Abstracts 4/2006 deutsch

Weisensee, Hanne: Zukunftskonzept ohne Parlamente? Die AG „Global Governance“ in der Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft“ des Deutschen Bundestags.
In Deutschland hatten die wissenschaftlichen Vordenker von Global Governance die einmalige Chance, ihre Konzepte in einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags direkt mit Politikern zu diskutieren. Unter dem Titel „Globalisierung der Weltwirtschaft“ bearbeitete die Enquete-Kommission in den Jahren 2000 bis 2002 unter anderem auch dieses Thema sehr intensiv. Auf diesem Weg hätten Verbündete aus der Praxis gewonnen werden können, um der Idee von Global Governance eine Wirkungsentfaltung über die Wissenschaft hinaus zu sichern. Aus heutiger Sicht muss die Frage gestellt werden, warum dies nicht gelungen ist: Liegt es an der geringen Bereitschaft der Politik, das eingebrachte wissenschaftliche Know-how umfassend zur Kenntnis zu nehmen? Oder sind die Leerstellen, etwa das Parlament oder die Opposition, die bereits in der Grundkonzeption von Global Governance angelegt sind, dafür verantwortlich? [ZParl, 37. Jg., H. 4, S. 669 ff.]

Marschall, Stefan: Neoparlamentarische Demokratie jenseits des Nationalstaates? Transnationale Versammlungen in internationalen Organisationen.
Prozesse der Europäisierung und Globalisierung haben die Demokratiefrage neu aufgeworfen. Für ihre Beantwortung wird in der Europäischen Union auf die Legitimation durch parlamentarische Körperschaften gesetzt, wenn über die Stärkung nationaler Parlamente oder des Europäischen Parlaments nachgedacht wird. Eine Übertragung des parlamentarischen Prinzips auf die Ebene internationaler Politik scheint gleichwohl sperriger. Aber auch hier gibt es in Form der „Transnationalen“ oder „Parlamentarischen Versammlungen“ Körperschaften, die das parlamentarische Prinzip jenseits des Nationalstaates aufgreifen. Diese Versammlungen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten weltweit ausgebreitet und sind unterschiedlich eng an internationale Organisationen angebunden. Ein Blick auf die Zusammensetzung, Arbeitsweise, Strukturen und Funktionen der Versammlungen von Europarat, NATO, OSZE und WEU macht deutlich, dass in diesen Versammlungen – wenn auch begrenzte – Potenziale liegen, ein „Mehr“ an Demokratie jenseits des Nationalstaates herzustellen. Aufgrund ihrer neuen Eigenschaften und Funktionen kann von „neoparlamentarischen“ Körperschaften gesprochen werden. [ZParl, 37. Jg., H. 4, S. 683 ff.]

Habegger, Beat: Die Parlamentarisierung der UNO durch die Interparlamentarische Union.
Der Trend zur Parlamentarisierung der internationalen Politik ist unübersehbar: Interparlamentarische Institutionen, die bisher kaum im Rampenlicht der Öffentlichkeit standen, sind zu attraktiven politischen Foren geworden. Verantwortlich dafür ist die zunehmende Verlagerung der politischen Entscheidungsfindung auf die internationale Ebene. Viele Sachfragen besitzen heute eine internationale Dimension und lassen sich nur noch im Verbund mit anderen Staaten und internationalen Organisationen lösen. Mit dem Interparlamentarismus ist deshalb eine doppelte Erwartung verbunden: Er soll Parlamentarier für den Verlust an politischem Einfluss kompensieren und Demokratiedefizite von internationalen Organisationen auffangen. Die noch in den Anfängen steckende Parlamentarisierung der UNO weist bis heute keine parlamentarische Dimension auf, auch wenn sie der Integration von nationalen Parlamenten seit einiger Zeit mehr Priorität beimisst. Zur engeren Verbindung von UNO und nationalen Parlamenten hat primär die Interparlamentarische Union (IPU) beigetragen. Bisherige Leistungen der IPU lassen sich konstatieren, aber auch Gründe für noch fehlende Parlamentarisierungsschritte. [ZParl, 37. Jg., H. 4, S. 698 ff.]

Mittag, Jürgen: Wegmarke für die Parlamentarisierung der Europäischen Union: Die finanziellen Neuregelungen des europäischen Abgeordnetenstatuts.
Die Diätenzahlungen und Aufwandsentschädigungen für die Abgeordneten des Europäischen Parlaments waren jahrzehntelang Gegenstand politischer Debatten. Den Höhepunkt stellte die im Kontext des Europawahlkampfs 2004 vor allem in Deutschland zwischen Teilen der Medien und dem Europäischen Parlament geführte Kontroverse über Höhe und Modalitäten der finanziellen Zuwendungen an die Mitglieder des Parlaments dar. Mit dem im Juni 2005 verabschiedeten europäischen Abgeordnetenstatut wurde diese Auseinandersetzung zumindest vorläufig beendet und erstmals eine (weitgehend) einheitliche Regelung vereinbart. Die bislang an nationalstaatliche Bestimmungen gekoppelte Höhe der Diäten wird mit Wirkung von 2009 an – unter Berücksichtigung von Übergangsfristen – durch eine EU-weite Regelung ersetzt. Zugleich werden beträchtliche Präzisierungen hinsichtlich der weiteren Transferleistungen an die Parlamentarier vorgenommen. [ZParl, 37. Jg., H. 4, S. 713 ff.]


Pütz, Christine
: Schwache Parteien in Frankreich? Eine Neubewertung der V. Republik.
Die französischen Parteien werden traditionell als besonders schwach angesehen. Neben historischen Gründen steht vor allem die direkte Präsidentschaftswahl in der V. Republik im Zentrum der Erklärungsversuche. Die These einer Präsidentialisierung der Parteien beruht allerdings auf einem reduzierten Institutionenverständnis. Eine differenzierte, dem neo-institutionalistischen Ansatz folgende Analyse erlaubt eine neue Sicht. Im Kontext der parlamentarischen Abberufbarkeit der Regierung wirkt sich die direkte Präsidentschaftswahl nicht schwächend auf die Parteien aus. Vielmehr sind die Präsidentschaftskandidaturen prinzipiell an den Parteivorsitz geknüpft und parteiabhängig. Der Präsident der V. Republik ist auf seine Partei nicht nur hinsichtlich der Ausübung, sondern auch der Erreichung des Amtes angewiesen. Die Systemfunktionen der französischen Parteien haben sich (daher) denen von Parteien in anderen parlamentarischen Regierungssystemen angeglichen. [ZParl, 37. Jg., H. 4, S. 728 ff.]

Köppl, Stefan: Machtwechsel um Haaresbreite: Die Parlamentswahlen in Italien vom 9./10. April 2006.
Die italienischen Parlamentswahlen vom 9./10. April 2006 brachten einen überraschend hauchdünnen Sieg des Mitte-Links-Bündnisses unter Führung Romano Prodis und die Abwahl der Mitte-Rechts-Regierung. Erneut erwiesen sich Wahlrecht und Bündnisbildung als entscheidende Faktoren für den Wahlausgang. Zum ersten Mal wurde nach dem neuen, noch von der Regierung Silvio Berlusconiverabschiedeten Wahlrecht gewählt und zum ersten Mal traten die beiden Bündnisse vollständig gegeneinander an. Trotz des knappen Wahlergebnisses auf nationaler Ebene zeigen sich bei näherer Betrachtung deutliche Unterschiede in den verschiedenen Regionen und Altersgruppen. Die Größenverhältnisse zwischen beiden Lagern blieben weitgehend konstant, während es innerhalb der Lager bedeutende Gewichtsverschiebungen gab. Trotz knapper Mehrheitsverhältnisse und großer Heterogenität der Mitte-Links-Koalition gelang Romano Prodi eine rasche Regierungsbildung. [ZParl, 37. Jg., H. 4, S. 746 ff.]

Pfeil, Florian: Regierungswechsel in der Hochburg der Sozialdemokratie: Die Wahlen zum Schwedischen Reichstag vom 17. September 2006.
Schweden war lange Zeit eine Hochburg der Sozialdemokratie. Daher erschien der Wahlsieg der bürgerlichen Allianz unter dem konservativen neuen MinisterpräsidentenFredrik Reinfeldt bei den Reichstagswahlen 2006 – gerade vor dem Hintergrund einer guten wirtschaftlichen Entwicklung des Landes – als Überraschung. Tatsächlich ist der Regierungswechsel jedoch die logische Konsequenz aus gravierenden Verschleißerscheinungen der bisherigen sozialdemokratischen Minderheitsregierung einerseits und einer deutlich an Tony Blair und New Labour orientierten modernen Wahlkampfstrategie der damaligen bürgerlichen Opposition andererseits. Diese Strategie wurde von einer inhaltlichen Neuausrichtung insbesondere der konservativen Moderaten unterstützt. Die schwedischen Sozialdemokraten verloren 4,9 Prozentpunkte (von 39,9 auf 35 Prozent der Stimmen). Dieses desaströse Ergebnis stellt ihren Charakter als dominante Partei Schwedens in Frage. Zudem fehlt der Partei nach dem für 2007 angekündigten Abgang Göran Perssons und der Ermordung seiner designierten Nachfolgerin Anna Lindh 2003 ein naheliegender Nachfolger. [ZParl, 37. Jg., H. 4, S. 763 ff.]

Gilka-Bötzow, Agnes und Sabine Kropp: Institutionenentwicklung in Russland und der Ukraine: Vertikale Machtverteilung als Triebfeder.
Die politischen Systeme Russlands und der Ukraine sind in hohem Maße von informaler Politik geprägt. Beide Länder weisen zahlreiche Ähnlichkeiten auf, unterscheiden sich aber in der Kompetenzausstattung der regionalen Ebene. Dennoch fällt in beiden Systemen im Verhältnis zwischen Zentrum und Regionen der Einfluss vertikaler Seilschaften und klientelistischer Netzwerke auf. Dabei dominieren informale Techniken über formale Institutionen vor allem, um Handlungsunsicherheiten im politischen Alltag zu reduzieren. Allerdings werden die informalen Strukturen nicht nur genutzt, um die formale politische Ordnung zu stützen, sondern auch, um sie gegebenenfalls zu beschädigen, wenn Netzwerke und Seilschaften nutzbringender zu sein scheinen. Da beide politischen Systeme im Kern einen instrumentellen Umgang mit der politischen Ordnung und verfestigte informale Techniken tragen, muss gefragt werden, ob diese Entwicklung postsowjetisch „kulturell“ bedingt ist, also als Pfadabhängigkeit beschrieben werden kann, und ob institutionelle Anreize geschaffen werden können, diesen instrumentellen Umgang mit der politischen Ordnung in andere Bahnen zu lenken. [ZParl, 37. Jg., H. 4, S. 778 ff.]

Sturm, Roland: Regieren in Großbritannien. Die aktuelle Debatte zum Verständnis des Westminster-Modells.
Die britische Debatte zum Regieren im Vereinigten Königreich hat in vielerlei Hinsicht zur Revision beziehungsweise Anpassung von Grundannahmen bezüglich der Funktionsweise des Westminister-Modells geführt. Faktoren wie die Entgrenzung dessen, was traditionell als „politisches System“ bezeichnet wurde, die (vermeintliche?) Entdeckung einer „Entkernung“ des politischen Entscheidungszentrums in Whitehall ebenso wie die Europäisierung der Staatstätigkeit scheinen darauf hinzudeuten, dass das Land sich weit von der Denkfigur der „Parlamentssouveränität“ entfernt hat. Für die britische Politikwissenschaft bedeutet dies unter anderem, dass konstruktivistische Ansätze an Bedeutung gewonnen haben. Diese sind aber nicht konkurrenzlos. Nicht nur wegen der von der historischen Verfassungsinterpretation immer wieder betonten Flexibilität britischer Verfassungskonventionen, sondern auch aus handfesten empirischen Gründen lässt sich das britische Regierungssystem als keineswegs „entmachtete“ Premierministerregierung (einige Autoren sehen hier gar präsidentielle Züge) interpretieren. Und auch der Wandel der Staatlichkeit von der Gesetzessteuerung hin zur größeren Rolle der politischen Regulierung und der Entscheidung in Netzwerken macht deutlich, dass die Diskussion um die Verbindlichkeit des Westminster-Modells noch nicht zu Ende ist. [ZParl, 37. Jg., H. 4, S. 795 ff.]

Schmidt, Manfred G.: Die Zukunft der Demokratie.
Ein Blick auf die Zukunft der Demokratie fällt ambivalent aus. So nahm einerseits die Zahl demokratischer Staaten seit den 1970er Jahren stark zu, besiegelte das Ende des Ost-West-Konflikts ihre außenpolitische Feindlosigkeit und wuchsen mit steigendem internationalen Wohlstand auch die Chancen weiterer Demokratisierungserfolge. Andererseits bleiben Demokratien weiterhin eine Minderheit in der internationalen Staatenwelt, taten sich mit dem 11. September 2001 neue Bedrohungsszenarien auf und zeitigten die Ergebnisse der dritten und vierten Demokratisierungswelle keineswegs eindeutige Erfolge. Angesichts gegenwärtiger Herausforderungen – wie das mittelfristig stabile Globalisierungs-Demokratie-Dilemma, die mangelnde Zukunftsverantwortlichkeit demokratischer Systeme und ihre verminderte Fähigkeit zur Fehlerkorrektur, schwindende Ressourcen zur Rekrutierung kompetenten politischen Personals und das Hobbessche Problem der Unbeständigkeit der Zahl – muss eine fundierte Prognose der Zukunftschancen der Demokratie sowohl die funktionellen Vor- als auch Nachteile der Demokratie berücksichtigen. Ein skeptischer Optimismus ist angebracht. [ZParl, 37. Jg., H. 4, S. 812 ff.]

Hüller, Thorsten: Herrschaft des Quorums? Ein Vorschlag zur Lösung eines Problems direkter Demokratie.
Zustimmungs- und Beteiligungsquoren sind umstrittene Bestandteile direkt-demokratischer Institutionen – zumindest in Deutschland. Ein modifiziertes Quorum sollte gegenüber den herkömmlichen Varianten wie gegenüber einem Verzicht auf Quoren vorgezogen werden. Ein solches anti-proportionales Beteiligungsquorum, dessen Höhe mit dem Maß an Zustimmung variiert, vermag, allen bekannten Einwänden der Gegner solcher Hürden gerecht zu werden. Insbesondere erweist es sich als hilfreich, politische Gleichheit in Verfahren direkter Demokratie zu realisieren. [ZParl, 37. Jg., H. 4, S. 823 ff.]

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