Oertzen, Jürgen von: Komplexe Abstimmungssituationen im Deutschen Bundestag: Ein Verfahrensvorschlag zur Sicherung parlamentarischer Legitimität.
Das im Deutschen Bundestag übliche – am Gegenüber von Regierungsmehrheit und Opposition orientierte – Verfahren der Gesetzesberatung funktioniert nicht, wenn beispielsweise aufgrund fraktionsübergreifender Gruppenanträge mehrere aussichtsreiche Anträge vorliegen. Für diese seltenen, aber wichtigen Fällen gibt es keine hinreichenden Abstimmungsvorschriften. Die Steuerungsgremien beschließen darüber jeweils neu und erhalten so möglicherweise einen Einfluss auf das Ergebnis: Bei der Berlin/Bonn-Entscheidung, bei der Abstimmung über § 218 und bei der Frage des Stammzellenimports wären mit anderen Verfahren eventuell oder sogar wahrscheinlich andere Ergebnisse erzielt worden. Um derartige Unsicherheiten zu vermeiden, sollte – legt man Kriterien der Mehrheitsregel und der Repräsentation zugrunde – eine einheitliche Regelung gefunden werden. Dafür bietet sich eine modifizierte Variante des „Schweizer Verfahrens“ an. (ZParl, 34. Jg., H. 3, S. 453 – 477)
Siefken, Sven T.: Expertengremien der Bundesregierung – Fakten, Fiktionen, Forschungsbedarf.
Die Beratung der Bundesregierung durch Expertenkommissionen, Beiräte, Sachverständigengruppen, Task Forces – wird in den letzten Jahren verstärkt öffentlich diskutiert und häufig kritisiert. Klare politikwissenschaftliche Aussagen zu diesen Einrichtungen fehlen jedoch, was nicht zuletzt an der geringen Formalisierung der Politikberatung in Deutschland liegt. Anhand der Gremienbesetzungsberichte der Bundesregierung und der Medienberichterstattung lässt sich feststellen, dass die reale zahlenmäßige Entwicklung von Expertengremien und die Berichterstattung divergieren. So stieg zwar die Berichterstattung seit 1998 massiv an, die Zahl der Gremien ging allerdings seit dem Ende der 1970er Jahre zurück. Dieses Phänomen kann mit dem vorherrschenden Interpretationsmuster, die Bundesregierung sei „konsensorientiert“, erklärt werden, das zusätzlich durch eine hohe Personalisierung auf den Kanzler verstärkt wird. Unter diesen Bedingungen werden Expertengremien zum Medienereignis mit ausgesprochener Themenkonjunktur. Für die weiterführende qualitativ orientierte Forschung werden Vorschläge zu einer einheitlichen Begrifflichkeit der Beratungsinstrumente gemacht und eine Typologie entwickelt. In komparativen Fallstudien sollte künftig die Bedeutung von Expertengremien der Bundesregierung unter besonderer Berücksichtigung der Machtverhältnisse zwischen Parlament und Regierung analysiert werden. (ZParl, 34. Jg., H. 3, S. 483 – 504)
König, Thomas, Bernd Luig, Till Blume, Andrei Danila und Ina Spatz: Politikwandel ohne Regierungswechsel? Eine Anwendung der Vetospielertheorie zur Abschätzung der Politik in Deutschland nach den Wahlen 2002.
Nach der Bundestagswahl 2002 wird erneut über Reformstau und Blockaden diskutiert. Um das Potenzial für Politikveränderungen in der zweiten Amtszeit der neu Schröder-Regierung zu untersuchen, werden zunächst die Politikpositionen der politischen Parteien ermittelt. Dies geschieht anhand einer neuen Art von Dokumentenanalyse, mit der Präferenzprofile der einzelnen Parteien aus ihren Programmen erstellt werden können. Für die weitere Entwicklung der Politik nach der letzten Bundestagswahl ergibt sich, dass wirtschaftspolitische Veränderungen nur unter extremen Bedingungen eintreten werden, da diesem Politikfeld eine polarisierte Konfiguration zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien eigen ist. In der Außenpolitik lassen sich hingegen keine großen Unterscheide feststellen, hier herrscht Konsens vor. Im gesellschaftspolitischen Bereich ist es schließlich wahrscheinlich, dass eine große (Interessen-)Koalition zwischen SPD und CDU entscheidend für einen Politikwechsel sein wird. (ZParl, 34. Jg., H. 3, S. 508 – 530)
Schuett-Wetschky, Eberhard: Zwischen traditionellem Parlamentsverständnis und moderner Parteiendemokratie: Gründe des latenten Verfassungskonflikts.
Die Differenz zwischen dem verfassungspolitischen Ideal vieler Bürger einerseits und der Praxis andererseits kann als latenter Verfassungskonflikt verstanden werden, der auf vielfältigen Gründen beruht. Erstens stimmt die entscheidende gedankliche Grundlage des Konflikts – das traditionelle Parlamentsverständnis – hinsichtlich seiner wesentlichen Merkmale mit der klassisch-liberalen Repräsentationsidee überein und wird durch die einfache Überlegung gestützt, dass ein Volk nur über eine Volksvertretung politisch handeln kann, in der alle Volksvertreter gemeinsam beraten und entscheiden. Zweitens hat die Wissenschaft bisher weitgehend die kritische Auseinandersetzung mit der klassisch-liberalen Repräsentationsidee und dem Politikmodell des Parlamentarischen Rates ausgeblendet. Und drittens gibt es bisher keine an das breite Publikum gerichteten Veröffentlichungen, die zweierlei vermitteln: (1) Das Handeln der Akteure in geschlossen auftretenden Gruppen ist grundsätzlich legitim und in einer parlamentarischen Demokratie funktionsnotwendig; es kann in freiheitlichen Demokratien im Übrigen auch gar nicht verhindert werden. (2) Fraktionen beziehungsweise Parteien sind nicht lediglich Anhängsel des politischen Prozesses sind, sondern zentrale Akteure, welche Entscheidungen treffen, auch wenn sie formal und hinsichtlich der Legitimierung ihrer Politik auf den Bundestag als Organ beziehungsweise Institution angewiesen bleiben. (ZParl, 34. Jg., H. 3, S. 531 – 549)
Dittberner, Jürgen: Freies Mandat und politische Geschlossenheit. Widerspruch oder Ergänzung zweier Prinzipien des Parlamentarismus?
Das Grundgesetz erwartet zwischen den Art. 21 (Parteiendemokratie) und 38 (Freies Mandat), dass die Geschlossenheit der Parteien und die Freiheit der Abgeordneten sich optimieren. Da die Abgeordneten über Parteien in die Parlamente kommen, ist es selbstverständlich, dass sie sich zu Fraktionen zusammenschließen. Diese sind gegen Instrumentalisierung durch ihre Parteien geschützt. Dennoch werden durch Personalunionen in Parteien und Fraktionen Machtzentren gebildet, denen andere faktisch nachgeordnet sind. In den Fraktionen entsteht Druck zur Geschlossenheit, der meist als „Fraktionsdisziplin“ verstanden wird, im Konfliktfall als „Fraktionszwang“ erscheint. Politische Geschlossenheit ist die der liberalen Honoratiorendemokratie widersprechende und der repräsentativen Parteiendemokratie entsprechende Regel. Dennoch gibt es immer wieder Abgeordnete, die sich mit mehr oder weniger Erfolg der politischen Geschlossenheit widersetzen. Aus solchen Auseinandersetzungen gehen meist die Parteiführungen gestärkt hervor. Allerdings wäre es völlig verfehlt, Parteien als monolithische Blöcke anzusehen; schon die föderale beziehungsweise territoriale Mehrgliedrigkeit der Parteiorganisationen mit aufgeteilten Mitwirkungs- und Entscheidungsmöglichkeiten (zum Beispiel bei der Kandidatenaufstellung) setzt der Hierarchisierung Grenzen. (ZParl, 34. Jg., H. 3, S. 550 – 564)
Eilfort, Michael: Geschlossenheit und gute Figur. Ein Versuch über die Steuerung von Fraktionen.
Eine Fraktion im Deutschen Bundestag zu führen, ist eine besonders schwierige Aufgabe, die sich in vielen Punkten von der Arbeit an der Spitze der Bundesregierung oder eines Ministeriums unterscheidet. Dabei gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, die politische Arbeit von Bundestagsabgeordneten zu bündeln und erfolgreich zur Geltung zu bringen. Zentrale operative Ziele sind beispielsweise Geschlossenheit und ein positives Außenbild, das nur möglich ist, wenn Fraktionsführungen und Abgeordnete sich gegenseitig unterstützen. Über Verfassungstheorie und -praxis hinaus sind die informellen und medialen Rahmenbedingungen der Aktivitäten einer Fraktion sowie die gruppendynamischen und individuellen psychologischen Prozesse, die in ihr ablaufen, von großer Bedeutung. (ZParl, 34. Jg., H. 3, S. 565 – 582)
Kube, Hanno: Auf dem Weg zu einer faktisch autonomen Gubernative? Ein Zwischenruf zu politischem Strukturwandel und modernen Medien.
Die Regierung löst sich in der Verfassungspraxis zunehmend aus seiner Einbindung in das parlamentarische Regierungssystem heraus und droht, sich zu einer faktisch autonomen Gubernative zu entwickeln. Diese Tendenz wird gefördert durch das zunehmend informelle und konsensuale Regierungshandeln, die Nutzung des Bundesrates als Instrument der Opposition(sparteien), die Verwischung der Grenzen zwischen der privaten und öffentlichen Person des Politikers, die überstaatliche Einbindung des Staates, von der vor allem die Exekutive profitiert. Unterstützung findet diese Entwicklung durch neuere Ansätze zur Herrschaftslegitimation, die primär auf die angemessene Aufgabenerledigung abstellen. Des Weiteren tragen die modernen Medien, insbesondere das Fernsehen, zur Entfaltung einer starken Gubernative durch neue personalisierungsförderliche/-zentrierte Formate bei. So werden sie zur Bühne von Regierungschefs und fördern die passive Akklamation seitens der Bürger. Andererseits können Medien aber auch das Interesse an der Politik durch neue Fernsehformate und innovative Internet-Anwendungen wecken und verstärken. Aus dieser ambivalenten Bedeutung der modernen Medien erwächst ihnen eine erhebliche Verantwortung für die Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung. (ZParl, 34. Jg., H. 3, S. 583 – 595)
Lang, Joachim: Zur Frage uneinheitlichen Stimmverhaltens im Bundesrat.
Das Bundesverfassungsgericht setzt sich in seinem Urteil zum Zuwanderungsgesetz vom 18. Dezember 2002 mit den unterschiedlichen Auffassungen zur Auslegung von Artikel 51 Absatz 3 Satz 2 GG auseinander. Es folgt in Ergebnis und Argumentation der in der Literatur seit Langem herrschenden Ansicht, dass die uneinheitliche Stimmabgabe im Bundesrat zur Ungültigkeit der abgegebenen Stimmen führt. Damit erteilt das Gericht auch der kurzfristig entstandenen Theorie, die Einheitlichkeit der Stimmabgabe könne durch Stimmführerschaft hergestellt werden, eine Absage. So findet der in Politik und Medien viel beachtete Streit über das Abstimmungsverhalten des Landes Brandenburg im Bundesrat und über die Sitzungsleitung des damaligen Präsidenten des Bundesrates Klaus Wowereit ein klärendes Ende. (ZParl, 34. Jg., H. 3, S. 596 – 605)
Gusy, Christoph: Politisches Theater als parlamentsrechtlicher Ernstfall.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Zuwanderungsgesetz thematisiert Grundfragen des Organisationsrechts der obersten Bundesorgane. Die meisten dieser Fragestellungen sind bislang wenig untersucht. Daher kommt dem Urteil erhebliche Bedeutung zu. Dies gilt auch angesichts der Tatsache, dass der Bundesrat keine Volksvertretung, sein Organisationsrecht daher auch kein Parlamentsrecht im eigentlichen Sinne darstellt. Doch gehen die Urteilsgründe auf zahlreiche Rechtsfragen gar nicht ein und begnügen sich mit einem vergleichsweise hohen Maß an Pragmatismus. So wird dem haut-gout des „Theaters“ im Bundesrat gewiss entgegenwirkt. Doch hat dieses Vorgehen einen hohen Preis. Indem die Senatsmehrheit die im abweichenden Votum gestellten Fragen nicht beantwortet – bisweilen sogar nicht einmal anspricht –, vermag sie juristisch schwerlich zu überzeugen. Die verfassungsrechtliche Diskussion wird in der Zukunft voraussichtlich mehr vom dissenting vote als von der Begründung der Senatsmehrheit profitieren. (ZParl, 34. Jg., H. 3, S. 605 – 614)