Pyschny, Anastasia: Wie widerstandsfähig ist der Deutsche Bundestag? Reaktionen des Parlamentes auf die Finanz- und die Corona-Krise.
Was kann der Deutsche Bundestag tun, um seine Handlungsfähigkeit in Krisenzeiten zu sichern? Prinzipiell stehen hierfür zwei Instrumente zur Verfügung: Der Gesetzgebungsprozess kann entweder beschleunigt oder die Bundesregierung mit Verordnungskompetenzen ausgestattet werden. Sowohl in der Finanz- als auch in der Corona-Krise machte das Parlament von beiden Möglichkeiten Gebrauch, erntete dafür aber (teils heftige) Kritik. Die vergleichende Analyse zeigt, wie der Bundestag seine Gesetzgebungs- und Kontrollfunktion zu Beginn der zwei Krisen wahrnahm und legt deutliche Unterschiede hinsichtlich der Ausgestaltung und Wirkung parlamentarischer Maßnahmen offen. Diese deuten auf eine erhöhte funktionelle Widerstandsfähigkeit („Resilienz“) des Bundestages hin. Die gesteigerte Funktionsgewährleistung ist jedoch offensichtlich nicht nur auf Lernprozesse auf Seiten parlamentarischer Akteure, sondern auch auf der Regierungsseite zurückzuführen. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 4, S. 725 – 741]
Hölscheidt, Sven und Maria-Luisa Leonhardt: Dabeisein ist alles: Zur Notwendigkeit körperlicher Anwesenheit im Parlament.
Das deutsche Parlamentsrecht basiert gegenwärtig darauf, dass die Abgeordneten im Parlament körperlich anwesend sind. Besonders bei Wahlen und Abstimmungen ist diese Präsenz unverzichtbar. Sie kann auch in der Pandemie nicht dadurch ersetzt werden, dass Abgeordnete sich auf technischem Wege aus der Ferne beteiligen. Auch bei sehr kreativen Auslegungen und Interpretationen des Grundgesetzes bedürfte es einer Verfassungsänderung, um die Möglichkeit für Parlamentssitzungen ganz oder zum Teil ohne körperliche Anwesenheit der Abgeordneten zu schaffen. Solange Parlamente uneingeschränkt funktionsfähig sind, sollten sie – in einigermaßen ruhigen Zeiten – als Vorsorge für den Notfall die rechtlichen Möglichkeiten dafür schaffen, um ihre Funktionsfähigkeit in Krisenzeiten zu gewährleisten. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 4, S. 742 – 757]
Settles, Kevin, Sahand Shahgholi und Sven T. Siefken: Wahlkreisarbeit in der Pandemie: Mehr Adaption als Transformation.
Die Covid-19-Pandemie führte weltweit zu massiven Einschränkungen des öffentlichen Lebens – auch die Arbeit von Abgeordneten in ihren Wahlkreisen war davon betroffen. Aufbauend auf Interviews mit 33 Mitgliedern des Bundestages wird ihre Wahlkreisarbeit während der ersten Phase der Pandemie analysiert und mit Daten aus einer früheren Studie im „Normalzustand“ (CITREP) verglichen. Nach einer kurzen Phase der Anpassung entwickelten sich digitale Arbeits- und Kommunikationsformen rasch, was neben einer teils stärkeren Vernetzung der Parlamentsarbeit mit Partei und Wahlkreis auch zu größerer räumlicher Flexibilität führte. Erkennbar im Vergleich zu 2011/2012 ist eine gesteigerte Nutzung sozialer Medien, die aber nur in Teilen auf Covid-19 zurückzuführen sein dürfte. Beim Fokus der Repräsentation ist eine deutlichere regionale Ausrichtung erkennbar, und politischer Führung wurde eine höhere Bedeutung beigemessen als sonst. Insgesamt konnte die Wahlkreisarbeit unter veränderten Bedingungen fortgeführt werden. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 4, S. 758 – 775]
Prior, Alex und Maya Kornberg: Globale Herausforderungen und Gelegenheiten für das „Public Engagement“ von Parlamenten in der Covid-19-Krise.
Während der Covid-19-Krise sahen sich Abgeordnete und Parlamentsverwaltungen neuen Herausforderungen gegenüber. In der Krisenreaktion mussten sie ihre politische Rollenwahrnehmung überprüfen und sich in vielen Fällen auf eine kleine Zahl von „Kernfunktionen“ konzentrierten. Basierend auf Interviews und Fokusgruppen, die für den dritten Global Parliamentary Report der Inter-Parlamentarischen Union und des United Nations Development Programme durchgeführt wurden, werden unterschiedliche Ansätze der Öffentlichkeitsbeteiligung von Parlamenten in der Corona-Krise ausgewertet und ihre Herausforderungen und Gelegenheiten diskutiert. Es wird deutlich, dass die Öffentlichkeitsbeteiligung in vielen Parlamenten während der Krise weniger Beachtung erfuhr, während ihr in einzelnen Ländern erneute Aufmerksamkeit zukam. Dies bezog sich insbesondere auf digitale Innovationen und die Beteiligung von räumlich entlegenen Gebieten und der Diaspora. Insofern hat die Pandemie in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung einerseits vorhandenen Wandel beschleunigt, andererseits den Bedarf an neuer Aufmerksamkeit deutlich gemacht. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 4, S. 776 – 791]
Jennewein, Julia und Philipp Mutzbauer: Landesparlamente in der Pandemie: Ein Erfahrungsbericht aus Rheinland-Pfalz.
Wie arbeiteten die deutschen Landesparlamente während der Corona-Pandemie weiter? Mit dieser zentralen Frage befasst sich die vergleichende Untersuchung mit einem Schwerpunkt auf den Landtag Rheinland-Pfalz. Der besondere Fokus liegt auf der Frühphase der Pandemie im Jahr 2020, in der entscheidende Weichenstellungen für die Landtage vorgenommen wurden. Organisatorische Anpassungen ermöglichten es, in der Pandemie die Arbeitsfähigkeit zu erhalten und einem Bedeutungsverlust gegenüber der Exekutive entgegenzuwirken. In Rheinland-Pfalz gewann zudem besonders der Ältestenrat in einer Doppelfunktion als parlamentarisches Steuerungsgremium und als Instrument der Öffentlichkeitsarbeit des Parlaments an Bedeutung. Dem gesteigerten Informationsbedürfnis in der Politik stand ein ebenso gesteigertes Interesse der Bevölkerung und der Medien gegenüber. Ihm wurde durch die Digitalisierung von Ausschüssen und einer Verstärkung der Kommunikation begegnet. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 4, S. 792 – 804]
Niedermayer, Oskar: Corona als „Stunde der Regierungsparteien?“ Die Folgen der Covid-19-Pandemie für das Parteiensystem.
Bereits kurz nach ihrem Auftreten im März 2020 führte Covid-19 zu deutlichen Veränderungen in der Struktur des deutschen Parteiensystems. Die Pandemie war ein externer Schock, der die Verhältnisse zwischen den Parteien veränderte und auch ihre Stärke in den Umfragen beeinflusste. Bis zum Ende 2020 gab es breite Unterstützung für die Parteien der Regierungsmehrheit, insbesondere für die CDU/CSU. Nach Schwächen im Krisenmanagement waren die hohen Erwartungen Anfang 2021 allerdings enttäuscht, woraus ein deutlicher Verlust von Unterstützung und Vertrauen in die politischen Akteure folgte. Eine dritte Phase war durch den Rückgang der Infektionszahlen und den anlaufenden Bundestagswahlkampf 2021 charakterisiert. Insgesamt waren es aber eher die verschiedenen Kampagnenstrategien und individuelle Fehler von Spitzenkandidaten verbunden mit einem diffusen Wunsch nach Wechsel, die das Wahlergebnis beeinflussten. So hatte die Pandemie eine starke Wirkung auf das Parteiensystem, war aber nicht ein die Bundestagswahl entscheidender Faktor. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 4, S. 805 – 823]
Donovan, Barbara: Zur politischen Ausnutzung von Covid-19: Die AfD als „challenger party“ und der Einfluss auf das Parlament.
Die Covid-19-Pandemie ist als Thema zugespitzter Ausnutzung durch populistische Parteien naheliegend und hat zu politischer Polarisierung in den westlichen Demokratien beigetragen. Die Alternative für Deutschland (AfD) passte ihre inhaltlichen Positionen und ihren politischen Stil an die Situation an und veränderte sie auch im Laufe der Pandemie. So bot die Pandemie eine politische Gelegenheit für die AfD, ihr politisches Handlungsrepertoire auszuweiten und als „challenger party“ aufzutreten. Der Überblick der sich entwickelnden Parteistrategie und eine Inhaltsanalyse ausgewählter Parlamentsdebatten im Bundestag zwischen Februar 2020 und August 2021 zeigte, dass die AfD in den Monaten nach Beginn der Gesundheitskrise als „issue entrepreneur“ handelte und ihre populistische Kritik am Regierungshandeln nutzte, um die parlamentarische Strategie der Störung voranzutreiben. Dieses Parteiverhalten führte zu einem konfliktreicheren und polarisierten Stil der Auseinandersetzung im Parlament. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 4, S. 824 – 843]
Brack, Nathalie, Olivier Costa und Awenig Marié: Das Europäische Parlament und Covid-19: Organisatorische Anpassungen und ihre Folgen für parlamentarisches Handeln.
Bereits im März 2020 entschied der Präsident des Europäischen Parlaments, dessen Einrichtungen in Brüssel zu schließen und die Plenarsitzungen in Straßburg abzusagen. Ebenfalls wurde beschlossen, persönliche Treffen nicht mehr durchzuführen, Arbeit im Home-Office für alle Mitarbeiter vorzusehen und Verfahren zum digitalen Parlamentshandeln von Debatten und Abstimmungen sowohl in Ausschüssen wie auch im Plenum einzuführen. Die Geschäftsordnung wurde entsprechend angepasst, um diese Veränderungen zu formalisieren und auch für künftige Krisen nutzen zu können. Insgesamt zeigte sich das Europäische Parlament krisenfest und anpassungsfähig: Es setzte die Debatten fort und traf viele Beschlüsse im Plenum. Allerdings hatte diese Situation der digitalen Arbeit einen Einfluss auf die politische Dynamik im Parlament. Sie war durch einen hohen Grad von Konsens zwischen den beiden dominierenden Parteiblöcken der Europäischen Volkspartei und der Sozialdemokraten geprägt. Beide zeigten auch eine größere Einheitlichkeit in der Krise. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 4, S. 844 – 859]
Jágr, David: Das tschechische Parlament in der Pandemie: Zum Krisenmanagement unter den Bedingungen einer Minderheitsregierung.
Die Pandemie trat auf als illiberale populistische Führungspersonen in Mittel- und Osteuropa regierten. Die Tschechische Republik sah sich einer simultanen Krise der politischen Parteien und der Transformation des Parteiensystems ausgesetzt. Diese Entwicklungen waren durch die globale Finanzkrise hervorgerufen worden, in Folge derer die etablierten Parteien geschwächt und der Weg in Parlament und Regierungen für populistische Parteien eröffnet worden war. Der Kampf gegen die Pandemie 2020 führte zu Veränderungen in der Arbeit des Parlamentes und notwendigen Anpassungen. Die Situation in der Tschechischen Republik machte eine Exekutivdominanz wenig wahrscheinlich: Aufgrund der Schwäche der Minderheitsregierung und eines hochgradig fragmentierten Parlaments musste das Kabinett ad-hoc-Koalitionen mit unterschiedlichen Parteien bilden. Im Verlauf der Pandemie veränderten die politischen Akteure ihre Strategie von Kooperation zu Konflikt, was zur Instabilität der Regierung und der Unfähigkeit zur Eingrenzung der Pandemie führt. So wurde die Tschechische Republik eines der am schlimmsten von Covid-19 betroffenen Länder der Welt. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 4, S. 860 – 877]
Siefken, Sven T., Petra Guasti, Werner J. Patzelt, Osnat Akirav, Ken Coghill und Pauline Haupt: Parlamente in der Pandemie: Erste Erkenntnisse aus einem international vergleichenden Forschungsvorhaben.
Während der Pandemie erlitten Parlamente auf der ganzen Welt einen doppelten Schock: Sie mussten sich auf die Herausforderungen des Infektionsgeschehens einstellen und ihre Rolle im Beziehungsgeflecht zur Exekutive aufrechterhalten oder erneut etablieren. Eine nähere Untersuchung von 27 Parlamenten in unterschiedlichen politischen Systemen bietet einen ersten vertiefenden Einblick in die initiale Reaktion der Parlamente auf die Krise. Dies basiert auf Informationen einer laufenden internationalen Zusammenarbeit von Parlamentarismus-Fachleuten und baut auf einem Modell des Historischen Institutionalismus auf. In einigen Ländern wurden weiterreichende Maßnahmen getroffen, die auch den persönlichen Zugang zu den parlamentarischen Verfahren beschränkten und diese online durchführten. Die Parlamentsausschüsse zeigten sich dabei als ein Experimentierfeld für die Digitalisierung von Parlamenten. Während in einigen Ländern die Gesetzgebung deutlich durch die Pandemie dominiert war, herrschte in den meisten Parlamenten Kontinuität über die verschiedenen Politikfelder hinweg. Deutliche Unterschiede werden in Bezug auf die Verfahren parlamentarischer Kontrolle deutlich. Auch Kommunikationstätigkeiten wurden vielfach intensiviert, gerade auf Seiten der parlamentarischen Führungspersonen. Die ersten Erkenntnisse deuten darauf hin, dass insbesondere die Parlamente in den etablierten Demokratien in der Lage waren, ihre Funktionen auch in der Pandemie trotz zuvor ungekannter Herausforderungen zu erfüllen. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 4, S. 878 – 894]
Kersten, Jens und Stephan Rixen: Parlamente in der Pandemie: Anlass für Verfassungspessimismus?
Die Pandemie hat zu keiner Krise des parlamentarischen Regierungssystems geführt. Insbesondere der Bundestag stellt seine Handlungsfähigkeit in der Corona-Krise unter Beweis. Er sicherte seine Funktionsfähigkeit, selbst wenn er sich insofern etwas offener mit Blick auf einen „virtuellen Parlamentarismus“ zeigen könnte. Auch die parlamentarische Steuerung über das Zusammenspiel von Infektionsgesetz und Rechtsverordnung hat sich grundsätzlich als krisentauglich bewährt. Mit Blick auf die Gewaltenteilung ist die Exekutive gerade auch in einer Krise so eigenständig, wie es das Parlament zulässt. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 4, S. 895 – 912]