Abstracts 3/2023 deutsch

Rüsenberg, Robin, Lorenz Schleyer und Sven T. Siefken: In den Tiefen der Koalitionsverhandlungen 2005 bis 2021: Von der Arbeitsgruppe Gesundheit zum Koalitionsvertrag.

Koalitionsverhandlungen nehmen eine Schlüsselrolle vor der Regierungsbildung ein, wurden aber bislang wenig untersucht. In den letzten Jahrzehnten ist deren Organisation stetig weiter ausdifferenziert worden zu einer komplexen Verhandlungsstruktur mit mehreren Ebenen und fachlicher Arbeitsteilung. Am Beispiel der Arbeitsgruppe Gesundheit in den Koalitionsverhandlungen nach den Bundestagswahlen zwischen 2005 und 2021 wird analysiert, wie weitreichend die Änderungen zwischen AG-Entwurf und späterem Koalitionsvertrag sind. Dies zeigt, wie die inhaltlichen Verhandlungsprozesse ablaufen und wie sich ihre Ergebnisse in den Koalitionsverträgen widerspiegeln. Die Fachpolitiker aus Bundestag und Ländern, die in den AGs beteiligt sind, nehmen dabei großen Einfluss auf das Ergebnis, insbesondere, wenn sie sich in der AG einigen können. Doch Verhandlungsführungen greifen bei Themen ein, die für den Parteienwettbewerb relevant sind, und die Haushälter sind in finanzieller Hinsicht von Bedeutung. Auch Einzelpersonen und spezifische Länderinteressen können Einfluss auf die Ergebnisse haben. Die vorgestellte Analysemethodik lässt sich auf andere Politikfelder und Koalitionsbildungen übertragen. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 3, S. 483 – 508]

RosarUlrich und Thomas Poguntke: Via Twitter ins Amt: Karl Lauterbach, die Corona-Pandemie und das Bundesgesundheitsministerium. 

Der Aufsatz zeigt, dass Karl Lauterbach das Amt des Gesundheitsministers gewissermaßen an seiner eigenen Partei vorbei auf dem Wege der selbst generierten Twitter-Popularität und der sich anschließenden Talk Show-Präsenz erlangt hat. Lauterbach hatte nach seiner gescheiterten Bewerbung um den SPD-Vorsitz weder nennenswerten Rückhalt innerhalb der Fraktion noch innerhalb der Partei. Auch übte er keine wichtigen Ämter innerhalb der Fraktion oder innerhalb der gesundheitspolitischen Fachgruppe aus. Die nordrhein-westfälische SPD setzte ihn auf einen der aussichtslosen Listenplätze für die Bundestagswahl. Selbst bei den Koalitionsverhandlungen spielte er nur eine untergeordnete Rolle und war nicht federführend für die Gesundheitspolitik zuständig. Nach allen gängigen Regeln der Rekrutierung von Regierungsmitgliedern gehörte Lauterbach nicht zum engeren Kreis der ministrablen Kandidaten. Es wird mit detaillierten quantitativen Analysen der Twitter- und Medienpräsenz Lauterbachs gezeigt, dass Vieles für die Annahme spricht, dass diese Präsenz die entscheidende Erklärung für seine Ernennung liefert. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 3, S. 509 – 531]

ProbstLothar: Die Bürgerschaftswahl in Bremen vom 14. Mai 2023: SPD wieder stärkste Partei, Rot-Grün-Rot wird fortgesetzt.

Nach einem spannungsarmen Wahlkampf konnte die SPD, nicht zuletzt dank der Popularität und Beliebtheit ihres Spitzenkandidaten Andreas Bovenschulte, wieder die Position der stärksten Partei erobern, die sie bei der Bürgerschaftswahl 2019 an die CDU verloren hatte. Während CDU und Linke ihr Wahlergebnis aus der vorherigen Wahl ungefähr halten konnten, waren die Grünen mit Verlusten von mehr als fünf Prozentpunkten eindeutige Verlierer der Wahl. Ihre Arbeit in der Koalition, insbesondere in der Verkehrspolitik, wurde von vielen extrem negativ bewertet. Die FDP schaffte mit 5,1 Prozent knapp den Einzug in die Bürgerschaft. Zwar führte die SPD auch Sondierungsgespräche mit der CDU, entschied sich aber schnell für eine Fortsetzung der bisherigen Koalition mit den Grünen und der Linken. Der ehrgeizige Koalitionsvertrag formuliert zwar viele Ziele im Bereich Infrastruktur, Personalaufstockung an den Schulen und ökologische Transformation der Wirtschaft, bleibt aber bezüglich der Finanzierung der Vorhaben vage. Vieles soll aus dem in der letzten Wahlperiode verabschiedeten Klimafonds finanziert werden. Die CDU sieht in den Kreditermächtigungen dieses mit 2,5 Milliarden ausgestatteten Fonds eine Verletzung des Haushaltsrechts des Parlaments und hat einen Normenkontrollantrag vor dem Staatsgerichtshof angekündigt. Von den künftigen Senatsressorts, die neu zusammengestellt wurden, besetzen die SPD fünf und die Grünen sowie Linken je zwei Ressorts. Außerdem bleibt der Bevollmächtigter der Freien Hansestadt Bremen beim Bund und für Europa (SPD) im Range eines Staatsrates stimmberechtigtes Mitglied im Senat. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 3, S. 532 – 553]

LeunigSven: Die AfD als Auslöser von Regeländerungen? Zu den Regularien der Alterspräsidentschaft in Bundestag und Landesparlamenten nach 2014.

Im Herbst 2017, noch vor der Bundestagswahl, beschloss der 18. Deutsche Bundestag, dass künftig nicht mehr der an Lebensjahren älteste, sondern derjenige Abgeordnete die erste Sitzung einer neuen Wahlperiode eröffnen soll, der dem Bundestag am längsten angehört. Eine solche Änderung ist aufgrund des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts zulässig. Es wurde in den Medien und auch von der AfD allerdings die Vermutung geäußert, dass die Änderung nicht einer Absicherung der Fähigkeit des Alterspräsidenten zur Sitzungsleitung, sondern der Vermeidung der Alterspräsidentschaft eines AfD-Abgeordneten diente. In diesem Aufsatz wird auch vor dem Hintergrund bisheriger Alterspräsidentschaften von AfD-Abgeordneten in den Landesparlamenten seit 2014 der Frage nachgegangen, ob tatsächlich von einem solchen Zusammenhang bei der Änderung der Geschäftsordnung des Bundestags sowie derjenigen von drei weiteren Landtagen ausgegangen werden kann. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 3, S. 534 – 570]

LüscherSandro: Parlamentswahlen nach dem doppelt-proportionalen Sitzzuteilungsverfahren im Lichte der territorialen Repräsentation. Eine empirische Annäherung an ein konzeptionelles Dilemma. 

Der „doppelte Pukelsheim“, wie das doppelt-proportionale Divisorverfahren mit Standardrundung volkstümlich bezeichnet wird, erfreut sich in der Schweiz großer Beliebtheit. Aus gutem Grund: Die neue Methode zur Verteilung der Parlamentssitze auf die Parteien bildet

den Wählerwillen besser ab als konventionelle Verhältniswahlverfahren. Allerdings hat die 2007 erstmals bei den Kantonsratswahlen in Zürich zur Anwendung gelangte Formel eine mathematische Eigenschaft, welche einer anspruchsgerechten Repräsentation lokaler Wählerschaften entgegenwirkt. Konkret führen ungleiche Beteiligungsquoten und ungleiche Anteile an Wahlberechtigten in den Wahlkreisen auf subtile Weise zu einer ungleichen Einflussnahme der einzelnen Wahlkreise auf das Gesamtresultat. Anhand der Zürcher Gemeinderatswahlen 2022 und der Bündner Großratswahlen 2022 wird dargelegt, weshalb das problematisch ist und anschließend aufgezeigt, wie die Repräsentation der Wahlkreiselektorate mit einem minimalen Eingriff in die Berechnungsformel optimiert werden könnte. Die Auswertung zeigt, dass es in beiden Anwendungsfällen zu Sitzverschiebungen zwischen den Parteien kommt. Diese können zu einem maßgeblichen Teil durch die unterschiedliche Mobilisierung der Wahlkreiselektorate und nur zu einem geringeren Teil durch die unterschiedlichen Anteile an Wahlberechtigten in den Wahlkreisen erklärt werden. Ferner sprechen erste Befunde dafür, dass diese Sitzverschiebungen nicht zufällig entstehen, sondern mit der Demographie der Parteielektorate zusammenhängen. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 3, S. 571 – 595]

MöhringJakob: Zum Reformbedarf bei der Personalwahl in den Wahlkreisen: Anmerkungen zur umstrittenen Wahlrechtsänderung.

Der Deutsche Bundestag hat im März 2023 mit den Stimmen der Regierungskoalition von SPD, Grünen und FDP eine Wahlrechtsreform verabschiedet, die das Anwachsen des Parlaments über die vorgesehene Regelgröße hinaus verhindert. Entgegen einem ersten Gesetzentwurf vom Januar 2023 wurde nicht nur die Abschaffung von Überhang- und Ausgleichsmandaten, sondern auch der ersatzlose Wegfall der Grundmandatsklausel beschlossen. Die Wahlrechtsreform korrigiert in zweckmäßiger Weise das System der personalisierten Verhältniswahl und stellt ein Parlament mit der exakten Regelgröße sicher. Der ersatzlose Wegfall der Grundmandatsklausel ergibt sich jedoch nicht aus dem Reformansatz, sondern erzeugt vakante Wahlkreise, die dem Ziel der Wahl und dem Gerechtigkeitsempfinden zu widersprechen scheinen. Eine Reform der Personenwahl in den Wahlkreisen, die den Systemfehler des Überhangs im Rechenverfahren verursacht, wird mit den Wahlrechtsänderungen nicht verfolgt. Überlegungen, wie Überhänge möglichst vermieden werden könnten, sollten daher bei der weiteren Ausgestaltung des Wahlrechts besondere Beachtung finden, um das Wahlsystem zeitgemäß weiterzuentwickeln. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 3, S. 596 – 610]

GschwendThomas, Oliver Rittmann und Lisa-Marie Werner: Zwischen Wahlkreisreduzierung und Bürgernähe: Zur aktuellen Reformdiskussion des Wahlrechts in Baden-Württemberg. 

Diskussionen zur Reform des Wahlrechts werden bisher meist ohne den Blickwinkel des Souveräns geführt. Wir untersuchen anlässlich der aktuellen Reformdiskussion und der Änderung des Landtagswahlrechts in Baden-Württemberg, ob eine Reduzierung der Wahlkreise zu weniger Bürgernähe führt. Weniger Bürgernähe wird häufig als Argument gegen eine Vergrößerung von Wahlkreisen angeführt. Bereits jetzt sind Landtagswahlkreise unterschiedlich groß, so dass sich analysieren lässt, ob Bürgerinnen und Bürger in größeren Wahlkreisen weniger Bürgernähe verspüren. Wir analysieren diese Fragestellung auf Basis der Daten des „Demokratie-Monitoring Baden-Württemberg 2016/2017“. 2.501 Befragte aus allen Landtagswahlkreisen haben Fragen zu ihrer gefühlten politischen Responsivität und Demokratiezufriedenheit beantwortet, womit wir Bürgernähe zumindest indirekt messen können. Unsere Ergebnisse und Modellrechnungen zeigen, dass sich Befragte in größeren Wahlkreisen nicht weniger Bürgernähe wahrnehmen als Befragte in kleineren Wahlkreisen. Unsere Ergebnisse stimmen mit ähnlichen Studien auf Bundesebene überein. Somit kommen wir zu dem Schluss, dass eine Reduktion der Wahlkreise ein sinnvolles Mittel gegen einen unerwünscht großen Landtag sein kann. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 3, S. 611 – 624]

KückEmma und Simon Meyer: Private Politikfinanzierung: Rechtslage und Regelungsbedarf. 

Die private Politikfinanzierung genießt verfassungsrechtlichen Schutz. Privatpersonen, die Parteien durch Spenden, Sponsoring oder andere Finanzierungsinstrumente unterstützen, machen von ihrem Grundrecht auf politische Teilhabe Gebrauch. Allerdings birgt die private Politikfinanzierung die Gefahr einer übermäßigen Einflussnahme finanzstarker Bürger und Unternehmen, welche die demokratische Gleichheit beeinträchtigen kann. Das Spannungsverhältnis zwischen den kollidierenden verfassungsrechtlichen Interessen löst der Gesetzgeber nicht durch ein vollständiges Verbot von Spenden an politische Parteien, sondern durch Transparenzpflichten und partielle Spendenannahmeverbote. Dennoch bleiben infolge der relativ hohe Publizitätsgrenze für Spenden sowie der Nichtberücksichtigung alternative Finanzierungsmöglichkeiten, wie etwa Sponsoring, Lücken im Parteiengesetz, die eine Umgehung der Spendenregelungen ermöglichen. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 3, S. 625 – 637]

Kempf, Udo: Frankreichs Parteiensystem im Umbruch.

Until 2017 “two blocks” dominated the French political party system. Alternative governments of the left and of the bourgeois-conservative camp have alternated since 1960s. Due to the drastic losses of the traditional parties as Les Républicains as well as the Socialists and the electoral successes of the liberal-conservative Macron supporters, the supporters of the radical right-wing Le Pen’s movement and the left-wing socialist party under Jean-Luc Mélenchon there has been a new development towards an asymmetry. Since the most recent parliamentary elections in 2022, one can speak of a tripolar system: Alongside Macrons La République en Marche, the right-wing Rassemblement National under Marine Le Pen and the left-wing group La France Insoumise (Indomitable France) under Jean Luc Mélenchon. The once dominant parties of the Fifth Republic still exist, but are only a shadow of themselves. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 3, S. 638 – 657]

SchierenStefan: Der Fixed-term Parliaments Act 2011 in Großbritannien. Oder: Die Folgen eines verfassungspolitischen Blindflugs.

Nachdem die Wahl von 2010 keiner Partei die absolute Mehrheit verschafft hatte, schloss die Konservative Partei eine Koalition mit der Liberaldemokratischen Partei. Diese forderte für ihre Bereitschaft dazu u.a. eine fixe Legislaturperiode. Der Fixed-term Parliaments Act 2011 nahm dem Premierminister das Recht, alleine über Neuwahlen zu bestimmen. Damit wurde ihm ein Recht genommen, das maßgeblich zu dessen starker Stellung im politischen System beitrug. Genau das lag in der Absicht der Liberaldemokraten, die mit dem Gesetz darauf abzielten, die britische Politik fairer, weniger konfrontativ und integrativer zu machen. Doch letztlich blieb das Gesetz Stückwerk. Seine Konstruktionsmängel trugen erheblich zur Zuspitzung der Konfrontation bei, in der sich Parlament, Regierung und Parteien auf dem Höhepunkt der Brexit-Debatte wiederfanden. Denn das Gesetz versperrte den Ausweg, den in vergleichbaren Situationen Neuwahlen in der Vergangenheit geboten hatte, um die Blockade zu lösen. Sollte allerdings die Absicht der Regierung von Boris Johnson darin bestanden haben, den no deal-Brexit durchzusetzen, so erwies sich das angesichts des Gesetzes als unmöglich. In der verfahrenen Situation fällte der Supreme Court ein wegweisendes Urteil, das sich auf die Architektur der britischen Verfassung auswirken könnte, in der dem Monarchen möglicherweise ein veränderter Platz einnimmt. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 3, S. 658 – 678]

de Ghantuz CubbeGiovanni: Probleme politischer Repräsentation. Carlo Mongardini und der Beitrag der italienischen Politikwissenschaft. 

Inwiefern gelingt es der heutigen Politikwissenschaft, politische Repräsentation im Zusammenhang mit Macht – also als Herrschaftsverhältnis – ausführlich zu betrachten? Der italienische Soziologe und Politikwissenschaftler Carlo Mongardini (1938 – 2021) kann als einer der letzten Vertreter einer „klassischen Denkweise“ in der italienischen Politikwissenschaft angesehen werden, die ihren Schwerpunkt auf Macht, ihre Gestaltung und Aufteilung legte. Politische Repräsentation verstand Mongardinials „die höchste politische Formel“, die in der modernen Geschichte entstanden ist. Sie ist das Instrument par excellence, mit dem das komplexe Herrschaftsverhältnis zwischen Regierenden und Regierten, das aus dem Ende des Ancien Régime hervorging, umgesetzt wird. Nur durch eine detaillierte Analyse der Transformationen, denen ein solches Verhältnis unterliegt, ist es möglich, die zeitgenössischen Herausforderungen für die Repräsentation zu verstehen. Unter Rückgriff auf die Ideen Mongardinis soll in diesem Beitrag ein analytischer Faden für die Erforschung politischer Repräsentation gesponnen werden, indem deren Grundkonfiguration und die zentralen Züge ihres Wandels bis in die Gegenwart zusammengefasst werden. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 3, S. 679 – 692]

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