Fischer, Jörg-Uwe: Parlamentarische Studienfahrten vor 1914: „… den Flottengedanken zu fördern“.
Während der Hochphase der Wilhelminischen Flottenpolitik beschritt das Reichsmarineamt unter der Leitung von Admiral Alfred von Tirpitzneue Wege der Öffentlichkeitsarbeit. Nicht nur begab sich von Tirpitzselbst vor das Reichstagsplenum. Er lud die Abgeordneten obendrein zu „parlamentarischen Studienfahrten“, zur Besichtigung von Marineeinrichtungen an Nord- und Ostsee ein. Die Exkursionen boten ihm reichlich Gelegenheit, handfeste Belange der Marine zu vertreten, sie sollten die Aufgeschlossenheit der Marine gegenüber dem Reichstag demonstrieren und dem Marineetat eine günstige Aufnahme im Parlament sichern. (ZParl, 31. Jg., H. 4, S. 775 ff.)
Kretschmer, Gerald: Das Diätenurteil des Bundesverfassungsgerichts (21. Juli 2000): Vom „fehlfinanzierten“ zum „fehlverstandenen“ Parlament?
Das Bundesverfassungsgericht hat am 21. Juli 2000 über die Abgeordnetengesetze in Thüringen und Rheinland-Pfalz entschieden. Damit wurde die Auseinandersetzung um die systemgerechte Finanzierung herausgehobener parlamentarischer Ämter in eine neue Phase geführt. Im thüringischen Fall hat das Gericht zusätzliche Diäten unmittelbar aus dem Staatshaushalt an stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktionen und Ausschussvorsitzende für verfassungswidrig erklärt. Diesen Amtsträgern hat es „eine politisch besonders herausgehobene parlamentarische Funktion“ abgesprochen. Ob diese Einschätzung indes mit den Realitäten in den modernen Volksvertretungen, insbesondere in den zahlenmäßig großen Parlamenten übereinstimmt, lässt sich bezweifeln – zum Beispiel durch ihren Vergleich mit den vom Gericht andererseits anerkannten Diätenanhebungen im Falle der Parlamentspräsidenten. Das Gericht sieht in den gestaffelten Diäten für die genannten Amtsträger nicht nur eine Gefährdung, sondern bereits eine Beeinträchtigung der freien und gleichwertigen Mandatsausübung. Ein solches Verständnis von innerparlamentarischen Hierarchien leitet die Wechselbeziehung der Abgeordneten untereinander eher aus Befehl und Gehorsam ab, als dass es deren nach Maßgabe eines politischen Zweckverbandes professionalisierte Interessenoptimierung in einer Strategie des „do ut des“ begründet sieht. Außerdem bleibt unklar, ob das Gericht seine maßstäbliche Darstellung der Parlamentsautonomie konsequent auf den ihm vorgelegten Streitfall angewendet hat. Falls die Grenze zwischen autonomer Regulierungsbefugnis und verbindlicher Mitsprache Außenstehender nicht strikt beachtet wird, entwickelt sich die Gefahr einer schleichenden und allmählichen Einengung des freien Handlungsraumes der Parlamente. (ZParl, 31. Jg., H. 4, S. 787 ff.)
Neumann, Heinzgeorg: Das berufliche Zeugnisverweigerungsrecht des Abgeordneten: eine Essentiale der Opposition.
Obgleich das berufliche Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten des Bundes und der Länder bei der Vernehmung von Abgeordneten durch parlamentarische Untersuchungsausschüsse von erheblicher politischer Bedeutung ist, haben die Verfassungsgerichte Streitigkeiten über seinen Umfang bis heute nicht entscheiden müssen. Dieses Recht ist eine Essentiale der Opposition. Denn insbesondere Fraktionen in der Opposition sind auf vertrauliche Informationen aus Staat und Wirtschaft angewiesen, wenn sie ihre primären Aufgaben wahrnehmen wollen. Zu klären sind auch die Folgen einer Verletzung dieses Statusrechtes der Abgeordneten und seine prozessuale Durchsetzung. (ZParl, 31. Jg., H. 4, S. 797 ff.)
Oertzen, Jürgen von: Gruppenanträge im Deutschen Bundestag: ein Reservat des einzelnen Abgeordneten.
Der Deutsche Bundestag ist geprägt von den meistens geschlossen auftretenden Fraktionen als handelnden Akteuren. Gelegentlich aber bringen einzelne Abgeordnete verschiedener Fraktionen Anträge ein. Die Untersuchung auch dieser Anträge erlaubt interessante Einblicke in den Routine-Ablauf der parlamentarischen Entscheidungsfindung. Nur bei bestimmten „Störungen“ des von Fraktionsdisziplin gekennzeichneten alltäglichen Prozesses kann es nämlich zu Gruppenanträgen kommen. Eine Typisierung und Analyse von 80 Gruppenanträgen zeigt, dass die Existenz fraktionsübergreifend betroffener Gruppen (zum Beispiel Frauen), die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Fraktionen, taktische Überlegungen der Fraktionsführungen sowie die (Un)Möglichkeit, einen sachlich sinnvollen Kompromiss zu finden, Auslöser für deren Zustandekommen werden können. Hingegen dient die allgemeine Bezeichnung fraktionsübergreifender Gruppenanträge als „Gewissensfrage“ eher der nachträglichen Begründung. Gruppenanträge finden in der Öffentlichkeit ein überwiegend positives Echo. (ZParl, 31. Jg., H. 4, S. 804 ff.)
Rölle, Daniel: Wahlprogramme: Richtschnur parlamentarischen Handelns.
Ist die prozentuale Häufigkeit der Thematisierung eines Politikfeldes im Wahlprogramm ein valider Indikator für die Häufigkeit der parlamentarischen Handlungen einer Partei in diesem Politikfeld? Dies wurde für vier Legislaturperioden (zwischen 1949 und 1990) sowohl für die Regierung(sfraktionen) als auch für die Oppositionsfraktionen am Beispiel des Themas Wohlfahrtsstaat untersucht. Es zeigt sich, dass Wahlprogramme verlässliche Indikatoren für das zukünftige wohlfahrtsstaatliche Handeln der Parteien im Bundestag darstellen. Mit Ausnahme der Regierungsfraktionen während der Großen Koalition haben die Parteien deutlich mehr wohlfahrtsrelevante parlamentarische Handlungen getätigt, als sie nach den Anteilen in ihren Wahlprogrammen versprachen. Die Ergebnisse können insgesamt die These einer geringen Relevanz der Wahlprogramme für das parlamentarische Handeln im politischen System der Bundesrepublik ebenso wenig stützen wie den Vorwurf, Parteien versprechen viel, halten aber wenig. (ZParl, 31. Jg., H. 4, S. 821 ff.)
Korte, Karl-Rudolf: Konjunkturen des Machtwechsels in Deutschland: Regeln für das Ende der Regierungsmacht?
Wann beginnt auf Bundesebene der Countdown des Machtwechsels? Wann setzt in Deutschland der Anfang vom Ende einer Regierungszeit ein? Die Vergleichsszenarien der Machtwechsel müssen vom systemisch bedingten Stabilitätsgebot ausgehen. Die geringe Intensität der Kanzlerwechsel ist eine Folge daraus. Auch die Arten des Wechsels mit ihrem Übergewicht von „systemimmanenten“, „dosierten“ beziehungsweise „selbsterneuernden“ gegenüber „kompletten“ Machtwechseln charakterisieren die zahlenmäßig geringen Konjunkturen des Machtwechsels. Die Zyklen und Rhythmen nach rund 16 Jahren erscheinen dagegen eher zufällig. Eine zeitliche Gesetzmäßigkeit ist angesichts der geringen Fallbeispiele nicht herauszuarbeiten. Hingegen sind die Bedingungsfaktoren sukzessiven Machtverlustes ermittelbar. Der Countdown zum Machtwechsel setzt ein, wenn (1) die politische Macht – vor allem Parteimacht – schwindet, (2) unüberwindbare Steuerungsverluste sichtbar werden, (3) öffentliche und veröffentlichte Meinung konstant Negativtrends verbreiten, (4) institutionelle Sklerosen mit individuellen Realitätseinbußen des Kanzlers zusammenfallen. (ZParl, 31. Jg., H. 4, S. 833 ff.)
Forkel, Sandra und Manfred Schwarzmeier: „Who’s doing you?“ Amerikas Weg in die „Consultant Democrary“.
Folgt man den Mythen, die sich um die Spindoctors, Kingmakers oder Election Wizards und ihre Macht ranken, so besteht kein Zweifel: Die Vereinigten Staaten sind auf dem Weg in die „Consultant Democracy“. Eine nüchterne Betrachtung der Rolle und Einflussposition von Political Consultants (PC) im Wahlkampf fördert hingegen ein differenziertes Bild zutage. Political Consultants sind überwiegend hochspezialisierte Fachleute, die ihre Klienten bei der modernen Wahlkampfführung beraten und dessen Organisation und Durchführung übernehmen. Neben den Wahlkampfstrategen, den Generalist Consultants, sind mindestens sechs Spezialisierungsrichtungen feststellbar. Charakteristika des politischen Systems und der amerikanischen Kultur sowie die Revolutionierung der Wahlkampftechnologie forcierten in den achtziger Jahren das Wachstum der PC-Industrie. Das jeweilige Maß an Einfluss, das ein Berater auf die Kampagne ausübt, hängt von vielen Faktoren ab. Nicht selten kommt es vor, dass sich im Verlauf eines Wahlkampfes ein enges Vertrauensverhältnis zwischen dem Kandidaten und dem Berater entwickelt, aber auch Kompetenzgerangel mit Kollegen und dem Parteiapparat sind an der Tagesordnung. Der Boom der PC-Branche forciert allerdings auch jene kritische Stimmen, die nachdrücklich vor einer demokratisch nicht legitimierten Herrschaft der Berater warnen, vor einer weiteren Trivialisierung, Verlängerung und Verteuerung der Wahlkämpfe, vor der Entleerung der Wahlfunktion wie vor der Erosion demokratischer Parteien überhaupt. (ZParl, 31. Jg., H. 4, S. 856 ff.)
Becker, Bernd: Tony Blair in No 10 Downing Street und die Probleme, Politik als Produkt zu verkaufen.
Die ersten dreieinhalb Jahre der Regierung Blair sind vorüber, dahin ist Blairs Reputation als politischer Wunderknabe, dem alles gelinge und der deshalb als Vorbild für die übrige europäische Sozialdemokratie zu gelten habe. Vor allem die Zentralisierung der Medien- und Öffentlichkeitsarbeit in No 10 haben jenes Bild vonBlairund seinem Regierungsstil vermittelt, dem der Vorwurf gemacht wird, Blair und seine Mannschaft seien „control freaks“, Image-Manipulateure, die jede öffentliche Wirkung überwachen und steuern würden. In der Tat hat sich bislang keine britische Regierung so sehr wie diese von der öffentlichen Meinung leiten lassen – das zeigt ihre Arbeit mit so genannten Fokusgruppen, aber auch der hohe Stellenwert der Presseabteilung innerhalb der internen Organisation von No 10 Downing Street. Beim Versuch, permanent unter Wahlkampfbedingungen und den dort erprobten Mechanismen Politik zu konzipieren, umzusetzen und als Ware zu verkaufen, ist Blairan demokratisch aufschlussreiche Grenzen gestoßen. Die Frage nach der richtigen Mischung konkreter und virtueller Politik rückt damit ins Zentrum der Überlegungen der britischen Regierungszentrale am Vorabend der im Frühsommer 2001 anstehenden Unterhauswahlen. (ZParl, 31. Jg., H. 4, S. 871 ff.)
Buchstein, Hubertus: Präsenzwahl, Briefwahl, Onlinewahl und der Grundsatz der geheimen Stimmabgabe.
In verschiedenen westlichen Demokratien werden derzeit eine Reihe von Experimenten unternommen, wie sich politische Wahlen und Abstimmungen per Online technisch am besten durchführen lassen. Die Vor- und Nachteile von Computerwahlen werden im deutschen Kontext gegeneinander abgewogen – insbesondere mit Bezug auf den Wahlrechtsgrundsatz der „geheimen“ Wahl. Im Zentrum der demokratiepraktischen Prüfung steht die These der Verfechter von Computerwahlen, dass es sich bei Onlinewahlen um eine Art technische Weiterentwicklung der Briefwahl handele. Die flächendeckende Einführung von Onlinewahlen bedeutet faktisch den Übergang von der obligatorischen zur fakultativen Geheimwahl. Vor dem Hintergrund der bisherigen verfassungsrechtlichen Debatte in der Bundesrepublik sind Onlinewahlen daher nicht akzeptabel. (ZParl, 31. Jg., H. 4, S. 886 ff.)
Zittel, Thomas: Elektronische Demokratie: ein Demokratietypus der Zukunft?
Entwicklungen in der Telekommunikationstechnik haben eine neue Phase der Debatte um Demokratie eingeleitet. Im Konzept der Elektronischen Demokratie deutet sich ein Reformprogramm an, das Formen partizipativer Demokratie durch den Einsatz neuer digitaler Medien wie dem Internet proklamiert. Die Forderung nach mehr Zugang zu öffentlichen Informationen und Debatten sowie nach einem intensivierten elektronischen Dialog zwischen Parlament und Öffentlichkeit sind Teil dieser Reformagenda. Im Widerspruch zu vorherrschenden Positionen in der Debatte um Elektronische Demokratie, die die systemaffirmative, marginale Natur solcher Reformschritte betonen, sind weiter gehende, demokratietheoretisch grundsätzliche Implikationen zu erwarten. Daher sind die Chancen und Bedingungen der Umsetzung entsprechender Reformagenden sorgfältig zu prüfen. Die schriftliche Befragung zur Nutzung des Internet zwecks politischer Kommunikation unter Abgeordneten im US-Repräsentantenhaus demonstriert weit gehende Unterschiede zwischen „Innovatoren“, „vorsichtigen Adaptoren“ und „Nachzüglern“. Die Analyse dieser Unterschiede zeigt, dass die technische Entwicklung des Wahlkreises, dessen ökonomische Struktur, persönliche Faktoren und institutionelle Bestimmungsgründe das Nutzungsverhalten der Entscheidungsträger bestimmen. Die technische Verbreitung des Internets, die Ausbildung einer „Internetökonomie“ sowie Generationenwandel sind Bestimmungsgründe zukünftiger Demokratiereformen. Die Wirkung institutioneller Faktoren zeigt jedoch, dass die Entwicklung von Demokratie in der Informationsgesellschaft nicht ausschließlich technischen Imperativen unterworfen sein wird. (ZParl, 31. Jg., H. 4, S. 903 ff.)
Lösche, Peter: Der Bundestag: kein „trauriges“, kein „ohnmächtiges“ Parlament.
Manche Politik- und Sozialwissenschaftler, aber auch viele Parlamentarier unterschätzen die Bedeutung des Bundestages in der deutschen Verfassungswirklichkeit. Geht man den Fragen nach „What is the Bundestag for?“, „Does the Bundestag matter?“, so lautet die empirische Antwort allen Populismen zum Trotz: Dieses Verfassungsorgan ist wichtiger Akteur im deutschen politischen System, wenn auch nicht – wie der amerikanische Kongress – Legislateur. Aber: Der Bundestag mit seinen Fraktionen und Ausschüssen, seinen Fachleuten und den einfachen Hinterbänklern regiert mit, ist Mit-Gesetzgeber, Kontrolleur der Regierung. Seine große politische Relevanz zeigt sich darin, dass er institutionell den Ort, ja den Fokus und Knotenpunkt offeriert, an dem formelle und informelle Politiknetzwerke geknüpft und miteinander verbunden werden. Ferner fungiert der Bundestag in seinen Parlamentsparteien und Ausschüssen sowie aufgrund der Wahlkreisarbeit seiner Mitglieder als Vermittler zwischen Gesellschaft und politisch-administrativem System. Er übernimmt damit teilweise jene Mediatisierungsfunktion, deren die Parteien angesichts ihres Strukturwandels verlustig zu gehen drohen. (ZParl, 31. Jg., H. 4, S. 926 ff.)