Niedermayer, Oskar: Die Wahl zum Europäischen Parlament vom 7. Juni 2009 in Deutschland: SPD-Debakel im Vorfeld der Bundestagswahl.
Die Europawahl war für alle Parteien strategisch eine Zwischenstation auf dem Weg zur wenige Monate danach stattfindenden Bundestagswahl. Eine Auseinandersetzung um europapolitische Themen fand kaum statt. Die SPD versuchte die eigene Klientel durch ein neoliberales Feindbild zu mobilisieren und profilierte sich als Nothelfer für vom Jobverlust bedrohte Arbeitnehmer. Die CDU führte einen relativ inhaltsleeren, in der Schlussphase deutlich auf die Person der Kanzlerin ausgerichteten Wahlkampf, die CSU betonte die Interessen Bayerns. Die FDP betrieb eine konsequente Personalisierung mit ihrer Spitzenkandidatin und empfahl sich als wirtschaftsliberale Kraft und die Grünen signalisierten eine Verbindung ihrer umweltpolitischen Kernkompetenz mit wirtschafts- und sozialpolitischer Kompetenz. Der durch Antimilitarismus und das konsequente Eintreten für soziale Gerechtigkeit bestimmte Wahlkampf der Linken wurde durch parteiinterne Streitigkeiten überschattet. Die wiederum durch eine sehr niedrige Beteiligung charakterisiert Wahl bescherte der SPD ein Debakel, während die Union ihre Vormachtstellung untermauern konnte, wobei die CSU mit ihrem guten Abschneiden in Bayern deutlich zum Gesamtergebnis beitrug. Die drei kleinen Parteien gewannen hinzu, wobei die Grünen ihren Spitzenplatz gegenüber der FDP knapp behaupten konnten. Gesamteuropäisch zählten die nach der Wahl getrennte Fraktionen bildenden Christdemokraten und Konservativen sowie die Grünen zu den Gewinnern, die Liberalen und Linken erlitten leichte Verluste. Auch die Sozialdemokraten mussten eine Niederlage hinnehmen, was jedoch wohl nicht zu einer Änderung der bisherigen „informellen Großen Koalition“ im Europäischen Parlament führt. [ZParl, 40. Jg., H. 4, S. 711 ff.]
Brosius-Linke, René: Der Europaausschuss der 16. Wahlperiode: starke Struktur, unambitioniert in eigenen Rechten.
Dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist tiefe Skepsis zu entnehmen, dass der Gesetzgeber seine gebotene Mitwirkung im Bereich der Europäischen Union umfassend wahrnimmt. Der Verfasser legt anhand von Fallbeispielen dar, dass diese Skepsis nicht völlig unberechtigt war. Sowohl im sekundärrechtlichen Bereich als auch im Bereich von Primärrechtsänderungen konnte der Europaausschuss nicht überzeugend Rechte des Gesamtorgans durchsetzen. Das Verfassungsgericht löst dieses Strukturproblem durch partielle Befassungspflichten, insbesondere bei Rechtsakten mit dem Charakter von Hoheitsübertragungen. Der Verfasser empfiehlt dieses Instrument auch auf weitere Politikbereiche auszuweiten. [ZParl, 40. Jg., H. 4, S. 731 ff.]
Wimmel, Andreas: Neue (alte) Konfliktlinien in der Europapolitik: Die Parlamentsdebatte zum Vertrag von Lissabon im Deutschen Bundestag.
Die Europapolitik der deutschen Bundestagsparteien ist seit jeher durch das Modell einer wirtschaftlich und politisch integrierten Staatengemeinschaft geprägt gewesen. Dieses Leitbild wurde seit den Römischen Verträgen bis heute von einer deutlichen Mehrheit der Abgeordneten aller Regierungs- und Oppositionsparteien mit Ausnahme der sozialistischen Linken (PDS/Linkspartei) unterstützt, so dass Konflikte um europapolitische Grundsatzentscheidungen zwischen den beiden großen Volksparteien bislang vermieden werden konnten. Dieser Beitrag vergleicht die Parlamentsdebatte zur Ratifikation des EU-Vertrages von Lissabon mit den Beratungen zu den Verträgen von Maastricht und Nizza. Die Analyse verdeutlicht, dass dieser Konsens grundsätzlich fortbesteht, aber mit dem Einzug der neuen Linkspartei in den Bundestag nach der Osterweiterung brüchig geworden ist. Als Reaktion hat die SPD ihre Haltung zur Zukunft der europäischen Integration wieder verstärkt in Richtung eines „sozialen Europas“ ausgerichtet und sich damit von der Europakonzeption der Christdemokraten abgegrenzt. [ZParl, 40. Jg., H. 4, S. 746 ff.]
Hölscheidt, Sven, Steffi Menzenbach und Birgit Schröder: Das Integrationsverant-wortungsgesetz – ein Kurzkommentar.
Das Bundesverfassungsgericht hat am 30. Juni 2009 entschieden, dass das Zustimmungsge-setz zum Vertrag von Lissabon mit der deutschen Verfassung vereinbar ist. Das Gericht hat aber gefordert, dass Bundestag und Bundesrat bei der Rechtsetzung der Union und der Änderung der Verträge mehr Mitwirkungsrechte zustehen, als bislang in den Begleitgesetzen zum Vertrag von Lissabon vorgesehen war. Mit dem Integrationsverantwortungsgesetz hat der Gesetzgeber die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt. Der Kurzkommentar erläutert die einzelnen Vorschriften des IntVG, die insgesamt 25 Änderungsverfahren unterhalb der Schwelle der Ratifikation erfassen. In der Praxis dürfte vor allem § 8 IntVG relevant werden, der die Mitwirkung des Bundestags und des Bundesrats bei der Anwendung der Flexibilitätsklausel nach Art. 352 AEUV betrifft. [ZParl, 40. Jg., H. 4, S. 758 ff.]
Schmidt-Radefeldt, Roman: Die parlamentarische Dimension der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – Pluralität von demokratischer Legitimation in einer europäischen Mehrebenendemokratie.
Die demokratische Kontrolle der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird bis heute weitgehend über die nationalen Parlamente vermittelt. Indes verfügen nicht alle Parlamente der EU-Mitgliedstaaten über Kontrollkompetenzen, die mit denen des Bundestages vergleichbar wären. Vielmehr wird die Außen- und Verteidigungspolitik in einigen Staaten immer noch als exekutive domaine réservée betrachtet. Überdies können sich nationale parlamentarische Kontrollmöglichkeiten im Zuge eines fortschreitenden europäischen Integrationsprozesses (insb. bei hochintegrierten Einsatzverbänden) strukturell nur begrenzt entfalten. Immer wichtiger wird damit eine komplementäre Legitimation der ESVP durch das Europäische Parlament. Zwar weist der Vertrag von Lissabon dem EP nur eine „Beobachterrolle“ im Institutionengefüge der ESVP zu; gleichwohl besteht z.B. bei der informationellen Kontrolle (z.B. Unterrichtung durch die Akteure der ESVP; Einsicht in geheime Verschlusssachen) aber auch bei der Legitimation der europäischen Sicherheits- und Personalpolitik eine strukturelle Überlegenheit des EP gegenüber nationalen Parlamenten. Durch ein Zusammenwirken rechtsebenen-übergreifender Legitimationsbausteine lassen sich zunehmende Legitimationsdefizite auf der nationalen Ebene kompensieren. [ZParl, 40. Jg., H. 4, S. 773 ff.]
Vetter, Angelika: Alles nur Timing? Kommunale Wahlbeteiligung im Kontext von Bundestagswahlen und Wahlen zum Europäischen Parlament.
Individuelle Faktoren ebenso wie sozial-strukturelle, institutionelle und politische Kontextmerkmale beeinflussen die Beteiligung der Bürger an Wahlen. In diesem Beitrag geht es um die Frage, welchen Einfluss der politische Kontext auf die Höhe der lokalen Wahlbeteiligung hat, verstanden als die zeitliche Platzierung der Kommunalwahlen im jeweiligen Bundestagswahlzyklus. Und hat die Zusammenlegung von Kommunal- und Europawahlen eine stärkere Wählermobilisierung zur Folge? Ausgehend von den Überlegungen zu den Zusammenhängen zwischen Haupt- und Nebenwahlen bzw. „high stimulus -“ und „low stimulus elections“ wird anhand von 114 Kommunalwahlen in der BRD (1951 bis 2008) untersucht, ob entsprechende Wahlzyklus- bzw. Koppelungseffekte auf die Höhe der Wahlbeteiligung empirisch nachweisbar sind. Während die Koppelung von Europa- und Kommunalwahlen die Wahlbeteiligung leicht erhöht, sind bundestagswahlinduzierte Mobilisierungseffekte vor allem dort erkennbar, wo die kommunale Wahlbeteiligung generell niedrig ist. [ZParl, 40. Jg., H. 4, S. 788 ff.]
Merten Haring: Verfassungswandel in Großbritannien unter Labour – veränderte Handlungsspielräume des Parlaments.
Das britische Regierungssystem ist neben dem präsidentiellen System der USA ein Idealtyp der demokratischen Regierungssysteme, in dem alle politische Macht bei der einfachen Mehrheit im Unterhaus konzentriert ist und die einzige Kontrolle durch den Wähler stattfindet. In der Amtszeit von Tony Blair (1997-2007) als Premierminister kam es zu einer Reihe bedeutender Verfassungsänderungen. Diese umfassten vor allem die Devolution, die Kommunalreformen, die Reformen der beiden Kammern des Parlaments, der Grundrechte und des Wahlrechts sowie der Beziehungen zur Europäischen Union. Dieser Verfassungswandel hat die Handlungsspielräume des Unterhauses bzw. des Premierministers und der ihn tragenden Mehrheit im Unterhaus entscheidend verändert. Wichtige Gesetzgebungskompetenzen sind entweder an die Europäische Union oder durch die Devolution an das schottische Parlament übertragen worden. Der Premierminister sieht sich jetzt mit alternativen Machtzentren innerhalb seiner Partei konfrontiert. Gleichzeitig hat er aber durch die Reform des Oberhauses an Patronagepotential gewonnen und wurde durch die Durchführung von Referenden vor Verfassungsänderungen gestärkt. [ZParl, 40. Jg., H. 4, S. 808 ff.]
Hein, Michael: Von toten Tanten und getauschten Grundstücken. Zur Bekämpfung der Regierungskorruption in Rumänien und der Rolle des Parlaments.
Von Ende 2006 bis Anfang 2009 befand sich Rumänien in einem Verfassungskonflikt über die Zulassung der Bekämpfung von Regierungskorruption. In diesem Konflikt versuchte die überwiegende Mehrheit der politischen Elite zu verhindern, dass sich ehemalige und aktuelle Regierungsmitglieder vor Gericht in Strafverfahren verantworten müssen, insbesondere in Korruptionsstrafsachen. Konkret waren acht Spitzenpolitiker betroffen, darunter der frühere Premierminister Adrian Nastase. Die Ursache für den Konflikt lag bereits in der Verfassung von 1991 begründet, die die Strafverfolgung von Regierungsmitgliedern unter den Entscheidungsvorbehalt des Parlaments beziehungsweise des Staatspräsidenten stellte. Im Verlauf des Konflikts wurden zahlreiche formale Hindernisse auf Verfassungs- und Gesetzesebene ausgeräumt, unter anderem durch fünf Verfassungsgerichtsurteile. Gleichwohl überwiegt der Eindruck, dass die politische Elite das Thema Korruptionsbekämpfung vor allem in ihren gegenseitigen Auseinandersetzungen instrumentalisiert und nicht um die Lösung des Problems bemüht ist. Im Ergebnis ist bisher noch keiner der betroffenen Politiker letztinstanzlich verurteilt worden. Die Erfolgsaussichten der Bekämpfung der „großen“ politischen Korruption werden daher weiterhin skeptisch eingeschätzt. [ZParl, 40. Jg., H. 4, S. 824 ff.]
Parashu, Dimitrios: Das zyprische Repräsentantenhaus zwischen Verfassungsvorgaben und Teilungsnöten: Entwicklungen seit 1960.
Als eines der jüngeren Mitglieder der EU fristet die Republik Zypern nach wie vor ein geteiltes Dasein – fernab jedes tiefgehenderen europäischen Interesses. Die Absenz türkisch-zyprischer Amtsträger seit den Unruhen von 1963 und die völkerrechtswidrige Besetzung des Nordens der Insel 1974 fanden naturgemäß auch in Hinblick auf die Umsetzung der Verfassung von 1960 ihren Niederschlag. Die Dokumentation präsentiert die speziellen Schwierigkeiten, mit denen das zyprische Repräsentantenhauses zu kämpfen hat, und ihre notrechtliche Bewältigung; neben weiteren Besonderheiten des Hauses wird auch auf wahlgeschichtliche Elemente Bezug genommen. [ZParl, 40. Jg., H. 4, S. 840 ff.]
Lhotta, Roland und Jörn Ketelhut: Integrationsverantwortung und parlamentarische Demokratie: Das Bundesverfassungsgericht als Agent des „verfassten politischen Primärraums“?
Das Lissabon-Urteil wurde teilweise voreilig als eine Verstärkung der parlamentarischen Demokratie im Integrationsprozess interpretiert. Der Beitrag tritt dieser Interpretation entgegen. Zum einen wird das Urteil entstehungsgeschichtlich in die europarechtliche Jurisdiktion des BVerfG eingeordnet, um zu zeigen, dass das Gericht von bestimmten Konstanten wie der „Brückentheorie“ und damit einem etatistischen Vorbehalt gegenüber Wirkung und Vorrang europäischen Rechts nie abgewichen ist. Zum anderen wird anhand einer inhaltlichen Rekonstruktion und kritischen Analyse des Urteils gezeigt, wie es diesen Vorbehalt durch eine etatistische und grundrechtsdogmatische Anverwandlung des Demokratieprinzips als „Selbstbestimmungsrecht des Volkes“ schmittianisch anreichert, hieraus die Notwendigkeit einer umfassenden Identitätssicherung der Verfassung ableitet und dabei die Demokratie gegen den Rechtsstaat ausspielt. Die angebliche Parlamentsfreundlichkeit des Urteils wird dadurch konterkariert, dass das Gericht auf eine stark gewaltenteilige Wahrnehmung der Integrationsverantwortung drängt, weil es diese dem Bundestag weder alleine noch inhaltlich zutraut. Als Agent des „verfassten politischen Primärraums“ wacht es deshalb über die „richtige“ Wahrnehmung der Integrationsverantwortung – und bezeugt ein Integrationsmisstrauen und eine Angst vor der „Freigabe“ souveräner deutscher Staatlichkeit, die ihresgleichen suchen. [ZParl, 40. Jg., H. 4, S. 864 ff.]
Landwehr, Claudia und Katharina Holzinger: Parlamentsplenum und Bürgerkonferenz: Was leisten sie auf dem Weg zur politischen Entscheidung?
Eine zentrale Annahme deliberativer Demokratietheorien lautet, dass politische Präferenzen durch kommunikative Interaktion transformiert werden. Dennoch fehlt entsprechenden Ansätzen eine eigenständige Theorie darüber, warum und wie genau sich Kommunikation auf Präferenzen auswirkt. Der Artikel schlägt ein Modell der Präferenztransformation vor, das die Diskursivität und Koordinativität kommunikativer Interaktion als wichtigste Determinanten der Wahrscheinlichkeit von Präferenzwandel identifiziert. Um das Modell empirisch zu illustrieren, wird eine vergleichende Analyse von zwei extremen Modi der Interaktion, der Debatte und der Deliberation, vorgenommen. Dies geschieht in Form einer Fallstudie von zwei Foren, die sich mit demselben Konflikt befasst haben: der Bundestagsdebatte und einer Bürgerkonferenz zum Import embryonaler Stammzellen. Für beide Foren werden Diskursivität, Koordinativität und Präferenzwandel untersucht und die aus dem Modell abgeleiteten Hypothesen werden für diesen Fall bestätigt. [ZParl, 40. Jg., H. 4, S. 889 ff.]