Korte, Karl-Rudolf: Kommt es auf die Person des Kanzlers an? Zum Regierungsstil von Helmut Kohl in der „Kanzlerdemokratie“ des deutschen „Parteienstaates“.
Analysen der Vergleichenden Regierungslehre zeigen, daß personale Faktoren durch politisch-institutionelle sowie zeitbedingt-strukturelle Ansätze ergänzt werden müssen. Im Führungsstil von Helmut Kohlspielt zum einen die hierarchieunabhängige Integration von loyalen Machtakteuren eine wichtige Rolle. Dadurch sichert sich Kohlnicht nur einen Informationsvorsprung vor den amtlichen Kanälen des Regierungsapparates, sondern auch seine Unabhängigkeit gegenüber den Vereinnahmungsversuchen von Partei und Administration. Zum zweiten ist die Moderation von Konflikten im Vorfeld der Entscheidungsgremien bei gleichzeitiger Vermeidung von persönlich vertretenen, inhaltlich konkreten Festlegungen zu nennen. Schließlich sicherte Kohl die Macht seiner Richtlinienkompetenz durch die unbestreitbare Herrschaft über die CDU, die er vom Wahlsieg 1983 ab systematisch vorantrieb und die seinem spezifischen Modell von einer Kanzlerdemokratie im Parteienstaat entspricht. Zwar prägt jeder Kanzler einen eigenen Führungsstil, so daß es durchaus auf die Person des Kanzlers ankommt. Dieser Stil ist jedoch immer von den jeweiligen politischen Machtkonstellationen abhängig. Gegenüber der sich ausbreitenden neuen Hilflosigkeit — angesichts fehlender nationaler Lösungsinstanzen für die vielfältigen Probleme unserer Zeit — legitimiert Kohl durch Amtsdauer und Charisma den Wunsch nach politischer Stabilität mit all seinen Widersprüchlichkeiten: Jede Ankündigung von Veränderungen muß in dem Versprechen münden, daß am Ende alles so bleiben wird wie bisher. Kohl verkörpert gleichzeitig Ruhe und Reform. Das ist der — auch vom Kanzlerkandidaten der Opposition offenbar nicht anders gesehene — Spielraum für Führungsleistungen ins Rahmen einer Politik mit Koalitionsregierungen, Proporzpluralismus und einer politischen Kultur des Konsenses. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 3, S. 387 ff.]
Brettschneider, Frank: Kohl oder Schröder: Determinanten der Kanzlerpräferenz gleich Determinanten der Wahlpräferenz.
Zusammen mit der „Personalisierung der Politik“ wird häufig eine Verschiebung der Beurteilungsmaßstäbe von Spitzenpolitikern behauptet: Unpolitische Merkmale wie Charme oder Aussehen würden für die Beurteilung von Kanzlerkandidaten wichtiger, ihre politischen Qualifikationen gerieten hingegen in den Hintergrund. Am Beispiel von Helmut Kohl und Gerhard Schröder wird — basierend auf Umfragedaten — gezeigt, daß sich die Einstellungen zu den beiden Bewerbern um das Kanzleramt zu vier Dimensionen zusammenfassen lassen: Problemlösungskompetenz, Managerfälligkeiten, Integrität und persönliche Merkmale. Vor allem die Wahrnehmung der Problemlösungskompetenz und der Integrität der Kandidaten wird stark von der Parteineigung der Wahlberechtigten beeinflußt. Managerfähigkeiten und persönliche Merkmale werden dagegen parteiunabhängiger wahrgenommen. Der negative Gesamteindruck Kohls beruht vor allem auf der Einschätzung, er sei politisch „nicht vertrauenswürdig“, der positivere Gesamteindruck Schröders vor allem darauf, er sei tatkräftig. Persönliche Merkmale sind — entgegen der Personalisierungsbehauptung — zwar nicht unbedeutend, aber keineswegs dominant. Die Beurteilungen von Kohl und Schröderführen zu einer eindeutigen Kanzlerpräferenz: Eine große Mehrheit der Bevölkerung würde sich bei einer Direktwahl des Kanzlers für Schröder entscheiden; allerdings erweist sich die Parteineigung der Befragten nach wie vor als der wichtigste Faktor zur Erklärung der Kanzlerpräferenz. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 3, S. 401 ff.]
Deinert, Rudolf Günter: Die PDS, die rechten Parteien und das Alibi der „Politikverdrossenheit“. Die Beweggründe westdeutscher Rechts- und ostdeutscher PDS-Wähler auf dem empirischen Prüfstand.
Die Untersuchung analysiert – anhand von IPOS-Studien der Jahre 1992, 1993 und 1995 — den Zusammenhang von geringer Zufriedenheit mit der Demokratie und mangelndem Vertrauen zu politischen Institutionen einerseits mit der Wahl rechts- und linksextremistischer Parteien andererseits. Mit Hilfe multinationaler logistischer Regressionsmodelle wird gezeigt, daß die gemessenen Verdrossenheitskomponenten sehr unterschiedliche Wirkungen auf die Wahl extremer Parteien entfalten: Praktisch keinen Einfluß auf die Wahlentscheidung zugunsten einer extremen Partei hat die Bewertung der Einrichtungen des Rechts- und Verwaltungsstaates. Stattdessen spielt in erster Linie abnehmendes Vertrauen gegenüber den Institutionen des Parteienstaates eine Rolle. Allein die Unzufriedenheit mit der Demokratie ist ein gemeinsames Motiv von westdeutschen Rechts- und ostdeutschen PDS-Wählern. Die Logit-Modelle zeigen allerdings, daß Demokratieunzufriedenheit keine signifikante Bedeutung mehr besitzt, wenn es darum geht, zwischen den Optionen Extremwahl und Wahl einer sonstigen nichtetablierten Partei beziehungsweise Nichtwahl zu unterscheiden. Hier gewinnen dann andere Faktoren — vor allem die ideologische Selbsteinstufung und im Osten die Stärke der Kirchenbindung — an Einfluß auf die Entscheidung für oder gegen eine Extrempartei. Dies verdeutlicht einmal mehr, daß politische Unzufriedenheit für sich genommen nicht ausreicht, um die Wahl extremer Parteien zu erklären. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 3, S. 422 ff.]
Thränhardt, Dietrich: Die DVU: eine virtuelle Partei, durch manipulierbares Wahlrecht begünstigt – ein Plädoyer zur Wahlrechtsreform.
Wahlrechtsdiskussionen sind bisher meist um die Grundsatzfrage Mehrheils- oder Verhältniswahlrecht geführt worden, die konkrete Ausgestaltung des Systems personalisierter Verhältniswahl wurde darüber vernachlässigt. Das Zwei-Stimmen-Wahlrecht, wie es auf Bundesebene und in einigen Ländern praktiziert wird, ist anfällig für Manipulationen, enthält ein eingebautes Mißverständnis in bezug auf die Relevanz der „Zweitstimme“ und erleichtert den Einbruch virtueller Parteien wie der DVU. Dagegen verbinden die beiden Formen des Einstimmen-Wahlrechts, die in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg gelten, die Positiva der Personalisierung und des Verhältniswahlrechts. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 3, S. 441 ff.]
Bergsdorf, Harald: Rechtsextreme Parteien in Deutschland und Frankreich: durch das Fernsehen bekämpft oder befördert?
Häufiger als in Deutschland suchen Medienverantwortliche in Frankreich die direkte Auseinandersetzung mit rechtsextremistischen Politikern, deren Fernsehauftritte meist Einschaltquoten hochtreiben. Es wird argumentiert, daß eine freiheitliche Demokratie auch solche Auseinandersetzungen mit immerhin unverbotenen, damit aber keineswegs umfassend verfassungstreuen Parteien aushalten muß. Ohnehin sei mit Blick auf die deutschen Erfahrungen fraglich, ob ein Fernsehboykott wirksam sei, da die Gründe für Wahlerfolge solcher Parteien vielschichtiger erscheinen. In Deutschland dominiert dagegen die Sorge von Politikern und Medienverantwortlichen, rechtsextremistische Politiker könnten das Fernsehen als willkommene Bühne nutzen und damit die freiheitliche Demokratie beschädigen. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 3, S. 449 ff.]
Jesse, Eckhard: Koalitionsveränderungen 1949 bis 1994: Lehrstücke für 1998?
Die Bundesrepublik Deutschland ist auf Bundesebene eine Koalitionsdemokratie. Koalitionsveränderungen — gemeint ist jede parteipolitische Veränderung — haben sich einerseits nach Wahlen, andererseits innerhalb der Legislaturperiode ergeben. Zwei der drei größeren Koalitionsveränderungen (1966, 1969, 1982) vollzogen sich zwischen den Bundestagswahlen. Für das Szenario nach der Bundestagswahl 1998 stehen drei Varianten im Vordergrund: Fortsetzung der „schwarz-gelben“ Koalition, eine „rot-grüne“ oder eine große Koalition (entweder mit einem CDU- oder einem SPD-Kanzler). Vieles spricht wegen des wahrscheinlichen Einzugs der PDS in den Deutschen Bundestag für eine große Koalition. Ausgerechnet die Partei, die kein Gralshüter der parlamentarischen Demokratie ist, trüge wider Willen zur Stabilisierung des politischen Systems und zur Auflösung des Reformstaus bei. Einen „ungefilterten“ Regierungswechsel hat es auf Bundesebene bisher noch nicht gegeben. Der FDP kommt nach der Bundestagswahl 1998 allerdings nicht mehr die aktive Rolle zu wie 1966, 1969 und 1982. „Lehrstücke“ für die Koalitionsbildung im Jahre 1998 sind die Erfahrungen von 1949 bis 1994 nur begrenzt. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 3, S. 460 ff.]
König, Thomas: Regierungswechsel ohne politischen Wandel? Ein Vergleich des wirtschaftspolitischen Handlungsspielraums der Regierung Kohl, einer RegierungSchröder, einer Großen Koalition und einer SPD-Alleinregierung.
Mit dem Ausgang der Bundestagswahl am 27. September 1998 stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten die verschiedenen Regierungsalternativen für den Abbau des Reformstaus haben werden. Zur Beantwortung dieser Frage ist der wirtschaftspolitische Handlungsspielraum der vier „realistischen“ Regierungsalternativen — der CDU/CSU-FDP-Regierung Kohl, einer SPD-Bündnis 90/Die Grünen-Regierung Schröder, einer SPD-CDU/ CSU Großen Koalition und einer SPD-Alleinregierung — zu vergleichen. Mit Hilfe des Handlungsintervall-Modells erfolgt die Bemessung des Handlungsspielraums aus dem Zusammenspiel des jeweiligen regierungspolitischen Agenda-Setzers, den institutionellen Vorgaben für die Zustimmungs- und Einspruchsgesetzgebung, den Politikvorstellungen der Gesetzgebungsakteure und der Lage des Status quo. Gegenüber der Regierung Kohl, deren Handlungsspielraum insbesondere in der Zustimmungsgesetzgebung reduziert ist, bestünden für eine Regierung Schröder keine Unterschiede zwischen beiden Verfahren. Eine SPD-Alleinregierung könnte insoweit sogar uneingeschränkt regieren, während eine Große Koalition den geringsten Handlungsspielraum in beiden Verfahren besäße. Schließlich zeigt der Vergleich, daß weder eine Parteipolitisierung noch institutionelle Vorgaben die Blockadegefahr in der Gesetzgebung erhöhen. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 3, S. 478 ff.]
Glauben, Paul J.: Privatisierung als Preisgabe parlamentarischer Hausgüter.
Die Sicherstellung parlamentarischer Rechte bei der Privatisierung öffentlicher Aufgaben und Einrichtungen ist ein aus dem Demokratieprinzip folgendes Verfassungsgebot. Dies gilt in erster Linie für die sogenannte formelle Privatisierung, aber auch für die Beteiligung der öffentlichen Hand an privaten Unternehmen. Parlamentarier werden ihrer Kontrollverantwortung nicht schon dadurch gerecht, daß einige von ihnen in den Aufsichtsgremien der privatisierten Rechtsträger sitzen. Der Wahrnehmung parlamentarischer Verantwortung stehen die bundesgesetzlichen Bestimmungen des Gesellschaftsrechts prinzipiell nicht entgegen. Vielmehr ist die Sicherstellung ausreichender parlamentarischer Kontrolle Teil des Staatsorganisationsrechts der Länder. Außerdem stellt der Grundrechtsschutz des Unternehmens allenfalls eine relative Schranke dar. Sofern sich das privatisierte öffentliche Unternehmen wegen der Beteiligung Privater überhaupt auf Grundrechte berufen kann, dürfte der verhältnismäßige Eingriff in den grundrechtlichen Schutzbereich regelmäßig verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, wenn er dem Ziel dient, eine ausreichende parlamentarische Kontrolle sicherzustellen. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 3, S. 496 ff.]
Stephan, Ina: Menschen — Mächte — Mechanismen. Zum Verständnis nicht nur der französischen Parteien. Zugleich eine Replik auf Dirk Zadra.
Der ausschließliche Fokus auf Personen verleitet zu der Annahme, daß Parteien in Frankreich erst dann institutionalisiert seien, wenn es nach einem Wechsel an der Parteispitze der neuen Führungspersönlichkeit gelinge, die Partei in ihren Dienst zu stellen. Hierbei werden — wie in einem vorausgegangenen Aufsatz von Dirk Zadra in Heft 4/1997 der ZParl — allerdings sowohl Veränderungen von Rolle und Funktion der Parteien vor allem in den achtziger Jahren als auch deren Wandlungs- und Reformfähigkeit nicht berücksichtigt. Aus kontrastierender Perspektive findet zunächst eine Begriffsklärung der Partei „à la française“ statt, die den funktionalen Bedeutungszuwachs sowie eine erhöhte Legitimität von Parteien im politischen System Frankreichs nachweist. Dieser Prozeß setzte mit dem Machtwechsel 1981 ein, wurde verstärkt durch die Kohabitationen, die zu einem Machtzuwachs der Nationalversammlung und der in ihr vertretenen Parteien führten, sowie durch die Gesetze zur Parteien- und Wahlkampffinanzierung. Seit der Einführung der Direktwahl des Präsidenten (1962) „präsidentialisierte“ sich zwar das politische System, doch haben Bedeutungszuwachs und Selbstverständnis der Parteien einem einseitigen Personalismus entgegengewirkt. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 3, S. 510 ff.]
Kaiser, André: Vetopunkte der Demokratie. Eine Kritik neuerer Ansätze der Demokratietypologie und ein Alternativvorschlag.
Im Mittelpunkt des „neuen“ Institutionalismus steht der ursprünglich von Arend Lijphart unterbreitete Vorschlag, die beiden polaren Typen Mehrheitsdemokratie und Konsensusdemokratie anhand eines Sets von institutionellen Merkmalen zu unterscheiden. Die Operationalisierungsvorschläge vonColomer/Huber/Ragin/Stephenswerden vorgestellt und problematisiert. Die größte Schwierigkeit dieser typologischen Vorgehensweisen ist, daß den vorgeschlagenen Indikatoren eine unrealistische Identitätsvermutung zugrunde liegt. Es wird nämlich implizit angenommen, daß die institutionellen Merkmale jeweils entweder den mehrheitsdemokratischen oder den konsensusdemokratischen Charakter des politischen Systems stärken. Demgegenüber wird hier ein Vorschlag präsentiert, der explizit nicht mit identischen Indikatoren arbeitet. Er gründet auf der Idee, daß Institutionen strategische Kontexte für politische Akteure etablieren, die als Vetopunkte im politischen Entscheidungsprozeß genutzt werden können. [ZParl, 29. Jg. (1998), H. 3, S. 525 ff.]