Tokatlı, Mahir: Etablierung einer semi-kompetitiven Autokratie in der Türkei: Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom 14. und 28. Mai 2023.
Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei am 14. Mai 2023 galten als Schicksalswahlen. Entgegen den Prognosen der Demoskopen blieb die erhoffte Wende aus und die AKP sicherte sich trotz erheblicher Stimmenverluste durch eine geschickte Wahlallianz eine absolute parlamentarische Mehrheit. Die Opposition ging in beiden Wahlen als Verliererin hervor, da es ihr nicht gelang, sich als wirkliche Alternative zur AKP zu präsentieren und die gesamte Opposition zu vereinen. Wiederholt gaben diese Wahlen Anlass zu Debatten über die Typologisierung des türkischen Regimes. Im Umlauf befinden sich Begriffe wie „kompetitive“ sowie „geschlossene Autokratie“. Dies verdeutlicht, dass nicht länger über den Status der Autokratie, sondern über den Grad der Autokratie diskutiert wird. Während in kompetitiven Autokratien trotz ungleicher Bedingungen die Wahlen noch bedeutsam sind und einen Wandel herbeiführen können, scheinen diese Perspektiven durch massive Eingriffe der Regierungspartei minimiert zu sein. In der Türkei finden die Wahlen rechtlich und substanziell unter ungleichen Bedingungen statt, weswegen die terminologische Einordnung als „semi-kompetitive Autokratie“ treffender erscheint. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 4, S. 741 – 757]
Krumm, Thomas: Wählen in der Polykrise: Die türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom Mai 2023 in Deutschland.
Der Wahlsieg Erdoğans in der Präsidentschaftswahl im Mai 2023 kam für viele überraschend. Er überdeckt langfristige Veränderungen im Parteiensystem der Türkei. Eine Konstante ist jedoch die große Unterstützung Erdoğans in vielen westeuropäischen Migrationsgesellschaften. Der Beitrag fasst zunächst die Erklärungsfaktoren für das abweichende Wahlverhalten des türkischen Elektorats in Deutschland zusammen und skizziert dann die interessengeleitete Reform des türkischen Wahlrechts unter AKP-Regierungen. Im empirischen Teil werden die Ergebnisse auf Ebene der 17 Standorte von Wahllokalen in Deutschland im Querschnitt analysiert und langfristige Entwicklungen bilanziert. Auch die regionalen Schwerpunkte der Parteien in Deutschland sind langfristig stabil. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 4, S. 758 – 772]
Pfeiffer, Christian und Nikolaus Werz: Die spanischen Parlamentswahlen vom 23. Juli 2023 und die Wiederkehr der Territorialfrage.
Von 2020 bis 2023 regierte in Spanien erstmals seit der Zweiten Republik (1931 – 1939) eine Koalition aus der Partido Socialista Obrero Español (PSOE) und dem Linksbündnis Unidas Podemos (UP). Trotz, oder vielleicht gerade wegen, ihrer intensiven legislativen Arbeit vertieften sich die politischen Gräben zwischen der Regierung und der rechten Opposition. Bei den Regional- und Kommunalwahlen am 28. Mai 2023 erlitt die Regierungskoalition eine Niederlage, woraufhin Ministerpräsident Pedro Sáncheznationale Neuwahlen für den 23. Juli 2023 ansetzte. Aus diesen ging die konservative Partido Popular (PP) unter Alberto Núñez Feijóo als stärkste Kraft hervor. Trotz ihres Sieges konnte die PP jedoch keine Regierungsmehrheit bilden. Daraufhin gelang es der PSOE, in Zusammenarbeit mit der linken Allianz Sumar und unter Duldung verschiedener, teilweise separatistischer Parteien, erneut eine Regierung zu bilden. Diese Regierungsbildung war an die Bedingung eines neuen und kontroversen Amnestiegesetzes geknüpft, das für die Unterstützung der Parteien des sogenannten peripheren Nationalismus bei der Wahl von Sánchez im Parlament entscheidend war. Die politische Atmosphäre in Spanien hat sich infolgedessen weiter verschlechtert. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 4, S. 773 – 797]
Cavalieri, Alice and Elisabetta De Giorgi: Are they all the same? The Italian populist parties in parliament.
Italien blickt auf eine dreißigjährige Tradition populistischer Parteien zurück, die mit der Gründung der Forza Italia (FI) von Silvio Berlusconi 1993 begann. Seitdem sind im italienischen Parlament drei weitere große populistische Parteien vertreten – die Lega Nord (LN), die Brüder Italiens (Fratelli d’Italia – FDI) und die Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento 5 Stelle – M5S). 2018 kam in Italien die erste vollwertige populistische Regierung in Westeuropa ins Amt (Conte I, bestehend aus der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega). Mit der einzigen, wenn auch grundlegenden Ausnahme der Fünf-Sterne-Bewegung, die als valenzpopulistische Partei betrachtet wird, sind alle anderen italienischen Populisten rechtsgerichtete Parteien. In dieser Arbeit soll daher das Verhalten der Rechtspopulisten (FI, League, FDI) mit dem der Valenzpopulisten (M5S) im Parlament, aber auch das der Rechtspopulisten untereinander verglichen werden. Darüber hinaus wird durch die Konzentration auf die letzten drei italienischen Wahlperioden (XVII, XVIII und XIX) untersucht, ob und wie sich das Verhalten dieser Parteien aufgrund ihrer unterschiedlichen institutionellen Rolle (Regierung oder Opposition) verändert hat. Anhand von Daten über das Abstimmungsverhalten der Fraktionen und verschiedener parlamentarischer Aktivitäten (mündliche und schriftliche Anfragen sowie Interpellationen) in der Abgeordnetenkammer trägt diese Arbeit sowohl zur Forschung über populistische Parteien als auch zur Gesetzgebungsforschung bei und hilft zu verstehen, wie populistische Parteien ihre repräsentative Rolle innerhalb der Institutionen konzipieren und ausüben. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 4, S. 798 – 816]
Dähler, Thomas: Besonderheiten des schweizerischen Parlamentarismus, des Parteien- und Wahlsystems.
Die Parlamentskultur in den drei staatlichen Ebenen der Schweiz (Bund, Kantone, Gemeinden) unterscheidet sich in verschiedener Hinsicht von den parlamentarischen Sitten und Gebräuchen in anderen europäischen Staaten, insbesondere auch in Deutschland und Österreich. Die in der Schweiz traditionell stark ausgebildeten Volksrechte prägen die Arbeit und die Wirkung der Parlamente auf allen drei Ebenen. Volksrechte bilden den Kern der direkten Demokratie. Sie ermöglichen, Vorschläge zur Revision von Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen zu machen (Volksinitiative) oder über Parlamentsbeschlüsse im Nachhinein abzustimmen (Referendum). Sie erweitern somit die indirekte, sich auf die Wahl von Personen beschränkende Demokratie. Neben einem kurzen Überblick über die Geschichte und Ausrichtung der politischen Parteien werden Verfahren für die Wahl der Parlamente im Bund und den Kantonen beleuchtet. Weitere Besonderheiten sind die meistens jährlich wechselnden Präsidien der Schweizer Parlamente und das Prinzip der Nebenamtlichkeit in den Parlamenten. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 4, S. 817 – 834]
Lüthi, Ruth: Die Schweizerische Bundesversammlung: Ein Parlament in einer Konsensdemokratie.
Das politische System der Schweiz kann als dezentralisiertes, föderalistisches Vielparteiensystem mit ausgeprägter Machteilung bezeichnet werden. Das strikt gewaltenteilige System erlaubt es dem Parlament (Bundesversammlung), seine Funktionen unabhängig von der Regierung wahrzunehmen. So kommt der Bundesversammlung, bestehend aus National- und Ständerat, insbesondere eine starke Stellung im Gesetzgebungsprozess zu, indem sie jede einzelne Bestimmung eines Gesetzes einer Beratung unterziehen und ändern kann. Dabei können sich sogar innerhalb einer einzelnen Gesetzesberatung unterschiedliche Allianzen zwischen den verschiedenen Fraktionen bilden, die die Vorschläge der Regierung unterstützen oder nicht. Die Wahl der Regierung durch das Parlament stärkt dessen Position im Gewaltengefüge ebenfalls. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts setzte ein Reformprozess ein, in dessen Verlauf die Bundesversammlung ihr Instrumentarium gestärkt und die parlamentarischen Prozesse optimiert hat, so dass sie heute ihre starke Stellung im System auch tatsächlich nutzen und entscheidend in den politischen Prozess eingreifen kann. Die komplexen Prozesse im parlamentarischen Zweikammersystem bieten verhandlungswilligen Mitgliedern des Parlamentes, die das politische Handwerk der Kompromissfindung beherrschen, viele Möglichkeiten, Allianzen zu schmieden und die Entscheide zu prägen. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 4, S. 835 – 853]
von Wyss, Moritz: Die kantonalen Parlamente der Schweiz: Ein kleiner Kosmos an historischem und modernem Parlamentarismus.
Die kantonalen Parlamente waren ein wichtiges Instrument der liberalen Revolution im 19. Jahrhundert, um die Schweiz zu demokratisieren. Es galt im vorletzten Jahrhundert gar eine Parlamentssuprematie. Doch was ist aus dieser machtvollen Stellung geblieben? Aus historischen und politischen Gründen spielen die kantonalen Parlamente heute eher eine Nebenrolle, obwohl sie verfassungsrechtlich immer noch eine starke Stellung haben. Dies kontrastiert gleichzeitig mit der Vielfalt an parlamentarischen Leben und parlamentsrechtlichen Instrumenten, die eine lange Tradition haben. Die Chancen der kantonalen Parlamente, wieder eine wichtige Stellung zu erlangen, findet sich heute Mittlerrolle zwischen Regierung und direktdemokratischer Volksrechte, also in der Idee des Parlamentarismus, Verantwortung zu diskutieren und öffentlich zu machen, Minderheiten zu integrieren und den politischen Streit zu ordnen und befriedigen. Voraussetzung dazu wäre der politische Wille. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 4, S. 854 – 872]
Strebel, Michael: Die kommunalen Parlamente in der Schweiz: Eine Frage der Sprachregion und weniger der Gemeindegröße.
Die Gemeinden bilden die dritte Stufe des schweizerischen Staatsaufbaus und sind unterschiedlich politisch organsiert. Eine Möglichkeit bilden Parlamente. Es gibt Kantone, die das Parlament als die zwingende Organisationsform vorsehen, und in anderen Kantonen bestehen keine Grundlagen für ein Parlament. Wieder in anderen Kantonen kann die Organisationsform gewählt werden. Die Parlamente sind allerdings ungleich in den Sprachregionen verteilt: in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz – mit einer sehr langen Geschichte – deutlich häufiger als in der Deutschschweiz. In dieser dominiert die Gemeindeversammlung. Über alle Kantone betrachtet, werden nur wenige Bestimmungen durch den Gesetzgeber für die Binnenorganisation vorgegeben. Die Parlamente verfügen über große Freiheiten, ihr Parlamentsrecht zu gestalten, wie die grundsätzliche Organisation, Sitzungsrhythmus, Abläufe, Redezeiten, Geschäftsleitung, parlamentarische Instrumente; zur Sitzzahl werden allerdings höchst unterschiedliche Vorgaben gemacht. Folglich zeichnen sich die Parlamente über eine große Heterogenität aus. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 4, S. 873 – 888]
Reiser, Marion, Jonathan Rinne und Lars Vogel: „Unequal democracy“ aus Sicht der Abgeordneten – Befunde der Jenaer Abgeordnetenbefragung 2022.
In der aktuellen Debatte zu den Ursachen für „unequal democracy“ werden die Perspektiven der Abgeordneten bisher kaum beachtet, obwohl diese aufgrund ihres Expertenstatus und ihrer herausgehobenen Stellung in der repräsentativen Demokratie hochrelevant sind. Dieser Beitrag untersucht daher auf Basis der Jenaer Abgeordnetenbefragung 2022 ihre Wahrnehmungen und Bewertungen in Bezug auf die Bereiche Responsivität und Rekrutierung. Es zeigt sich, dass Abgeordnete einen – im Vergleich zu ihrem eigenen Einfluss und jenem der Durchschnittswähler – deutlich stärkeren Einfluss von finanzstarken Interessen auf die Politik wahrnehmen und bestätigen damit eine Grundannahme von „unequal democracy“. Die Ursachen für ungleiche Responsivität sehen sie jedoch nicht bei sich selbst, sondern u.a. in den größeren Einflussmöglichkeiten von reichen Akteuren und der geringeren Partizipation ärmerer Bevölkerungsschichten. Ihre Wahrnehmung ist stark ideologisch geprägt und kaum durch individuelle Faktoren beeinflusst. Die Analyse zur Wahlkampffinanzierung legt neben parteispezifischen Mustern ungleiche Zugangschancen zum Parlament für Menschen mit geringem Vermögen offen, da sie weniger Spenden akquirieren und einen relativ höheren Anteil ihres Vermögens für den Wahlkampf aufwenden müssen. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 4, S. 889 – 911]
Schliesky, Utz: Parlamentarische Öffentlichkeit in der digitalen Welt: Ein neuer Strukturwandel?
Wie (fast) alle anderen Lebensbereiche auch, so wird auch die parlamentarische Öffentlichkeit erheblich von der Digitalisierung verändert. Viele Arbeitsprozesse profitieren von den digitalen Möglichkeiten, aber gerade die „sozialen“ Netzwerke tragen zum Abbau der parlamentarischen Öffentlichkeit bei, wie wir sie seit Jahrzehnten kennen. Der Beitrag widmet sich diesen Schattenseiten der Digitalisierung und arbeitet anhand von zehn Aspekten heraus, wie die parlamentarische Demokratie sich durch digitale Instrumente ihrer parlamentarischen Öffentlichkeit beraubt. Mit fünf Vorschlägen wird versucht, die parlamentarische Demokratie mit ihrer parlamentarischen Öffentlichkeit auch im digitalen Zeitalter wehrhaft zu etablieren. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 4, S. 912 – 922]
Vowe, Gerhard: Wandel der Kommunikation in der digitalen Welt: Pluralisierung, Individualisierung und Dynamisierung als Herausforderungen für Parlamente.
Wie verändert sich parlamentarische Kommunikation dadurch, dass Parlamente, Ausschüsse, Fraktionen und Abgeordnete digitale Medien nutzen? Die drei wichtigsten Veränderungen: (1) Parlamentarische Kommunikation pluralisiert sich: Es sind mehr parlamentarische Stimmen zu vernehmen. (2) Sie individualisiert sich: Botschaften werden stärker individuell zugeschnitten. (3) Sie dynamisiert sich, also schneller und kürzer, volatiler und überraschender. Diese Veränderungen sind ambivalent. Utz Schliesky warnt im Anschluss an Jürgen Habermas nachdrücklich vor Gefahren. Dagegen ist einzuwenden: Die Warnungen sind nicht hinreichend empirisch gedeckt. Denn es gibt nach 30 Jahren Erfahrung mit digitalen Medien keine Evidenz für einen Niedergang der Parlamente, der in einen Untergang mündet. Zudem würde ein internationaler Vergleich von Parlamenten keine Evidenz dafür ergeben, dass ein Parlament umso mehr an Bedeutung für die öffentliche Meinungsbildung verlöre, je mehr es digitale Möglichkeiten nutzte. Und vor allem: Die Sicht vom Zerfall des Parlaments durch digital basierte Kommunikation wird von parlamentarischen Akteuren nicht geteilt – im Gegenteil. Gegen die von Utz Schliesky vorgeschlagenen Maßnahmen spricht: (1) Statt einer „Selbstbeschränkung“ wäre ein Kommunikationskodex für Abgeordnete sinnvoll. (2) Bei den „Spielregeln für digitale Räume“ bleibt offen, wo eine Regulierungslücke klafft. (3) Und „öffentlich-rechtliche digitale Plattformen“ sind politisch keinesfalls durchsetzbar. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 4, S. 923 – 930]