Biermann, Rafael: Der Deutsche Bundestag und die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Zur Gratwanderung zwischen exekutiver Prärogative und legislativer Mitwirkung.
Die Verabschiedung eines „Parlamentsbeteiligungsgesetzes“ oder auch „Entsendegesetzes“, das die Modalitäten der Mitwirkung des Bundestages bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr regelt, scheint kurz bevorzustehen. Die deutsche Politikwissenschaft hat diese Frage weitgehend den Verfassungs- und Wehrrechtlern überlassen, obwohl sehr grundlegende Weichenstellungen im Verhältnis von Parlament und Regierung im außenpolitischen Entscheidungsprozess zur Debatte stehen. Ausgehend von der These der „Entparlamentarisierung“ der deutschen Außenpolitik ist zu fragen, (1) inwieweit das Streitkräfteurteil des BVerfG von 1994 einer Rückverlagerung von Kompetenzen in den parlamentarischen Raum Vorschub geleistet hat, und (2) wie effizient und zukunftsträchtig das bisherige Verfahren ist. Die Beantwortung dieser Fragen muss die komplexe Interdependenz der internationalen wie nationalen Entscheidungsebenen ebenso berücksichtigen wie die informellen Abstimmungsverfahren, die sich inzwischen eingespielt haben. Im Ergebnis zeigt sich, dass sich das Verfahren insgesamt bewährt hat; allerdings ist es auch notwendig, über Maßnahmen zur Effizienzsteigerung, insbesondere bei großer Eilbedürftigkeit und Geheimhaltung, nachzudenken. [ZParl, 35. Jg., H. 4, S. 607 ff.]
Austritt, Ausschluss, Rechte: Der fraktionslose Abgeordnete.
Eine Veranstaltung der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen.
Vortrag I von Hans Hugo Klein.
Parlamentsfraktionen müssen handlungs- und entscheidungsfähig sein. Das erfordert und rechtfertigt ein gewisses Maß an Fraktionsdisziplin, die allerdings ihre Grenzen in der jedem Abgeordneten zustehenden Freiheit des Mandats findet. Diese ist vom Ausschluss aus einer Fraktion berührt, denn damit sind tatsächliche Minderungen des Einflusses des Abgeordneten auf den Willensbildungsprozess des Parlaments und gewisse Beeinträchtigungen seiner Rechtsstellung verbunden. Daher ist der Ausschluss aus einer Fraktion nicht aus beliebigem Grund, sondern nur dann zulässig, wenn das weitere Verbleiben des Abgeordneten in der Fraktion deren Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit nicht nur fallweise, sondern auf Dauer schweren Schaden zufügt. [ZParl, 35. Jg., H. 4, S. 627 ff.]
Vortrag II von Martin Morlok.
Der fraktionslose Abgeordnete hat weniger Rechte als der fraktionsangehörige. Daher sind Abgeordnete vor einem unberechtigten Ausschluss zu schützen. Fraktionen sind freiwillige Zusammenschlüsse von Abgeordneten, ihre rechtliche Konstruktion basiert auf dem Abgeordnetenrecht. Ein subjektives Recht auf Fraktionsmitgliedschaft gibt es nicht, allenfalls könnten die bereits einer Fraktion angehörigen Abgeordneten eine Art Bestandsschutz genießen. Bei der Beurteilung eines Fraktionsausschlusses müssen aber auch die Gegenrechte der anderen Abgeordneten in der Fraktion berücksichtigt werden. Insbesondere wirken sich hier die Funktionen der Fraktionen als Arbeits-, Tendenz- und Wettbewerbsgemeinschaft aus. Von Bedeutung ist die prozedurale Ausformung des Fraktionsausschlusses. Allerdings sind formale Anknüpfungspunkte allein nicht ausreichend, weil sie jegliche gerichtliche Überprüfung des Inhalts verhindern und so materiellem Unrecht nicht hinreichend begegnen werden kann. Daher ist zu befürworten, auch inhaltliche Anforderungen in die Geschäftsordnungen der Fraktionen aufzunehmen; sinnvoll erscheint eine Generalklausel („wichtiger Grund“ für einen Fraktionsausschluss). [ZParl, 35. Jg., H. 4, S. 633 ff.]
Trampusch, Christine: Von Verbänden zu Parteien. Elitenwechsel in der Sozialpolitik.
Zwischen 1972 und 2002 sind in der deutschen Sozialpolitik die Verflechtungen von Bundestagsabgeordneten und in Parteien tätigen Politikern mit dem Bereich der gesellschaftlichen Interessenträger zurückgegangen. Die Bindungen der Mitglieder des Bundestagsausschusses für Arbeit und Sozialordnung an sozialpolitische Organisationen wie Gewerkschaften, kirchliche sozialpolitische Verbände, Freie Wohlfahrtsverbände, Betriebsräte und Institutionen der Sozialversicherungen haben sich abgeschwächt. Die Karrieren der Abgeordneten deuten einen Trend der funktionalen Differenzierung an. Seit den 1990er Jahren üben die im Bundestag vertretenen Sozialpolitiker mehr Politik und weniger Sozialpolitik als Beruf aus. Sie sind stärker parteipolitisch interessiert und haben sich von den Verbänden und sozialpolitischen Organisationen distanziert. [ZParl, 35. Jg., H. 4, S. 646 ff.]
Pilz, Volker: Moderne Leibeigenschaft? Berufsbild und soziale Absicherung der persönlichen Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten.
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages beschäftigen in privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen etwa 4000 persönliche Mitarbeiter. Diese unterstützen die Abgeordneten bei der Erledigung der parlamentarischen Arbeit, indem sie ihnen inhaltlich und organisatorisch zuarbeiten. Ihre Tätigkeit stellt heutzutage eine wesentliche Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des Parlaments dar. Eine Analyse des Berufsbildes und der Aufgaben der Abgeordnetenmitarbeiter sowie ihrer sozialen Absicherung offenbart Defizite in den derzeitigen Regelungen des Arbeitsverhältnisses. Die Position als Mitarbeiter bei einem Abgeordneten gehört zu den unsichersten und sozial am wenigsten abgesicherten, die im Dunstkreis der Berliner Politik angeboten wird. Eine Neuregelung des Arbeitsverhältnisses ist daher dringend geboten. [ZParl, 35. Jg., H. 4, S. 667 ff.]
Biehl, Heiko: Parteimitglieder neuen Typs? Sozialprofil und Bindungsmotive im Wandel.
Nach dem einhelligen Urteil der Forschung ist ein „neuer Typus von Parteimitglied“ auf dem Vormarsch, dem persönliche Ambitionen wichtiger seien als normative und affektive Bindungsmotive an seine Partei. Demzufolge dominieren in den Parteien ressourcenstarke Bürger, wodurch sich die Sozialprofile der diversen Mitgliedschaften immer stärker anglichen. Diese These trifft teilweise zu. Eine Umfrage unter Parteimitgliedern sowie – parallel gehalten – in der Bevölkerung zeigt, dass insbesondere Akademiker mittlerweile in allen Parteien dominieren. Eine wesentliche Verschiebung der Bindungsmotive von affektiven zu instrumentellen Momenten kann hingegen nicht festgestellt werden. Unter demokratietheoretischer Perspektive stellt sich die Überrepräsentation ressourcenstarker Bürger als problematisch dar, da die Parteien einen Funktionswandel vollzogen haben: Waren sie früher politisches Instrument unterprivilegierter Schichten, so dienen sie heutzutage der politischen Betätigung ökonomisch und sozial bereits bevorzugter Bürger. Den unteren gesellschaftlichen Gruppen fehlt hingegen ein geeigneter Kanal, um sich politisch zu engagieren. [ZParl, 35. Jg., H. 4, S. 681 ff.]
Demuth, Christian: Neue Rekrutierungs- und Professionalisierungsstrategien der Parteien: Fort- und Weiterbildung der Mitglieder.
Die deutschen Parteien müssen in Zukunft neue Aufgaben mit immer weniger Mitgliedern meistern. Als Reaktion auf diese Situation haben sie begonnen, Fort- und Weiterbildungsstrategien zu entwickeln, welche es ihnen ermöglichen sollen, professioneller ihre Funktionen wahrzunehmen, neue Mitglieder zu werben und passive zu aktivieren. Auch schon früher hat es solche Fort- und Weiterbildungen in den Parteien gegeben; sie haben jedoch in den letzten Jahren andere Dimensionen und eine andere Zielrichtung erhalten. Die neuen Rekrutierungs- und Professionalisierungsstrategien stoßen allerdings auf eine Vielzahl von strukturellen und kulturellen Schwierigkeiten und Problemen. Nicht nur die Tatsache, dass Politiker einer Weiter- und Fortbildung oftmals grundsätzlich eher skeptisch gegenüberstehen, sondern auch die organisatorische Wirklichkeit der Parteien machen es fraglich, ob die Hoffnungen der Parteimodernisierer sich erfüllen werden. [ZParl, 35. Jg., H. 4, S. 700 ff.]
Strohmeier, Gerd: Der Bundesrat: Vertretung der Länder oder Instrument der Parteien?
Seit geraumer Zeit wird kritisiert, dass im Bundesrat nicht – wie ursprünglich intendiert – die Interessen der Länder, sondern jene der Parteien vertreten werden. Diese weitgehend unüberprüfte These kann mithilfe eines quantitativen Vergleichs empirisch erhärtet werden. Die Untersuchung wesentlicher Schlüsselstellen des Gesetzgebungsprozesses in Perioden gleicher parteipolitischer Mehrheiten und solchen mit unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat zeigt, dass die Parteipolitik in der Tat das Entscheidungsverhalten des Bundesrats maßgeblich beeinflusst. Da es nicht möglich ist, die Parteiinteressen aus dem Bundesrat zu entfernen, erscheintt es ratsam, im Rahmen der anstehenden Föderalismusreform bestimmte Zuständigkeiten von der Bundes- auf die Landesebene zu transferieren und dort anzusiedeln, wo sie am besten wahrgenommen werden können: in den Landesparlamenten. [ZParl, 35. Jg., H. 4, S. 717 ff.]
Wagschal, Uwe und Maximilian Grasl: Die modifizierte Senatslösung. Ein Vorschlag zur Verringerung von Reformblockaden im deutschen Föderalismus.
Als Ursache für den oft beklagten Reformstau in der Bundesrepublik gelten die häufig auftretenden gegenläufigen Mehrheiten (Divided Government) in Bundestag und Bundesrat. Um den Stellenwert der wichtigsten Vorschläge zur Reform der Länderkammer, die am Bestimmungsmodus sowie an der Entscheidungsregel ansetzen, einschätzen zu können, ist ein internationaler Vergleich hilfreich, um „Best Practice“-Erfahrungen abzuleiten. Außerdem kann in Simulationen die Wirkung der Vorschläge auf die gegenläufigen Mehrheiten geprüft werden, die von September 1949 bis März 2004 in knapp 65 Prozent der Zeit bestanden. Nicht alle Vorschläge – bei Konstanz der Rahmenparameter – würden eine Verringerung des Divided Government mit sich bringen. Am aussichtsreichen erscheint dafür eine modifizierte Senatslösung. Sie würde am stärksten zu einer Reduktion der gegenläufigen Mehrheiten führen. Dies ist umso bedeutender, als zunehmende Volatilität der Wähler sowie ansteigende Verluste von Regierungsparteien bei nationalen sowie Second-Order-Wahlen in Zukunft ohnehin die Wahrscheinlichkeit gegenläufiger Mehrheiten erhöhen werden. [ZParl, 35. Jg., H. 4, S. 732 ff.]
Batt, Helge: Bundesverfassungsgericht und Föderalismusreform: Stärkung der Länder in der Gesetzgebung. Zum Urteil vom 27. Juli 2004 – 2 BvF 2/02.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil das Fünfte Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes vom 16. Februar 2002 wegen der Überschreitung der Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes für unvereinbar mit dem Grundgesetz und daher nichtig erklärt. Damit wurde die von der Bundesregierung angestrebte Einführung der Juniorprofessur als einzig verbindlichem Weg zu einer Professur gestoppt. Gleichzeitig hat dieses Urteil erhebliche Bedeutung für das künftige Machtverhältnis zwischen Bund und Ländern. Die restriktive Konkretisierung der Erforderlichkeitsklausel in Art. 72 GG wird den künftigen Handlungsspielraum des Bundesgesetzgebers in der konkurrierenden Gesetzgebung und der Rahmengesetzgebung erheblich einschränken. Mit dieser Rechtsprechung, die der Linie treu bleibt, die das BVerfG bereits 2002 mit dem Urteil zum Altenpflegegesetz eingeschlagen hatte, stärkt das Gericht erneut die Rechte der Bundesländer und zieht die Konsequenzen aus den Verfassungsänderungen des Jahres 1994. [ZParl, 35. Jg., H. 4, S. 753 ff.]
Winter, Thomas von: Vom Korporatismus zum Lobbyismus. Paradigmenwechsel in Theorie und Analyse der Interessenvermittlung.
Die gehäufte Verwendung des Begriffs Lobbyismus in Sozialwissenschaft und Journalismus reflektiert einen grundlegenden Wandel im Verhältnis von Interessengruppen und Staat. Strukturreformen unter den Bedingungen der Globalisierung, eine Ausdifferenzierung der Verbändelandschaft und die Entstehung neuer Typen von Interessengruppen führen zur Informalisierung von Politikprozessen. Die etablierte institutionalisierte Interessenvermittlung wird so zunehmend durch punktuelle Einflussnahme von Lobbyisten abgelöst. Verbände- und Policyforschung in Deutschland haben eine Fülle von Erkenntnissen zur Inputseite der Interessenvermittlung beigetragen, die als Anknüpfungspunkte für den notwendigen Paradigmenwechsel vom Korporatismus zum „Lobbyismus“ dienen können. Um die Frage nach dem Einfluss und den Erfolgsbedingungen von Lobbyisten beantworten zu können, bedarf es jedoch komplexer Forschungsdesigns, wie sie die traditionsreiche US-amerikanische Lobbyismusforschung bereithält. Nötig ist zugleich ein theoretisches Konzept, das Lobbyismus als einen Tauschprozess versteht, der unter der Bedingung wechselseitiger Abhängigkeit von Interessengruppen und Staat stattfindet. [ZParl, 35. Jg., H. 4, S. 761 ff.]
Lahusen, Christian: Institutionalisierung und Professionalisierung des europäischen Lobbyismus.
Der europäische Integrationsprozess wurde stets von der Etablierung europaweit agierender Interessengruppen begleitet. Nach Einschätzung der EU-Institutionen übernehmen diese Akteure wichtige Aufgaben, so etwa die Einbringung von Informationen, die Sicherung von Gefolgschaft und die Unterstützung weiterer Integrationsschritte mit Blick auf die Vertiefung und Erweiterung der EU. Die allmähliche Institutionalisierung und Professionalisierung der europäischen Interessenvertretung, ihre Bedingungen, Entwicklungsverläufe und Strukturmerkmale deuten darauf hin, dass der europäische Lobbyismus trotz offenkundiger Einflüsse aus dem angelsächsischen Raum eigenen Mustern folgt und dass die Form der Zusammenarbeit zwischen den europäischen Institutionen und den gesellschaftlichen Akteuren eine erstaunliche Kontinuität an den Tag legt. So sind informelle, dialogische und einvernehmliche Konsultationen auch weiterhin kennzeichnend; und die schwache Regulierung des europäischen Lobbyismus verdeutlicht, dass die europäischen Institutionen diese Praxis als funktional betrachten und erhalten möchten – einschließlich der damit verbundenen Probleme. [ZParl, 35. Jg., H. 4, S. 777 ff.]