Hough, Daniel und Justin Fisher: Wird alles anders? Oder viel Lärm um nichts? Die britischen Parlamentswahlen vom 6. Mai 2010.
Die Britischen Unterhauswahlen 2010 werden aus einer Reihe von Gründen in Erinnerung bleiben: die Beendigung der dreizehn jährigen Regierungszeit der Labour Partei, erstmals die Veranstaltung von Fernsehdebatten im Wahlkampf und vor allem das Hervorgehen der ersten Koalitionsregierung seit über 60 Jahren. Obwohl die Wahlen den Trend in der britischen Politik zu einem Mehrparteiensystem fortgesetzt haben, wäre es voreilig, darin das Ende der langen Ära der Zweiparteiendominanz in Großbritannien zu erkennen. Angesichts des erfrischenden Auftretens des Spitzenkandidaten der Liberaldemokraten, Nick Clegg, und der allgemeinen Unzufriedenheit sowohl mit der Labour-Regierung als auch mit der Konservativen Partei, hätten die kleineren Parteien vielmehr ein besseres Ergebnis erzielen können – und vielleicht müssen – als es Ihnen am Wahlabend tatsächlich gelungen ist. Labour und Konservative werden die britische Politik zwar wahrscheinlich nicht mehr so stark dominieren wie sie dies einmal taten; Berichte über ihren Tod sind jedoch, um es mit Mark Twain zu sagen, deutlich übertrieben. [ZParl, 41. Jg., H. 4, S. 725 – 739]
Sturm, Roland: Reform von Wahlsystem, Parlament und Kommunalverfassungen: Die Agenda der konservativ-liberaldemokratischen Koalition in Großbritannien.
Die seit 2010 in Großbritannien regierende konservativ-liberale Koalition hat weit reichende Reformen des Wahlsystems bei britischen Unterhauswahlen, sowie eine Stärkung der politischen Rolle des Parlaments und der Kommunen angekündigt. Die Gesetzgebung zur Einführung des Alternative Vote-Wahlsystems und zur Reduktion der Zahl der Unterhauswahlkreise ist inzwischen auf den Weg gebracht. Der Einfluss der Hinterbänkler im Parlament wurde durch die geheime Wahl der Ausschussvorsitzenden (Select Committees) und deren teilweise Kontrolle über die parlamentarische Tagesordnung (Backbench Business Committee) gestärkt. Offen ist die Umsetzung der zahlreichen Veränderungen, die für die Kommunen geplant sind. Sie reichen von der Einführung der Allzuständigkeit über das lokale Referendum bis hin zur Wahl des lokalen Polizeichefs. Die öffentliche Debatte in Großbritannien wird zurzeit von Fragen der Sparpolitik beherrscht – dennoch sollte der stille Verfassungswandel in seinen Wirkungen nicht unterschätzt werden. [ZParl, 41. Jg., H. 4, S. 739 – 749]
Ewert, Stefan, Joanna Bars und Hubertus Buchstein: Zur Bedeutung von Ausbildung und Beruf bei Landtagsabgeordneten. Empirische Anstöße zum Nachdenken über parlamentarische Repräsentation.
In dem Artikel wird eine Brücke von der aktuellen theoretischen Diskussion zum Verhältnis von Repräsentation und Demokratie zu empirischen Befunden über die Repräsentationsfunktionen von Parlamenten, wie sie sich im Verständnis ihrer Abgeordneten darstellen, geschlagen. Der Anschlusspunkt der empirischen Analyse sind die sozialstrukturellen Merkmale eines Parlaments. Die Ergebnisse unserer Befragung der aktuellen Landtagsabgeordneten Mecklenburg-Vorpommerns zeigen zudem, dass aus der parlamentarischen Binnenansicht den unmittelbaren Erfahrungen aus Ausbildung und Beruf eine ebenso gewichtige Rolle für die Ausübung des Mandats zugeschrieben wird, wie den vorherigen politischen Erfahrungen der Parlamentarier. Nach unseren Befunden bezieht sich diese Bewertung auf Anforderungen, die sich aus der Amtsausübung im Wahlkreis, im Plenum wie auch in den Ausschüssen ergeben. Die aufgezeigten und nach wie vor bestehenden Unterschiede in den Rekrutierungsmustern des Landtages Mecklenburg-Vorpommerns gegenüber seinen westdeutschen Pendants könnten einen Hinweis auf Besonderheiten in den Arbeitsweisen und Argumentationsmustern des Schweriner Landtags geben. Darüber hinaus liefern die Ergebnisse der Befragung und der sozialstrukturellen Analyse einen instruktiven Anknüpfungspunkt für die seit einiger Zeit neu angestoßenen normativen Debatte in der gegenwärtigen Demokratietheorie über die „dynamic synthesis“ (Nadia Urbinati) im Verhältnis von Repräsentanten und Repräsentierten. [ZParl, 41. Jg., H. 4, S. 749 – 765]
Feist, Ursula und Hans-Jürgen Hoffmann: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 9. Mai 2010: Vom Abwarten zur Kehrtwende.
Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen war die erste Regionalwahl nach dem Regierungswechsel im Bund von der großen zur schwarz-gelben Koalition. Die Abstimmung über die seit fünf Jahren in Düsseldorf regierende CDU-FDP-Regierung war somit ein doppelter erster Test für die bürgerlich-liberale Konstellation. Stillschweigend galt in Berlin die Devise, sich bis zur NRW-Wahl mit Reformvorhaben zurückzuhalten, um nicht etwa wegen sozialer Härten bei notwendigen Sparmaßnahmen vom Wahlvolk abgestraft zu werden. In der Folge verloren Union und FDP, nicht zuletzt durch diesen Stillstand, begleitet von internem Dauerstreit, die „Regierungsmehrheit“ in bundesweiten Wählerumfragen. Der Vertrauensverlust für Schwarz-Gelb schlug unvermindert auf die Stimmung in NRW durch. Hier hatte die „Sponsoren-Affäre“ das Image von Ministerpräsident Jürgen Rüttgers zusätzlich beschädigt, zum Nutzen der anfänglich wenig populären SPD-Kandidatin. Der Wahlkampf fokussierte auf die Richtungsentscheidung zwischen Schwarz-Gelb oder Rot-Grün-Rot statt auf eine Auseinandersetzung über Sachfragen. Mangels echter Polarisierung um Wählerinteressen konnten in einer zunehmend wechselbereiten Wählerschaft psychologische Faktoren wie die Wahrnehmung von Images und Kompetenzen, Enttäuschung und Demoralisierung (verantwortlich vor allem für die große Wahlenthaltung zu Lasten des Wahlverlierers CDU) den Wahltrend bestimmen. Trotz ansehnlicher Leistungsbilanz kam es so zur Abwahl von Schwarz-Gelb nach nur einer Wahlperiode und zu einer rot-grünen Minderheitsregierung unter Hannelore Kraft. [ZParl, 41. Jg., H. 4, S. 766 – 787]
Bogumil, Jörg, Stephan Grohs und Lars Holtkamp: Zersplitterte Kommunalparlamente oder Stärkung lokaler Demokratie? Warum die Abschaffung der kommunalen Fünfprozenthürde in Nordrhein-Westfalen ein Fehler war.
Welche Auswirkungen hat die 1999 aufgehobene Fünfprozenthürde auf die Zusammensetzung und Arbeitsweise der Kommunalparlamente in Nordrhein-Westfalen? In der Betrachtung wird einerseits die Wahrung der Wahl- und Chancengleichheit und anderseits die Funktionsfähigkeit der Räte abgewogen. Im Ergebnis zeigt sich insbesondere in den Großstädten eine deutliche Zunahme der Fraktionen und Gruppierungen beziehungsweise Einzelpersonen ohne Fraktionsstatus. Bei kleineren Städten und Gemeinden greift dagegen eine „natürliche Sperrklausel“, die eine Fragmentierung der Räte verhindert. Die Zunahme der Gruppierungen und Fraktionen führt in den betroffenen Städte zu einer deutlichen Beeinträchtigung der Arbeit der Räte, die sich in einer deutlichen Verlängerung der Sitzungszeiten, erschwerter Mehrheitsbildung und redundanter Diskussionen durch die Störung der Arbeitsteilung zwischen Ausschüssen und Ratsplenum. Im Ergebnis ist es ratsam, eine moderate Sperrklausel von 2,5 Prozent, die in kleineren Städten und Gemeinden die Wahl- und Chancengleichheit nicht beeinträchtig, in den Großstädten aber die Arbeitsfähigkeit der ehrenamtlichen Kommunalparlamente gewährleistet, wiedereinzuführen. [ZParl, 41. Jg., H. 4, S. 788 – 803]
Blumenberg, Johannes und Manuela Kulick: Der geliebte Verräter – Zum Einfluss von Spitzenkandidaten auf das Wahlverhalten am Beispiel der saarländischen Landtagswahl 2009.
Bereits im Vorfeld der saarländischen Landtagswahl 2009 weckte einer der Kandidaten besonderes Medieninteresse – der Kandidat der Linken: Oskar Lafontaine. Dieses Interesse als Ausgangspunkt nehmend, untersucht der vorliegende Beitrag die verschiedenen Einflussfaktoren auf das Wahlverhalten der saarländischen Linken-Wähler und vergleicht diese sowohl mit den wahlentscheidenden Faktoren der anderen etablierten Parteien, als auch mit den Faktoren der Linken-Wähler in anderen Bundesländern. Im Ergebnis kann so festgestellt werden, dass sich die Einflüsse auf die Wahlentscheidung der Linken-Wähler bei der saarländischen Landtagswahl deutlich von denen der Wähler anderer Parteien unterscheiden, aber auch für die Linke im Vergleich zu anderen Landtagswahlen eine Ausnahme darstellen. Der Wahlerfolg der saarländischen Linken kann maßgeblich auf den „geliebten Verräter“ zurückgeführt werden und gibt auf diese Weise Aufschluss über das mögliche Einflusspotential eines Kandidaten. [ZParl, 41. Jg., H. 4, S. 803 – 817]
Hermann, Michael C.: Wahlkampf und Jugendliche: Nur Risiken und Nebenwirkungen? Ergebnisse einer internationalen Längsschnittstudie.
Die Auffassung, wonach Wahlkampf auf noch nicht wahlberechtigte Jugendliche keine Wirkungen entfalte, wird hier widerlegt. Im Gegenteil: Wahlkampf hat Effekte, die zu einer Verschlechterung wichtiger politischer Einstellungen bei Jugendlichen führen können. Die Ergebnisse beruhen auf einer Befragung von 13- bis 18-Jährigen aus Süddeutschland während der Bundestagswahlkämpfe 1998 und 2002. Sie wurden zu drei Zeitpunkten – vor Beginn des Wahlkampfs, kurz vor der Wahl, einige Wochen nach der Wahl – auf ihr Bild von Politik und ihr Informationsverhalten hin befragt. Demnach verstärkt Wahlkampf in problematischer Weise die Spaltung der kognitiven Mobilisierung Jugendlicher in eine konventionelle, auf die politische Bühne gerichtete, und eine alternative, die Policies betrifft: Das Interesse an der Politics-Dimension steigt während des Wahlkampfs kurzfristig an, während sich das Interesse an den politischen Themen nicht erhöht. Mit der verstärkten Hinwendung zum Geschehen auf der politischen Bühne steigt bei Jugendlichen einerseits das Gefühl, Politik durchschauen zu können, andererseits werden Erwartungen an die Modernisierungsfähigkeit des politischen Systems gefördert, die die Politik nach der Wahl nicht einzulösen in der Lage ist. Bei einem erheblichen Teil der Jugendlichen stellt sich so nach Ende des Wahlkampfs eine zusätzliche politische Entfremdung ein, die im Hinblick auf die schleichende Erosion der Legitimationsbasis des politischen Systems als bedenklich zu beurteilen ist. Dies auch deshalb, weil in der Biografie früh erworbene Attitüden zu Politik sich als recht stabil darstellen. Auf der Basis dieser empirischen Ergebnisse empfehlen sich Anstrengungen der Politikvermittler und Wahlkampfstrategen, Politik Jugendlichen gegenüber diskursiver und differenzierter zu vermitteln und der Zeit nach Ende des Wahlkampfs besondere Aufmerksamkeit zu schenken. [ZParl, 41. Jg., H. 4, S. 818 – 838]
Oskar Niedermayer: Erfolgsbedingungen neuer Parteien im Parteiensystem am Beispiel der Piratenpartei Deutschland.
Der „Erfolg“ einer neuen Partei im Parteiensystem lässt sich durch das sukzessive Überschreiten von mehreren Karrierestufen messen, die qualitative Veränderungen der Rolle einer Partei im Parteiensystem markieren. Es werden fünf solcher Stufen unterschieden: Wahlteilnahme, Wettbewerbsbeeinflussung, parlamentarische Repräsentation, koalitionsstrategische Inklusion und Regierungsbeteiligung. Als Erfolgsbedingungen einer Partei im Parteienwettbewerb lassen sich diejenigen Faktoren ansehen, die das Überschreiten der verschiedenen Karrierestufen fördern oder behindern. Zur Strukturierung der Fülle dieser Faktoren werden sie drei Bereichen zugeordnet: der Angebots- und Nachfrageseite sowie den Rahmenbedingungen des politischen Wettbewerbs. Es wird gezeigt, dass die Piratenpartei die zweite Karrierestufe überschritten hat. Die Ergebnisse einer detaillierten Analyse der verschiedenen Erfolgsfaktoren führen allerdings zu dem Schluss, dass das Überschreiten der dritten Stufe, also die parlamentarische Repräsentation, aufgrund einer Reihe von Hemmfaktoren aus allen drei Bereichen in absehbarer Zeit sehr unwahrscheinlich ist. [ZParl, 41. Jg., H. 4, S. 838 – 854]
Bochsler, Daniel: Was bringen Wahlallianzen? Links-grüne Parteien und deren Listenverbindungen im d’Hondtschen Verhältniswahlrecht der Schweizer Nationalratswahlen von 1995 bis 2007.
Das Verhältniswahlrecht mancher Länder erlaubt es verschiedenen Parteien ihre Wahllisten zu verbinden. Die so verbundenen Listen werden bei der Erstverteilung der Sitze als Einheit betrachtet und werfen somit mehr Stimmen in die Waagschale. Dies verschafft ihnen unter der Zuteilungsformel nach d’Hondt substanzielle Vorteile. In der Schweiz, wo Listenverbindungen in den nationalen Wahlen und in einer Reihe von Kantonen praktiziert werden, gehören die linken und grünen Parteien zu den Gewinnern von Listenverbindungen. Es wird untersucht, wie linke und grüne Parteien die Listenverbindungen in den nationalen Parlamentswahlen 1995 bis 2007 genutzt haben und aufgezeigt, wieso ihnen dies zu Mandatsgewinnen verholfen hat. Listenverbindungen kommen ihrem Zweck nach, Ungleichheiten imd’Hondtschen Verfahren zu beheben, allerdings nur, weil im Schweizer Wahlrecht auch Unterlistenverbindungen zugelassen sind. [ZParl, 41. Jg., H. 4, S. 855 – 873]
Borowy, Oliver: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu den Kompetenzen des Vermittlungsausschusses. Auswirkungen auf die parlamentarische Praxis und Reformüberlegungen.
Mit seinem Beschluss zum Haushaltsbegleitgesetz 2004 (HBeglG) vom 8. Dezember 2009 hat das Bundesverfassungsgericht erstmals eine auf einem Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses beruhende gesetzliche Regelung nicht nur für verfassungswidrig, sondern auch als nichtig angesehen. Die Entscheidung ist einer der wenigen Fälle, in denen ein Verfahrensfehler die Unwirksamkeit eines Gesetzes zur Folge hat. Erstmals stand hierbei eine auf das so genannte Koch/Steinbrück-Papier zurückgehende Bestimmung des HBeglG 2004 auf dem verfassungsgerichtlichen Prüfstand, dessen Zustandekommen bereits bei Entstehen heftig umstritten war. Der Beschluss besitzt Bedeutung für zahlreiche weitere Vorschriften, die in vergleichbarer Weise Eingang in das HBeglG 2004 fanden und stellt eine konsequente Fortsetzung und Präzisierung der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu den Kompetenzen des Vermittlungsausschusses dar, die zur Wahrung der bundesstaatlichen Kompetenzordnung, der Rechte der Abgeordneten, des Demokratieprinzips und der Öffentlichkeit des parlamentarischen Verfahrens verfassungsrechtlich strikt begrenzt sind. [ZParl, 41. Jg., H. 4, S. 874 – 902]