Abstracts 2/2007 deutsch

Petersen, Anne Sophie und Viktoria Kaina: „Die Fäden habe ich in der Hand“: Arbeitsgruppenvorsitzende der SPD- und CDU/CSU-Bundestagsfraktionen.
In der breiten Öffentlichkeit sind die Arbeitsgruppenvorsitzenden der Bundestagsfraktionen weitgehend unbekannt. Der parlamentarischen Wirklichkeit wird diese selektive Wahrnehmung nicht gerecht. Den AG-Vorsitzenden der SPD- und CDU/CSU-Bundestagsfraktionen stehen nämlich diverse formelle und informelle Machtressourcen zur Verfügung, die es ihnen erlauben, regelmäßig und maßgeblich politische Entscheidungen von gesamtgesellschaftlicher Tragweite zu beeinflussen. Damit können sie zu Recht als Teil der politischen Elite Deutschlands betrachtet werden. Der Status, der ihnen parlamentsintern zukommt, korrespondiert indes in aller Regel nicht mit ihrem Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit. Es ist daher zweifelhaft, ob Prominenz ein geeignetes Merkmal zur Identifikation von Eliten ist. Allerdings verdeutlichen die Befunde ebenso, dass Prominenz inzwischen zu einer wichtigen individuellen Ressource geworden ist, die sowohl beim Aufstieg in die Führungsspitzen der Gesellschaft als auch für die Durchsetzungsfähigkeit in umkämpften Handlungsspielräumen an Bedeutung gewinnt. [ZParl, 38. Jg., H. 2, S. 243 ff.]

Kreiner, Maria: Amt auf Zeit. Eine explorative Studie zum beruflichen und politischen Verbleib ehemaliger Bundestagsabgeordneter.
Wo verbleiben Bundestagsabgeordnete, wenn sie aus ihrem Amt geschieden sind? Das ist die Ausgangsfrage einer explorativen Studie, die auf Interviews mit 38 ehemaligen Bundestagsabgeordneten basiert, die das Parlament 1994 oder 1998 verlassen haben. Demnach kehren die wenigsten in ihren vorherigen Beruf zurück, sondern wechseln in andere Tätigkeiten. Die Untersuchungsergebnisse räumen mit generalisierenden Vorurteilen gegenüber ehemaligen Berufspolitikern auf: (1) Die Parteien verfügen über keine Auffangnetze für gescheiterte Kandidaten, und (2) das Übergangsgeld wird kaum für den eigentlichen Zweck genutzt und wenn, dann ist es so spärlich, dass manche Ex-Abgeordnete sogar einen sozialen Absturz erleiden. Die meisten augeschiedenen Parlamentarier sind nach dem Mandatsende weiterhin auf unteren Ebenen politisch tätig. Ein politischer Wiedereinstieg in den Bundestag oder eine höhere politische Ebene gelingt nur selten. [ZParl, 38. Jg., H. 2, S. 261 ff.]

Zähle, Kai: Der „Hammelsprung“ im Deutschen Bundestag.
Die Auszählung der Stimmen wird entsprechend parlamentarischer Tradition als „Hammelsprung“ bezeichnet. Bei dieser Abstimmung verlassen alle Abgeordneten den Plenarsaal und werden beim Wiedereintritt durch Türen gezählt, die mit „ja“, „nein“ oder „Enthaltung“ gekennzeichnet sind. Als Sonderfall der unterschiedlichen Abstimmungsarten gibt das Ergebnis des Hammelsprunges nicht nur Auskunft über das Abstimmungsverhalten hinsichtlich des Beschlussgegenstandes, sondern auch über die Zahl der anwesenden Parlamentarier. Dieses Verfahren wird unter anderem durchgeführt, (1) wenn die Beschlussfähigkeit des Bundestages bezweifelt wird, (2) wenn sich der Sitzungsvorstand auch nach einer Gegenprobe über das Abstimmungsergebnis nicht einig ist oder (3) wenn über den Antrag auf Zurückweisung eines Einspruches des Bundesrates gegen ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz abgestimmt wird. Korrelat des Hammelsprunges ist die namentliche Abstimmung, welche die Auszählung der Stimmen ersetzt. Der Hammelsprung könnte durch die Verwendung eines Abstimmungscomputers abgelöst werden. Dieser ist jedoch in der Geschäftsordnung des Bundestages nicht vorgesehen. [ZParl, 38. Jg., H. 2, S. 276 ff.]

Pieper, Stefan Ulrich: Das Selbstauflösungsrecht für den Bundestag als Korrektur des Art. 68 GG? Anmerkungen zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. August 2005 – 2 BvE 4/05 und 2 BvE 7/05.
Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Bundestagsauflösung 2005 bestätigt hatte, wurde von verschiedenen Seiten die Einführung eines Selbstauflösungsrechts für den Bundestag gefordert. Dies sollte einer vermeintlichen Stärkung des Bundeskanzlers entgegenwirken. Zudem steht hinter den Forderungen die unausgesprochene Unterstellung, der Weg über Art. 68 GG lasse Manipulationen zu. Demgegenüber betont das Verfassungsgericht, es komme entscheidend auf das Votum des Bundestages an, was überwiegend übersehen wird. Gegen den Willen des Parlaments ist eine Verkürzung der Legislaturperiode nach Art. 68 GG ausgeschlossen. Die Einführung eines Selbstauflösungsrechts erfordert zudem eine Neukonzeption des derzeitigen anspruchsvollen grundgesetzlichen Verhältnisses von Bundestag, Bundeskanzler und Bundespräsident, das auf eine höchstmögliche Stabilität der Regierung ausgerichtet ist. Ein Selbstauflösungsrecht stärkt nach Ansicht des Verfassers nicht das Parlament. Es ist dem Verdacht von Manipulation nicht weniger ausgesetzt als die derzeitige Verfassungsrechtslage gemäß Art. 68 GG. [ZParl, 38. Jg., H. 2, S. 287 ff.]


Reutter, Werner: Struktur und Dauer der Gesetzgebungsverfahren des Bundes.

Vielfach gelten Politikverflechtung und kooperativer Föderalismus als Ursachen für die Langwierigkeit von Gesetzgebungsverfahren in Deutschland. Auch der 2006 von Bundestag und Bundesrat verabschiedeten Föderalismusreform lag die Behauptung zugrunde, dass insbesondere eine Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen die parlamentarischen Entscheidungsprozessen verlängern würde. Wissenschaftliche Untersuchungen zur Dauer und zeitlichen Struktur von Gesetzgebungsverfahren fehlen jedoch weitgehend. Eine Analyse der Dauer von Gesetzgebungsverfahren der 15. Wahlperiode (2002 bis 2005) sowie von „Schlüsselentscheidungen“ der 7. bis 15. Wahlperiode (1972 bis 2005) zeigt indes, dass eine Restrukturierung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern und eine Beschränkung der Rolle des Bundesrates sich mit dem Argument, der hohe Anteil zustimmungsbedürftiger Gesetze führe zu Entscheidungsverzögerungen, nicht rechtfertigen lassen. Die im Rahmen der Föderalismusreform verabschiedeten Änderungen des Grundgesetzes scheinen daher insgesamt nicht geeignet, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren zu beschleunigen. [ZParl, 38. Jg., H. 2, S. 299 ff.]

Krumm, Thomas: Private Bills in angelsächsischen Regierungssystemen: Legitimitätsressource oder Unterlaufen der Gewaltenteilung?
In vielen angelsächsisch geprägten Regierungssystemen besteht die Möglichkeit, auf Initiative privater Interessen Gesetzentwürfe durch einzelne Abgeordnete – die parlamentarischen „Paten“ einer solchen Initiative – einzubringen, die sich explizit zugunsten dieser privaten Akteure auswirken. Solche Private Bills können eher als Legitimationsressource oder als Entdifferenzierung der Gewaltenteilung eingeschätzt werden. Nach einem Überblick über Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Verfahrens in Großbritannien, Schottland, den USA und Kanada wird der Verfahrenstyp mit dem in der Bundesrepublik Deutschland stark eingeschränkten Gesetzestyp der Einzelfall- und Maßnahmengesetze verglichen. Private Bills sind immer noch typisches Element des „Westminster model of government“, auch wenn ihre Relevanz immer weiter sinkt. [ZParl, 38. Jg., H. 2, S. 315 ff.]

Steinack, Katrin: Auf verlorenem Posten? Eine Untersuchung zu Einflussmöglichkeiten der Opposition im Bayerischen Landtag.
Die Oppositionsrolle von SPD und Bündisgrünen im Bayerischen Landtag ist bestimmt durch die Hegemonialstellung der seit vielen Jahrzehnten allein regierenden CSU. Beide Oppositionsparteien nutzen verschiedene Ebenen und Strategien, um Einfluss auf die CSU-Fraktion und die Staatsregierung zu nehmen. Aus 21 Experteninterviews mit Mitgliedern aller drei Fraktionen sowie aus einer Untersuchung von neun Themenkomplexen (bestehend aus 21 von insgesamt 181 Gesetzesinitiativen) im 13. Landtag (1994 bis 1998) wird ermittelt, ob und in welcher Hinsicht sich die sozialdemokratische von der kleineren bündnisgrünen Fraktion in ihrem parlamentarischen Auftreten und ihren Einflussstrategien unterschied. Während die Sozialdemokraten im Bayerischen Landtag eine Strategie sachpolitischer Kooperation verfolgten und bei der Diskussion kontroverser Gesetzesinitiativen teilweise eine Moderatorenrolle einnahmen, setzte die Fraktion der Bündnisgrünen auf eine Politik der machtpolitischen Konfrontation, die vor allem im außerparlamentarischen Raum wirkte. [ZParl, 38. Jg., H. 2, S. 327 ff.]

Brandstetter, Marc: Die sächsische NPD: Politische Struktur und gesellschaftliche Verwurzelung.
Fast vier Jahrzehnte dauerte das Schattendasein der NPD als bedeutungslose Partei am rechten Rand des Parteiensystems, bis sie einen Erfolg bei der Wahl zum Sächsischen Landtag am 22. September 2004 erringen konnte. Mit 9,2 Prozent der abgegebenen Stimmen konnte die NPD zwölf Abgeordnete in das Landesparlament entsenden. Dass sich dieser Durchbruch ausgerechnet im Freistaat Sachsen einstellte, ist kein Zufall. In jahrelanger kommunalpolitischer Kleinstarbeit hat die NPD das Fundament für diesen Erfolg gelegt. Sie war bemüht, das Image einer bürgernahen „Partei der kleinen Leute“ aufzubauen und einen praxisnahen Politikstil zu pflegen, ohne jedoch ihr wahres rechtsextremes Gesicht offen zu legen. Sie vermied zudem ideologisch-aggressiv geprägte fremdenfeindliche Rhetorik. Allerdings wird die NPD seit ihrem Einzug in den Landtag von einigen Skandalen erschüttert: So schrumpfte die Fraktion von zwölf auf acht Mitglieder. Insgesamt erscheint der Erfolg in Sachsen 2004 nicht leicht wiederholbar, weil damals verschiedene die Partei begünstigende Faktoren (wie die generelle Ablehnungshaltung gegenüber den Hartz IV-Gesetzen) zusammentrafen. [ZParl, 38. Jg., H. 2, S. 349 ff.]

Feldkamp, Michael F.: Reichstag und Bundestag. Edition eines wiederentdeckten Vortrags von Paul Löbe aus dem Jahre 1951.
Der Alterspräsident des Deutschen Bundestages 1949, Paul Löbe(1875 bis 1967), verglich 1951 vor den Mitgliedern der „Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft“ die Entwicklungen des jungen Bundestages mit seinen Erfahrungen als langjähriger Reichstagspräsident in der Weimarer Zeit (1920 bis 1924 und 1925 bis 1932). Der Vortrag wird hier erstmals abgedruckt und kommentiert. Im Mittelpunkt stehen Verfahrensregelungen beim Ablauf der Plenarsitzungen, aber auch Verhaltensregeln von Abgeordneten und Fragen einer angemessenen Parlamentskultur. Löbe vermittelt ein lesenswertes und ungeschminktes Stimmungsbild aus den Anfangsjahren des Bundestages, der sich erst ein halbes Jahr später eine ausgereifte, die so genannte Endgültige Geschäftsordnung gab. Die postume Veröffentlichung von Löbes Beitrag rundet sein publizistische Œuvre ab, seine Lebenserinnerungen von 1949 werden durch die persönliche Bestandsaufnahme der Arbeit des Bundestages im zweiten Jahr seines Bestehens sinnvoll ergänzt. [ZParl, 38. Jg., H. 2, S. 376 ff.]

Thaysen, Uwe und Jürgen W. FalterFraenkel versus Agnoli? Oder: Was ist aus der „Parlamentsverdrossenheit“ der 60er Jahre für die heutige „Postparlamentarismus“-Diskussion zu lernen?
Die Autoren ergänzen die von Wolfgang Kraushaar im vorherigen Heft dieser Zeitschrift veröffentlichten Darlegungen zum Illiberalismus der außerparlamentarischen Opposition der „Achtundsechziger“, besonders zum Antiparlamentarismus von Johannes Agnoli. Rückblickend decken sie ein Stück damit verbundener Geschichte studentischer Zeitschriften auf, in welches sie zusammen mit Agnoliverwickelt waren. Dabei werden auch Motive dokumentiert, die 1969/70 zur Gründung der ZParl beitrugen. Mittels einiger Hypothesen zum Demokratie- und Parlamentsverständnis von Ernst Fraenkel wird der Frage nachgegangen, warum dieser kritische Freund des Parlamentarismus seine „schützende Hand“ über Agnoligehalten, diesen gar „gefördert“ habe beziehungsweise haben könnte. Außerdem werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der seinerzeitigen „Parlamentsverdrossenheit“ mit heutigem „Postparlamentarismus“ skizziert, um damit zu deren vertiefter Diskussion einzuladen. Wie groß ist der Schritt vom „Parlamentsverdruss“ zum „Parlamentsüberdruss“? Die Autoren bezweifeln die politische und wissenschaftliche Tauglichkeit der Begriffe „Postdemokratie“ und „postparlamentarisches Regierungssystem“. [ZParl, 38. Jg., H. 2, S. 401 ff.]

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