Risse, Horst: Zur Entwicklung der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen nach der Föderalismusreform 2006.
Ein Jahr nach dem Inkrafttreten der Föderalismusreform I stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit der mit der umfangreichsten Verfassungsreform seit 1949 einhergehenden Änderungen. Für eine differenzierte Analyse reichen die vorliegenden Erfahrungswerte noch nicht aus. Es zeichnet sich aber ab, dass ein wesentliches Ziel der Reform, die Absenkung der Quote der im Bundesrat zustimmungsbedürftigen Bundesgesetze, in durchaus beachtlichem Umfang eingetreten ist. Artikel 84 Absatz 1 GG hat seine Funktion als Hauptursache zustimmungsbedürftiger Gesetze verloren. Die neue Bestimmung über die Zustimmungsbedürftigkeit kostenträchtiger Leistungsgesetze (Artikel 104a Abs. 4 GG) trägt nicht nennenswert zur Anzahl zustimmungsbedürftiger Gesetze bei. Es spricht viel dafür, dass die Readjustierung der Regeln über die Zustimmungsrechte des Bundesrates gelungen ist. [ZParl, 38. Jg., H. 4, S. 707 ff.]
Höreth, Marcus: Zur Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen: Eine kritische Bilanz nach einem Jahr Föderalismusreform I.
Ein Jahr nach Inkrafttreten der Föderalismusreform I werden jene Verfassungsänderungen überprüft, die dazu dienen sollen, den Anteil zustimmungsbedürftiger Gesetze an der Gesetzgebung signifikant zu senken. Dazu wird die „kontrafaktische“ Methode angewendet, allerdings in anderer Weise, als dies bisher üblich war. Es wird nicht danach gefragt, wie hoch der Anteil zustimmungsbedürftiger Gesetze in der Vergangenheit mutmaßlich gewesen wäre, wenn die Reform bereits zu einem früheren Zeitpunkt in Kraft getreten wäre. Stattdessen wird mit Hilfe einer quantitativen und qualitativen Bestandsaufnahme überprüft, wie hoch der Anteil zustimmungsbedürftiger Gesetze nach September 2006 ausgefallen wäre, wenn es die Reform nicht gegeben hätte und das „alte Recht“ noch gelten würde. Diese Bilanz fällt insgesamt eher ernüchternd aus. [ZParl, 38. Jg., H. 4, S. 712 ff.]
Bauer, Michael W., Christoph Knill und Maria Ziegler: Wie kann die Koordination deutscher Europapolitik verbessert werden? Folgerungen aus einem Leistungsvergleich institutioneller Arrangements in Deutschland, Finnland und Großbritannien.
Die Koordinationsmechanismen deutscher Europapolitik gelten gemeinhin als unzureichend. Die inadäquate Koordinationsmaschinerie Deutschlands ist besonders problematisch im Hinblick auf eine schnelle und problemgerechte Positionierung in Europa. Zur Identifizierung von Optimierungsmöglichkeiten werden die Koordinationsarrangements Großbritanniens und Finnlands herangezogen. Daraus sollen insbesondere solche Verbesserungsvorschläge gewonnen werden, die sich kurz- und mittelfristig übertragen lassen, also die geringsten Anpassungskosten in Bezug auf die Umverteilung von Kompetenzen und Ressourcen auferlegen. Das bedeutet auch, dass bei der Analyse der Fallbeispiele Großbritannien und Finnland nicht „absolute“ Effizienz und Effektivität der jeweiligen Arrangements im Mittelpunkt stehen. Vielmehr müssen effektive und effiziente Koordinierungsmechanismen zusätzlich auf ihre Übertragbarkeit auf den bundesrepublikanischen institutionellen Kontext geprüft werden. [ZParl, 38. Jg., H. 4, S. 734 ff.]
Beichelt, Timm: Die europapolitische Koordinierung der Bundesrepublik: besser als ihr Ruf.
Auf der empirischen Basis einer mehrmonatigen teilnehmenden Beobachtung im Auswärtigen Amt und in der Ständigen Vertretung in Brüssel wird kritisch Stellung zu den Ergebnissen der vorliegenden Literatur zur europapolitischen Koordinierung in Deutschland genommen. Es werden zwei Zugänge zum Verständnis des Koordinierungsprozesses vorgeschlagen: Erstens orientieren sich die maßgeblichen Akteure der Koordinierung an einem europäischen Politikzyklus; in diesem Rahmen kann ihr Handeln als weitgehend effizient angesehen werden. Zweitens markieren typische Konflikte den Koordinierungsprozess. Vermeintliche Ineffizienzen der deutschen Europapolitik gehen demnach in der Regel auf Basisstrukturen des deutschen Regierungssystems zurück, die von den Koordinierungsinstitutionen prinzipiell nicht verändert werden können. [ZParl, 38. Jg., H. 4, S. 751 ff.]
Dieringer, Jürgen: Zwischen Parlamentsvorbehalt und Regierungsdominanz: die wachsende Bedeutung des ungarischen Parlaments im europäischen Integrationsprozess.
Die Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf die europäische Ebene beinhaltet grundsätzlich die Gefahr der Aushöhlung parlamentarischer Rechte und bewirkt oft eine Stärkung der Regierung. Parlamente haben hierauf zu reagieren und formale und informale Regeln entsprechend zu modifizieren. Das verfassungsrechtlich durchaus starke ungarische Parlament hat seit Beginn des EU-Beitrittsprozesses Anpassungsleistungen erbracht. Im Jahre 2004 wurden die parlamentarischen Rechte gegenüber der Regierung in einem Einzelgesetz formalisiert. Die vorgenommenen Veränderungen sind formal (in den Bereichen des Ausschusswesens, der Regierungskontrolle und der Informationsbeschaffung) durchaus geeignet, den Bedeutungsverlust des Parlaments aufzuhalten oder gar umzudrehen. Da das angesprochene Gesetz aber nur auf Druck der Opposition unter Nutzung eines Vetopunktes zustande gekommen ist, bleibt offen, ob sich das Parlament in Europaangelegenheiten zunehmend als einheitlicher Akteur erweist, oder ob mit der Regierungsmehrheit die Gewaltenverschränkung das entscheidende Muster bildet. [ZParl, 38. Jg., H. 4, S. 764 ff.]
Grotz, Florian: Vertikale Gewaltenteilung: institutionenpolitische Leitidee oder demokratietheoretische Chiffre? Reform westeuropäischer Bundes- und Einheitsstaaten im Vergleich.
In der demokratietheoretischen Diskussion wird die vertikale Machtbeschränkung des Zentralstaates häufig als wichtigster Grund für die Etablierung einer föderalen Ordnung angeführt. In der politischen Realität stellt diese Zielvorstellung jedoch nur eine mögliche Erklärung für die Dezentralisierung beziehungsweise Föderalisierung eines Nationalstaats dar. Die Frage ist, wie der relative Stellenwert der „vertikalen Gewaltenteilung“ für die institutionelle Entwicklung westeuropäischer Staaten zu ermessen ist. Zum Verhältnis von Staatsorganisation und Demokratie existieren unterschiedliche Zielvorstellungen, deren politische Relevanz von soziostrukturellen, parteipolitischen und institutionellen Rahmenbedingungen abhängt. Die vergleichende Analyse von zwei Bundes- (Deutschland und Österreich) und zwei Einheitsstaaten (Italien und Großbritannien), die in der jüngeren Vergangenheit eine Abkehr von unitarischen Organisationsprinzipien vollzogen oder zumindest entsprechende Reformversuche unternommen haben, zeigt, dass die Idee der „vertikalen Gewaltenteilung“ keineswegs in allen Dezentralisierungskontexten präsent ist, geschweige denn eine Schlüsselrolle darin einnimmt. [ZParl, 38. Jg., H. 4, S. 775 ff.]
Hornig, Eike-Christian: Forza Italia zwischen Volks- und Kartell-Partei. Ein Beispiel für Anwendungs-, nicht Theoriedefizite in der Parteienforschung.
Forza Italia ist seit fast 14 Jahren eine andauernde analytische Herausforderung, auf die die Parteientheorie mit einer ungewöhnlichen, aber begrenzt hilfreichen Theorieüberproduktion reagiert hat. Entgegen der Modelle sui generis eröffnet die Stadientypologie als Bezugsrahmen eine vergleichende Perspektive und erweist sich trotz einiger Einschränkungen als ertragreich, gerade bei einem Härtefall wie Forza Italia. Anhand der Verschiebungen im Beziehungsdreieck von Parteimitgliedschaft, Parteieliten und Wählerschaft von Forza Italia wird insbesondere die Etablierung der Massenmitgliedschaft durch eine Neustrukturierung 1997 analysiert. Diese brachte eine Mäßigung der Organisationsformen, da Forza Italia in den drei Jahren zuvor vom durchschnittlichen Entwicklungsstand politischer Parteien in Westeuropa sehr weit entfernt gewesen war. Dennoch entspricht Forza Italia insbesondere hinsichtlich der Stellung und Rolle der Mitgliedschaft nicht der Kartell-Partei und noch viel weniger der catch-all-Partei, so dass von einer Mitgliederpartei keine Rede sein kann. [ZParl, 38. Jg., H. 4, S. 798 ff.]
Loewenberg, Gerhard: Paradoxien des Parlamentarismus. Historische und aktuelle Gründe für Fehlverständnisse in Wissenschaft und Öffentlichkeit.
Parlamenten wird überall, nicht nur in Deutschland, mit Missverständnissen und Misstrauen begegnet, weil sie gegensätzliche Eigenschaften tragen. Diese haben ihren Ursprung in der Entwicklung der Parlamente von feudalen beratenden Versammlungen hin zu wichtigen Entscheidungsgremien in modernen Demokratien. Obwohl alle Mitglieder gleichberechtigt sind, entwickeln sie arbeitsteilige Strukturen und „unterwerfen“ sich ihren Fraktionsvorständen und Ausschussvorsitzenden. Obwohl Parlamente behaupten, dass sie auf dem Mehrheitsprinzip beruhen, wenden sie nicht-mehrheitliche Regeln an, um Entscheidungen treffen zu können. Obwohl ihre Sitzungen öffentlich sind, geraten ihre Entscheidungsprozesse oft undurchsichtig. Und obwohl sie oft miteinander verglichen werden und einen gemeinsamen historischen Ursprung haben, nimmt jedes Parlament auch die besonderen sozialen und kulturellen Merkmale seiner Nation an, so dass Vergleiche zugleich wertvoll und mühsam sind. Da Parlamente ein Symbol für Demokratie sind, führen ihre inneren Widersprüche zu einer Skepsis gegenüber der demokratischen Regierungsform. Nicht politische Bildungsarbeit allein, sondern auch Analogien zu den alltäglichen Erfahrungen der Bürger mit der Schwierigkeit, gemeinsame Entscheidungen zu treffen, können zu einem besseren Verständnis des Parlaments beitragen. [ZParl, 38. Jg., H. 4, S. 816 ff.]
Narr, Wolf-Dieter und Richard Stöss: Johannes Agnolis „Transformation der Demokratie“. Ein Beitrag zur gesellschaftskritischen Politikanalyse.
Dieser Beitrag setzt sich mit dem Text von Wolfgang Kraushaar gegen die Parlamentarismuskritik von Johannes Agnoli in Heft 1/2007 dieser Zeitschrift auseinander, der nach Auffassung der Autoren darauf abzielt, radikaldemokratische Parlamentarismuskritik mit Hilfe des Präfaschismusverdachts zu disqualifizieren. Abgesehen davon, dass die Vorwürfe von Kraushaar unzutreffend sind (Agnolis „Transformation der Demokratie“ gründet sich nicht auf präfaschistische Theoretiker, und er hat seine eigene faschistische Vergangenheit zu keiner Zeit verschwiegen), missversteht er auch die wissenschaftstheoretische Bedeutung der „Transformation“. In Ergänzung der Replik von Uwe Thaysen und Jürgen W. Falter in Heft 2/2007 der ZParl wird gezeigt, warum und wie sich in der Berliner Politikwissenschaft in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre eine am Marxismus orientierte gesellschaftskritische Sozialwissenschaft herausbildete. Die „Transformation der Demokratie“ stellt einen Grundstein dieses radikaldemokratisch und politökonomisch ausgerichteten Wissenschaftsverständnisses dar, das mit Blick auf die gegenwärtige Situation repräsentativer Demokratie der Fortführung und Ergänzung bedarf. [ZParl, 38. Jg., H. 4, S. 828 ff.]
Nuscheler, Franz: Parlamente im subsaharischen Afrika.
Die Geschichte des von den Kolonialmächten im subsaharischen Afrika eingepflanzten und nach europäischen Vorbildern gestalteten Parlamentarismus ist eine Leidensgeschichte. Die Parlamente wurden zu Nebenschauplätzen des politischen Geschehens und zu Opfern von häufigen Regimewechseln. Sie wurden in der „Afrikanischen Demokratie“ in Gestalt von Einparteiregimen als Patronagepools und Ritualstätten von Scheindemokratien inszeniert, von Militärregimen aufgelöst und nach dem Ende des Kalten Kriegs unter dem Druck von externen Geldgebern wieder als Schauplätze von Demokratie installiert. Aber selbst jetzt litten sie unter Funktions- und Legitimationsdefiziten, weil sie weiterhin unter Verdacht standen, in Patronage- und Korruptionsstrukturen eingebunden zu sein. Auch die internationalen Geldgeber schwächten ihre verfassungspolitische Rolle, indem sie ihre Subsidien nicht der parlamentarischen Haushaltskontrolle unterwarfen und bei Hilfs- und Entschuldungsprogrammen im Namen zivilgesellschaftlicher Partizipation eher mit Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) als mit den zumindest formal demokratisch legitimierten Parlamenten kooperierten. Diese Praxis hat sich allerdings in jüngster Zeit geändert, weil die internationalen Entwicklungsorganisationen die wichtige Rolle von Parlamenten im Demokratisierungsprozess erkannt haben. [ZParl, 38. Jg., H. 4, S. 842 ff.]