Kranenpohl, Uwe: Konsens im Konflikt? Inter- und überfraktionelle Initiativen im Deutschen Bundestag.
Die Gesamtheit der formalen überfraktionellen Kooperation im Deutschen Bundestag seit 1949 umfasst schätzungsweise vier Prozent aller aus dem Bundestag eingebrachten Drucksachen. Dabei sind allerdings Formen der Zusammenarbeit von Parlamentsmehrheit und Opposition auf Fraktionsebene von Gruppeninitiativen zu unterscheiden. Im Zeitverlauf zeigen sich deutliche quantitative Verschiebungen, die sich einerseits auf die Existenz parlamentarischer Außenseiter und das Ausmaß von Konflikten zwischen den Fraktionen zurückführen lassen, andererseits auf die parteipolitische ,Aufladung’ anstehender Probleme und wohl auch auf politisch-kulturelle Entwicklungen. Oft diente die Zusammenarbeit zudem der Überbrückung von Regelungslücken der Geschäftsordnung. Die inter- und überfraktionelle Zusammenarbeit konzentrierte sich thematisch auf die Außenpolitik, Fragen der Selbstorganisation des Bundestages und die Bearbeitung der Folgen von Krieg, Diktatur und Teilung Deutschlands. Schwerpunkt der Gruppeninitiativen bilden (noch) nicht parteipolitisch politisierte Themen wie humanitäre Aspekte der Außenpolitik oder bis zu den siebziger Jahren auch die Umweltpolitik. Seit den achtziger Jahren dienen Gruppeninitiativen zunehmend auch der parlamentarische Bearbeitung von Konflikten, die quer zu den parteipolitischen Fronten liegen. (ZParl, 32. Jg., H. 4, S. 733 ff.)
Röper, Erich: Pflicht des Parlaments zur Nothaushaltsgesetzgebung.
Das so genannte Nothaushaltsrecht, etwa nach Art. 111 GG, ist tatsächlich ein Notausgaberecht der Exekutive. Sie soll in einer haushaltslosen Zeit die gesetzlichen Einrichtungen erhalten, Rechtsverpflichtungen erfüllen, begonnene Bau- und Beschaffungsmaßnahmen fortsetzen können. Dem eng auszulegenden Notausgaberecht ordnet der Bremische Staatsgerichtshof die Pflicht des Parlaments zur Verabschiedung eines Nothaushaltgesetzes zu, wenn das reguläre Haushaltsgesetz nicht rechtzeitig verabschiedet werden kann. Als Teil der Staatsleitung muss das Parlament dafür Sorge tragen, dass den öffentlichen Einnahmen und vor allem den Ausgaben ein zumindest rudimentärer Etat zugrunde liegt. (ZParl, 32. Jg., H. 4, S. 758 ff.)
Wiefelspütz, Dieter: Diäten für Abgeordnete – eine unendliche Geschichte? Plädoyer für eine Indexierung der Abgeordnetenentschädigung.
Nach Art. 48 Abs. 3 Satz 1 GG haben Abgeordnete Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung. Nach Satz 3 dieser Vorschrift regelt das Nähere ein Bundesgesetz. Der praktische Umgang des Bundestages mit diesen einfachen, überzeugenden Sätzen des Grundgesetzes stellt eine offenbar nicht versiegende Quelle für veröffentlichten Unmut, für Streit, Häme, Neid und Vorurteil dar. Im vergangenen Jahrzehnt ist zweimal der Versuch unternommen worden, durch eine Änderung des Art. 48 GG die quälende, sich beinahe jährlich wiederholende, dem Ansehen von Politik und Politikern abträgliche Diskussion über die Anhebung der Diäten für Bundestagsabgeordnete zu meiden. Der erste Versuch fand nicht die erforderliche Mehrheit. Der zweite Versuch endete in einem Desaster. Ein dritter Versuch sollte erfolgreich sein. Wiefelspützerörtert die beiden überzeugendsten Problemlösungen, die sich dem Bundestag anbieten: die verbindlich entscheidende Diätenkommission und die Indexierung der Abgeordnetenentschädigung. (ZParl, 32. Jg., H. 4, S. 765 ff.)
Becker, Joachim: Zumutungen der Macht: Die Mühsal der parteipolitischen Ebene.
Joachim Becker, ein kommunaler Praktiker, von 1985 bis 2001 Oberbürgermeister der Stadt Pforzheim, schildert seine persönlichen Erfahrungen im Umgang mit den örtlichen Parteien. Die Entwicklung zur Mediengesellschaft mit politischen Stars und einer um sich greifenden Eventkultur hat die Substanz der politischen Arbeit vor Ort ausgehöhlt. Dennoch ist diese mühselige und manchmal sinnlose Parteiarbeit wichtig – als Erfahrungsraum für heranwachsendes Führungspersonal, als mediales Spiegelbild politischer Gruppierungen und als Instrument traditioneller Wahlkämpfe. Das Unvermögen unserer Gesellschaft zu intellektueller Anstrengung bildet sich ab in den neuen Schwerpunkten der Parteiarbeit vor Ort als Netzwerke der Unterhaltung und der Belustigung: Radfahrausflüge, Kulturausfahrten, Wanderungen, Bier- und Bratwurstfeste, Kinder- und Seniorenfestivitäten. Dieses Entertainment verstellt den Blick der Bürgerinnen und Bürger auf die Bedeutung der politischen Parteien, die als Mandatsträger diesen Staat und seine Körperschaften führen und zu leiten haben. Derlei aber will der „normale“ Bürger überhaupt nicht hören. Irrationalismus und Aggressionen, erzwungene Unaufrichtigkeiten und Egoismus bedrohen unsere politische Ordnung. Sie haben ihre Rückwirkung auf die Mandatsträger, insofern sie mitverantwortlich sind für deren Deformationen aus ihrem Beruf als Berufspolitiker – ein gefährliches System, das Wähler und Gewählte miteinander verbindet. (ZParl, 32. Jg., H. 4, S. 784 ff.)
Kaina, Viktoria: Zumutungen der Macht: Möglichkeiten und Grenzen politischer Führung.
In den etablierten repräsentativen Demokratien der Gegenwart unterliegen die Handlungsspielräume von Politikern vielfältigen Einschränkungen, die aus einem komplexen Entwicklungsprozess der Postmoderne rühren. Daraus resultierende Herausforderungen für die Substanz und Reichweite professioneller Politik verbinden sich in der Bundesrepublik zusätzlich mit den Anforderungen der deutschen Einheit und den spezifischen Funktionsbedingungen des politischen Systems. Nach den Daten der „Potsdamer Elitestudie 1995“ nehmen die Politikeliten des vereinten Deutschlands Schwierigkeiten für ihre Handlungsfähigkeit auch selbst wahr, indem vor allem Zeitmangel und begrenzte Handlungsspielräume als ernsthafte Probleme von Politikern thematisiert werden. Allerdings empfinden nicht alle Befragten im selben Ausmaß verschiedene Belastungen als Herausforderung. Vielmehr variiert die Betonung einzelner Problemkonstellationen auch in Abhängigkeit konstitutioneller und institutioneller Strukturbedingungen des politischen Systems der Bundesrepublik. Insgesamt spiegeln sich in den subjektiven Einschätzungen der politischen Elite im vereinten Deutschland die schwierigen Bedingungen politischer Prozesse in modernen Demokratien deutlich wider. Das bedeutet zugleich, dass Politiker die Effektivität ihres Handelns auch in eigener Wahrnehmung bedroht sehen. Gemessen an den Problemeinschätzungen der befragten Politikeliten ist politische Führung dennoch grundsätzlich und immer noch möglich. Gleichwohl sind die Handlungsressourcen politischer Eliten begrenzt und außerordentlich belastet. (ZParl, 32. Jg., H. 4, S. 794 ff.)
Reuband, Karl-Heinz: Politische Ignoranz und vorgetäuschtes Wissen. Über die Bewertung von Politikern in allgemeinen Bevölkerungsumfragen.
Soziale Erwünschtheitseffekte führen dazu, dass sich in Umfragen ein Teil der Befragten auch zu Themen äußert, zu denen sie sich nicht äußern können. Auf der Grundlage einer repräsentativ angelegten telefonischen Befragung der deutschen Wohnbevölkerung in Düsseldorf (N = 280) wird gezeigt, dass bis zu einem Fünftel der Befragten auch fiktive Landespolitiker bewerten. Die durchschnittliche Einstufung ähnelt dabei der Bewertung, die für reale Politiker typisch ist. Durch den Kreis der Befragten, die fiktive Politiker bewerten, bedingt, wird in Umfragen eine höhere Kenntnis von Politikern ausgewiesen, als sie tatsächlich gegeben ist. Methodisch folgt aus den Befunden, dass es in Umfragen sinnvoll ist, bei komplexen politischen Themen das Eingeständnis von Unkenntnis zu ermuntern beziehungsweise die Kenntnisse der Befragten eingehender zu bestimmen. (ZParl, 32. Jg., H. 4, S. 812 ff.)
Handrich, Lars und Ute Roericht: Wahlprognosen mit Wahlbörsen. Das Berliner Beispiel 1999.
Wahlbörsen wurden bisher vor allem unter wirtschaftswissenschaftlichen Aspekten veranstaltet und betrachtet. Sie sind ein kostengünstiges Mittel der Wahlprognose und verdienen stärkere Beachtung in der Wahlforschung. Anhand der Wahlbörse zu den Abgeordnetenhauswahlen 1999 in Berlin werden Aufbau und Funktionsweise von Wahlbörsen dargestellt. Während mit Umfragen versucht wird, ein für die Gesamtbevölkerung repräsentatives Bild zu zeichnen, funktionieren Wahlbörsen heute durch den Austausch von Erwartungen über das wahrscheinliche Wahlverhalten der Bevölkerung anhand des Internets. Die Prognosegüte der Berliner Wahlbörse ist der herkömmlicher Umfragen vergleichbar beziehungsweise überlegen. Im Gegensatz zu Umfragen ist zudem die kontinuierliche Beobachtung der Veränderung der öffentlichen Meinung im Vorfeld von Wahlen möglich. Kritiken, dass die Kurse der Wahlbörsen allein Umfragen folgen, können nicht bestätigt werden. Der Erfolg von Wahlbörsen lässt sich weiter erhöhen, wenn zusätzliche Anreize für rationales Handeln geschaffen werden. (ZParl, 32. Jg., H. 4, S. 822 ff.)
Horst, Patrick: Totgesagte leben häufig länger, manchmal lange. Zu den Überlebenschancen der Grünen vor dem koalitionspolitischen Erfahrungshintergrund der FDP.
Prominente Prognostiker sagen den Grünen für die Bundestagswahl 2002 das Ende ihrer Regierungsbeteiligung oder gar das Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde voraus. Sie stützen sich auf Diagnosen mangelnder Professionalität des kleinen Koalitionspartners (schwache Strategiefähigkeit, Identitätsschwäche, schlechtes Kommunikationsmanagement) und einer Folge von Stimmenverlusten bei Landtagswahlen. Gegen diese Begründungskette sprechen historisch-komparative Argumente: Der grünen „Erfolgsgeschichte“ seit Ende der 1970er Jahre lässt sich ein Zusammenhang zwischen diagnostizierter Unprofessionalität und elektoralem Scheitern nicht entnehmen; die Verankerung der Grünen in den Parlamenten und Regierungen der westdeutschen Länder hat sich von derartigen Unkenrufen relativ unbeeindruckt gezeigt. Auch zeigen die Erfahrungen der FDP als kleiner Koalitionspartner im Bund, dass von Niederlagenserien bei Landtagswahlen nicht automatisch auf eine Niederlage bei der folgenden Bundestagswahl geschlossen werden kann. Die Vorhersagen des bevorstehenden Untergangs der Grünen erscheinen deshalb wissenschaftlich leichtfertig. (ZParl, 32. Jg., H. 4, S. 841 ff.)
Wagschal, Uwe: Der Parteienstaat der Bundesrepublik Deutschland. Parteipolitische Zusammensetzung seiner Schlüsselinstitutionen.
Dokumentiert wird die parteipolitische Zusammensetzung der zentralen politischen Entscheidungsorgane in Deutschland von 1949 bis Ende 2000, die sowohl auf der Bundes- als auch auf der Landesebene anhand unterschiedlicher Indikatoren (zum Beispiel Anteil der Kabinettssitze, Dauer und Stärke) untersucht wird. Neben den Bundes- und Landesregierungen werden der Bundestag, der Bundesrat, der Vermittlungsausschuss, die Bundesbank, das Bundesverfassungsgericht sowie das Amt des Bundespräsidenten untersucht. Dabei wird analysiert, wann und wie stark gegenläufige Mehrheiten in den einzelnen Institutionen zum zentralen Entscheidungsorgan Bundesregierung vorherrschten. Ziel ist es also, die parteipolitischen Machtverhältnisse in den Schlüsselinstitutionen Deutschlands darzustellen und zu zeigen, ob und wann es potenzielle Widerlager gab. Viele der präsentierten Informationen und Zahlen sprechen für die These eines „Staates der Großen Koalition“. Darin spiegelt sich das strukturelle Erfordernis der informellen Zusammenarbeit zwischen beiden politischen Lagern. Im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss war man überwiegend auf Zusammenarbeit angewiesen, der Zentralbankrat war ebenfalls meistens nicht von einer Partei dominiert, und auch im Bundesverfassungsgericht gab es in keinem Senat eindeutige „Parteimehrheiten“. Bemerkenswert ist zudem ein Trend zum gegenläufigen Wahlverhalten auf der Bundesländerebene. (ZParl, 32. Jg., H. 4, S. 861 ff.)