist mit nunmehr einer fast 50-jährigen Tätigkeit als Bundestagsabgeordneter ein in der Wolle gefärbter Parlamentarier. Er erwarb sich nicht nur in der Legislative, sondern auch in der Exekutive große Meriten. Weniger glücklich fiel Schäubles Agieren in der CDU aus. Seine Rede als Alterspräsident am 26. Oktober 2021 ist ein beeindruckendes Beispiel für unaufgeregte Kritik an der Identitätspolitik. Gruppenzugehörigkeiten sagen nichts über politische Positionen aus. Die Kernaussage lautet: „Verwechseln wir Repräsentation nicht mit Repräsentativität.“ Auch andere zentrale Punkte der Rede überzeugen. Schäuble hat sich um den Parlamentarismus verdient gemacht – und nicht nur mit dieser Rede. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 2, S. 434 – 440]

HartmannOskar und Michael Lindner: Die Bildung von Mehrmandats-Regionalwahlkreisen nach dem Muster von Regierungsbezirken. 

Die Autoren konzentrieren sich auf die Vorschläge, die es in den letzten Jahren im Sinne der Bildung von Mehrmandats-Regionalwahlkreisen für die Bundestagswahl gegeben hat. Dadurch können die stabile Parlamentsgröße und die proportionale Sitzverteilung garantiert und außerdem die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Wähler bei der personellen Auswahl der Kandidaten ausgeweitet werden. Die Autoren favorisieren eine einfache und effiziente Stimmabgabe durch die Wähler mit vier Personenstimmen oder einer pauschalen Regionalwahlkreisstimme. Der spezifische Vorschlag dieses Artikels liegt darin, bundesweit 43 Regionalwahlkreise zu bilden, die gleichzeitig Regierungsbezirke, ehemalige Regierungsbezirke oder im Falle bevölkerungsschwacher Länder deckungsgleich mit dem Bundesland sind. Eine solche Einteilung orientiert sich an der psychologischen Identifikation der Bevölkerung mit Regierungsbezirken, die in vielen Fällen so oder ähnlich seit Jahrhunderten bestanden haben. [ZParl, 53. Jg. (2022), H. 2, S. 441 – 451]

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