Abstracts 1/2006 deutsch

Edinger, Florian: Wer misstraut wem? Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers und die Bundestagsauflösung 2005 – 2 BvE 4/05 und 7/05.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsmäßigkeit der Vertrauensfrage und der Bundestagsauflösung im Jahr 2005 bestätigt. Es hat damit die Linie seiner Entscheidung über die Vertrauensfrage Helmut Kohls fortgesetzt. Obwohl es deutlich stringenter argumentiert als 1983, bleibt Anlass zur Kritik. Die Entscheidung begünstigt die politische Inszenierung des Vertrauensverlusts von Mehrheitskanzlern, und sie überprüft die materiellen Voraussetzungen, die es aufstellt, nicht wirksam. Immerhin hält sich das Gericht die Möglichkeit offen, einzuschreiten, wenn der Weg der Bundestagsauflösung über Art. 68 GG allein dazu dient, zu Lasten der Opposition Neuwahlen zu einem für den Kanzler möglichst günstigen Zeitpunkt herbeizuführen. [ZParl, 37. Jg., H. 1, S. 28 – 39]

Niclauß, Karlheinz: Auflösung oder Selbstauflösung? Anmerkungen zur Verfassungsdiskussion nach der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers 2005.
Der Weg zur Neuwahl des Bundestages im Jahr 2005 war begleitet von einer kontroversen Diskussion in den Medien und unter Verfassungsjuristen. Im Trubel des Wahlkampfes verstummte die Debatte über die Regeln zur vorzeitigen Auflösung des Parlaments. Das einzige Resultat ist die von vielen Politikern geäußerte Absicht, ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages in das Grundgesetz aufzunehmen. Dies ist allerdings nicht ohne Risiko und kann eine Regierungskrise verlängern. Die juristischen und psychologischen Probleme der Vertrauensfrage könnten jedoch durch eine Ergänzung des Art. 68 GG gelöst werden. Ein neuer Artikel 68 a sollte dem Bundeskanzler ermöglichen, die Frage nach der Auflösung des Bundestages unmittelbar zu stellen. Die Abgeordneten wären so nicht mehr genötigt, auf eine falsche Frage eine falsche Antwort zu geben. [ZParl, 37. Jg., H. 1, S. 40 – 46]

Schmitt, Karl: Kirchenangehörige Parlamentarier in den neuen Bundesländern nach dem Systemumbruch.
Der Anteil der Kirchenmitglieder unter den ostdeutschen Abgeordneten sowohl der Landtage als auch des Bundestages kontrastiert drastisch mit dem Konfessionsproporz in der Bevölkerung. Protestanten und Katholiken, die im Osten Deutschlands nur eine Minderheit von gut einem Viertel der Bevölkerung ausmachen, stellen unter den Mandatsträgern eine Mehrheit von etwa zwei Dritteln. Befragungen zeigen, dass über den Kreis der Kirchenmitglieder hinaus für einen großen Teil der Parlamentarier der Weg in die Politik aus kirchlichem Engagement erwachsen ist. Die massive Überrepräsentation von Christen in politischen Positionen ist nicht Resultat einer von langer Hand vorbereiteten Machtübernahme der Kirchen. Sie ist vielmehr ein nichtintendiertes Nebenprodukt der den Kirchen in der DDR-Ära aufgezwungenen Auseinandersetzung mit Partei und Staat. Dass im kirchlichen Raum eine Gegenelite zu den herrschenden Parteikadern herangewachsen war, erwies sich für die Demokratieneugründung als Glücksfall: Nach dem Zusammenbruch der Parteidiktatur stand ein breites Rekrutierungsreservoir qualifizierten Führungspersonals bereit. [ZParl, 37. Jg., H. 1, S. 47 – 63]

Best, Heinrich und Stefan Jahr: Politik als prekäres Beschäftigungsverhältnis: Mythos und Realität der Sozialfigur des Berufspolitikers im wiedervereinten Deutschland.
Die Sozialfigur des Berufspolitikers beschreibt einen Politiker, der sein Leben von der Politik im Spannungsverhältnis zwischen Demokratisierung und Professionalisierung bestreitet. Karrierestruktur- und Befragungsdaten der deutschen Mitglieder des Europäischen Parlaments sowie von Abgeordneten des Bundestages und ausgewählter Landtage seit 1990 verdeutlichen, dass es sich bei dem Beruf des Politikers um eine prekäre Beschäftigung handelt, welche sich nicht als Profession im berufssoziologischen Sinne charakterisieren lässt. Der Beruf des Politikers ist vielmehr ungesichert, episodisch sowie unscharf hinsichtlich des Berufsfelds, der qualifikatorischen Voraussetzungen und des Karriereverlaufs. Er folgt trotz vergleichbarer institutioneller Rahmenbedingungen in Ost- und Westdeutschland unterschiedlichen Karrierelogiken. [ZParl, 37. Jg., H. 1, S. 63 – 79]

Geißel, Brigitte: (Un-)Geliebte Profis? Politikerverdrossenheit und Politikerprofessionalität. Daten von der lokalen Ebene.
Über den Zusammenhang zwischen der Professionalität politischer Eliten und der politischen Unzufriedenheit der Bürger ist bislang nur wenig bekannt. Sind Bürger umso kritischer, je professioneller Politiker sind? Oder verschwinden kritische Stimmen in der Bevölkerung mit der Professionalisierung der Eliten? Daten aus sechs Kommunen in der Bundesrepublik weisen darauf hin, dass die Professionalität des dortigen Führungspersonals die lokale Politikerzufriedenheit kaum beeinflusst. Hinzu kommt, dass der Zusammenhang zwischen Politikerzufriedenheit und soziodemographischen Faktoren eher gering ist, während eine deutliche Verbindung zwischen der Politikerzufriedenheit und der Wahrnehmung der Leistungen des Führungspersonals besteht. [ZParl, 37. Jg., H. 1, S. 80 – 96]


Westle, Bettina: „Wahlrecht von Geburt an“ – Rettung der Demokratie oder Irrweg?

Bundestagsabgeordnete haben in der 15. Wahlperiode einen überfraktionellen Antrag eingebracht, der die Einführung eines „Wahlrechts von Geburt“ vorsah, also eine Ausdehnung des Wahlrechts auf Kinder in Form eines Stellvertretenden Elternwahlrechts forderte. Die Pro- und Kontra–Argumente aus der Debatte können im Hinblick auf ihre Einschlägigkeit und Logik kritisch bewertet werden. Erstens gibt es Argumente, die einen stärker an Kindern, Familien und der Zukunft orientierten Policy-Output von Wahlen mit Stellvertretendem Elternwahlrecht behaupten. Zweitens wird diskutiert, ob bestimmte Anforderungen dieses Wahlrechts mit zentralen Prinzipien des gültigen – wie zum Beispiel Allgemeinheit, Gleichheit und Höchstpersönlichkeit – konform gehen würden. Ein Vergleich von relevanten politischen Orientierungen von Eltern und Kinderlosen offenbart drittens, dass Eltern mit minderjährigen Kindern nicht mit mehr politischer Verantwortung oder generell anders wählen als Kinderlose. Es zeigt sich einmal mehr, dass Gerechtigkeit und Gleichheit sich gegenseitig bedingende Grundprinzipien des demokratischen Wahlrechts darstellen. [ZParl, 37. Jg., H. 1, S. 96 – 114]

Tiefenbach, Paul: Kumulieren, Panaschieren, Mehrmandatswahlkreise – mehr Demokratie beim Wahlrecht?
In vielen deutschen Bundesländern können Bürger bei Kommunalwahlen kumulieren und panaschieren. Sie haben mehrere Stimmen, die sie unter verschiedenen Parteien und Kandidaten verteilen können. Die Erfahrungen damit sind überwiegend positiv. Ein großer Teil der Wähler nutzt die Möglichkeiten, die ihnen das Wahlrecht bietet; in kleinen Gemeinden reichen die Nutzungswerte bis zu 90 Prozent. Obwohl die Wahlrechte teilweise recht kompliziert sind, steigt die Zahl der ungültigen Stimmen nur geringfügig an. Weibliche Kandidaten werden in kleinen Gemeinden eher benachteiligt, gewinnen aber in den Städten mehr Stimmen als ihre männlichen Konkurrenten. Auch bei der Wahlbeteiligung sind kaum Veränderungen feststellbar. [ZParl, 37. Jg., H. 1, S. 115 – 125]

Schmitt, Karl: Die Landtagswahl in Thüringen vom 13. Juni 2004: Glückliche Bestätigung eines gelungenen Stabwechsels.
Bei der Wahl zum 4. Thüringer Landtag ging es vornehmlich um die Frage, ob die CDU ihre Rolle als hegemoniale Landespartei, die sie unter Ministerpräsident Bernhard Vogel erkämpft hatte, unter dessen Nachfolger Dieter Althaus verteidigen kann. Der Wahlausgang bestätigte knapp die bisherige Konstellation. Trotz starker Verluste erreichte die CDU mit 43 Prozent der Stimmen wieder die absolute Mehrheit der Sitze. Die SPD erlebte ein weiteres Debakel und mit 14,5 Prozent einen neuen Tiefststand. Dagegen konnte die PDS ihren Stimmenanteil auf 26 Prozent steigern und die SPD noch klarer als 1999 auf den dritten Platz verweisen. Bündnis 90/Die Grünen und FDP scheiterten ein weiteres Mal an der Fünf-Prozent-Hürde. Ausschlaggebend für das Wahlergebnis waren die Spitzenkandidaten. Der Popularität des neuen Ministerpräsidenten konnten seine Konkurrenten wenig entgegensetzen. Durch den Wahltermin in der Mitte der Legislaturperiode des Bundestages wirkte sich das bundespolitische Klima wie 1999 zulasten der SPD und zugunsten der CDU aus. [ZParl, 37. Jg., H. 1, S. 126 – 144]

Saretzki, Thomas und Ralf Tils: Die schleswig-holsteinische Landtagswahl vom 20. Februar 2005: Geheime Stimmverweigerung für Ministerpräsidentin Heide Simoniserzwingt Große Koalition.
Die Landtagswahl vom 20. Februar 2005 führte Schleswig-Holstein in turbulente Wochen einer heftig umstrittenen Regierungsbildung. Die SPD musste – trotz einer populären Ministerpräsidentin – hohe Verluste hinnehmen, während die CDU erheblich zulegen konnte. Die Stimmenverschiebungen führten dazu, dass weder das bisher regierende rot-grüne noch das schwarz-gelbe Lager aus eigener Kraft die Landesregierung bilden konnte. Durch diese Pattsituation geriet der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) in eine Schlüsselstellung. Der Vertretung der dänischen und friesischen Minderheiten wurde von CDU- und FDP-Politikern das Recht abgesprochen, sich durch Tolerierung an der Bildung einer rot-grünen Regierung zu beteiligen. Gleichwohl einigten sich SPD, Grüne und SSW auf ein Tolerierungsabkommen. Zusammen hatten diese drei Parteien zwar eine Mehrheit von einer Stimme im Landtag. Bei der geheimen Wahl von Ministerpräsidentin Heide Simonis verweigerte ein Abgeordneter aber seine Zustimmung, so dass die SPD gezwungen war, zusammen mit der CDU eine Große Koalition unter Peter Harry Carstensen (CDU) zu bilden. Im Rückblick erscheint die Wahl – bundespolitisch betrachtet – als erster Schritt auf dem Weg zur Neuwahl des Bundestages im Herbst 2005. [ZParl, 37. Jg., H. 1, S. 145 – 163]

Feist, Ursula und Hans-Jürgen Hoffmann: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 22. Mai 2005: Schwarz-Gelb löst Rot-Grün ab.
Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen stand die letzte auf Landesebene bestehende rot-grüne Koalition zur Disposition. Unter dem Eindruck eines doppelten Stimmungstrends – bundesweit überwiegende Kritik an der Berliner Politik, landesweit eine verbreitete Wechselstimmung – schafften es CDU und FDP, die erwartete Wählermehrheit zu mobilisieren. Der CDU kam bei ihrem Wahlsieg die gegenüber 2000 deutlich gestiegene Wahlbeteiligung zu Hilfe, wodurch ihr der Vorstoß in zuvor eher der SPD nahe stehende Wählerschichten, und zwar ins Lager der jüngeren bis mittleren Altersgruppen und der Arbeitnehmer, gelang. Zugleich blieb ihr die Stammklientel – Selbständige, Katholiken und Ältere – mehrheitlich treu. Sie honorierten die Linie des CDU-Spitzenkandidaten Jürgen Rüttgers, der – obgleich weniger populär als der Amtsinhaber Peer Steinbrück – es verstand, an die christlich-soziale Tradition seiner Partei zu erinnern und so Wählervertrauen zu gewinnen. Die in Nordrhein-Westfalen seit 39 Jahren regierende SPD hatte auf nahezu allen Feldern Vertrauen in ihre politische Kompetenz zur Problemlösung verspielt und musste ihre Vormachtstellung an die CDU abtreten. Das Stimmenwachstum konzentrierte sich dabei allein auf die CDU. Sie konnte im bürgerlichen Lager die großen Verluste der FDP kompensieren, die – knapp hinter den Grünen gelandet – die Folgen der Ära vonJürgen W. Möllemann verkraften und verantworten musste. [ZParl, 37. Jg., H. 1, S. 164 – 182]

Hilmer, Richard und Rita Müller-Hilmer: Die Bundestagswahl vom 18. September 2005: Votum für Wechsel in Kontinuität.
Bei der Bundestagswahl am 18. September 2005 verloren die bisherigen Regierungsparteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen deutlich an Stimmen; zu groß war die Unzufriedenheit mit der zweiten Regierungsperiode von rot-grün. Aber auch Union und FDP verfehlten klar die Mehrheit. Ihnen wurde zwar zugetraut, die Wirtschaft wieder voranzubringen, nicht aber den Arbeitsmarkt zu beleben. Die weitgehenden Pläne für den Umbau der Sozial- und Steuersysteme weckten zuletzt massive Zweifel an der gerechten Verteilung der Früchte des ersehnten Aufschwungs. Diese Zweifel nutzte die SPD zu einer erfolgreichen Mobilisierung ihrer Wähler in der Schlussphase des Wahlkampfs. Viele von den Folgen der Globalisierung stark verunsicherte Wähler, vor allem Arbeiter und Arbeitslose, schenkten keiner der beiden Volksparteien ihr Vertrauen, sondern entschieden sich für die Linke/PDS. Ihr Erstarken führte letztlich dazu, dass es für keines der beiden Lager zu einer Mehrheit reichte und sich eine Große Koalition als einzige tragfähige Mehrheit erwies. Das vom Wähler erzwungene Zusammengehen von CDU/CSU und SPD ist keine Absage an weitergehende Reformen, sondern Ausdruck des mehrheitlichen Willens für Reformen innerhalb des Systems sowie für ein Festhalten an einer solidarischen Gesellschaft und für Kontinuität in wichtigen sozial- und außenpolitischen Fragen. Anders als bei den beiden vorausgegangenen Bundestagswahlen standen damit eindeutig Sachthemen im Vordergrund; die Frage, wer als Kanzler künftig die Geschicke des Landes maßgeblich leiten solle, war nachrangig. [ZParl, 37. Jg., H. 1, S. 183 – 218]

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