Meyer, Holger und Ferdinand Müller-Rommel: Die niedersächsische Landtagswahl vom 20. Januar 2013: Hauchdünne Mehrheit für neues rot-grünes Regierungsbündnis.
Mit einer knappen Mehrheit haben die Sozialdemokraten gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen die Landtagswahl gewonnen und damit eine zehnjährige christlich-liberale Regierungskoalition abgelöst. SPD und Grüne erzielten zusammen 46,3 Prozent der Wählerstimmen gegenüber 45,9 Prozent von CDU und FDP. Damit erhielt die neue rot-grüne Koalition lediglich ein Parlamentsmandat mehr als die Oppositionsparteien. Die Wahlergebnisse der Linken und der Piraten fielen unter die Fünfprozenthürde, was die Anzahl der Parlamentsparteien in niedersächsischen Landtag auf vier reduziert. Die Wahlbeteiligung ist leicht gestiegen und hat nunmehr wieder ein – im Vergleich zu anderen Landtagswahlen – durchschnittliches Niveau erreicht. Der sehr kurze „Winter-Wahlkampf“ wurde vor allem durch bundespolitische Themen bestimmt. Zu den wenigen landespolitischen Themen zählten die Bildungs-, die Arbeitsmarkt- und die Familienpolitik. Das Wahlverhalten nach sozialstruktureller Herkunft entspricht den Erwartungen der empirischen Wahlforschung und stellt deshalb keine Überraschung dar. Von den insgesamt neun neu berufenen Ministern verfügt lediglich eine Person über Regierungserfahrungen auf Landesebene. [ZParl, 44. Jg., H. 2, S. 247 – 263]
Jankowski, Michael, Cord Jakobeit, Philipp Hiller und Nils Thomsen: Mehr Wahl, mehr Qual? Zum Zusammenhang von Wahlbeteiligung und neuem Wahlrecht in Hamburg.
Das neue Hamburger Wahlrecht wird sowohl von Politikern als auch von der Wissenschaft für das Absinken der Wahlbeteiligung bei der 20. Hamburgischen Bürgerschaftswahl verantwortlich gemacht. Belegt wurde dieser Zusammenhang bislang jedoch nur ungenügend. Basierend auf einer Befragung von circa 3.000 Wählern und 500 Nichtwählern am Wahltag wird dieser Zusammenhang in Abgrenzung zu anderen Hypothesen, die aus der Nichtwählerforschung gewonnen wurden, geprüft. Im Ergebnis zeigt sich, dass das Wahlrecht im Vergleich zu den anderen Hypothesen nicht als Hauptursache des Beteiligungsrückgangs gelten kann. Stattdessen hatten der müde Wahlkampf, das in Teilen schwache Spitzenkandidatenaufgebot und der weitestgehend vorhersehbare Wahlausgang einen stärkeren Einfluss auf die Wahlbeteiligung. Der Effekt des Wahlrechts ist daher insgesamt als gering einzuschätzen. Abgesehen von kleineren Korrekturen erscheint eine umfassende Reform des Wahlrechts kaum nötig. [ZParl, 44. Jg., H. 2, S. 264 – 275]
Rütters, Peter: Direktwahl des Bundespräsidenten: Sehnsucht nach präsidentieller Obrigkeit?
Der beherrschende Einfluss der Parteien auf die Wahl des Bundespräsidenten gerät immer wieder in die Kritik, da er Ansehen und Würde von Amt und Amtsträgern abträglich sei. Als Alternative zur Wahl durch die parteipolitisch dominierte Bundesversammlung wird eine Direktwahl des Bundespräsidenten vorgeschlagen, um ihn mit einer von den Parteien unabhängigeren Legitimität auszustatten und seine Position im politischen System unter anderem gegenüber den Parteien zu stärken. Eine Änderung des Grundgesetzes sei akzeptabel, weil dem Parlamentarischen Rat von „Weimar-Traumas“ und „Hindenburg-Komplexes“ die Option der direkten Wahl verstellt gewesen sei. Ein Blick auf die bislang 15 Bundespräsidentenwahlen zeigt zwar überwiegend knappe Ergebnisse, stets bestimmt von koalitions- oder oppositionspolitischen Mehrheitsverhältnisse im Bund. Doch brachte dies die Bundespräsidenten nicht an das Gängelband der mehrheitsbeschaffenden Parteien. Besorgt waren die Väter und Mütter des Grundgesetzes aufgrund ihrer Erfahrungen aus der Weimarer Republik über Stabilitätsrisiken, die sie in einer Demokratie mit parlamentarischem Regierungssystem bei Parteien, Parlament und Regierung vermuteten. Hier wünschte man sich, noch immer orientiert am deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, als neutrales, parteienunabhängiges Korrektiv einen Bundespräsidenten als pouvoir neutre. Dieses Wunsch- und Zerrbild des Bundespräsidenten als präsidentielle Obrigkeit teilen die heutigen Befürworter einer Direktwahl des Bundespräsidenten, verbunden mit einem letztlich anti-pluralistischer und anti-parlamentarischen Amts- und Funktionsverständnis. [ZParl, 44. Jg., H. 2, S. 276 – 295]
Decker, Frank: Direktwahl der Ministerpräsidenten: Begründung, Ausgestaltung und Umsetzbarkeit eines Wechsels der Regierungsform in den Ländern.
Die Debatte um die Angemessenheit der parlamentarischen Regierungsform in den Ländern wurde bereits in den 1950er Jahren geführt. Durch die flächendeckende Etablierung von direktdemokratischen Verfahren, die auch zur Verfassungsentwicklung genutzt werden können, hat sie seit den achtziger Jahren neuen Auftrieb bekommen. Die Direktwahl der Ministerpräsidenten lässt sich nicht damit begründen, dass sie zu mehr Demokratie oder einer Wiederherstellung der Gewaltenteilung führt. Für den Wechsel zur präsidentiellen Regierungsform spricht vielmehr zum einen die in den Ländern bestehende Volksgesetzgebung, die sich mit der gewaltenfusionierenden Logik des parlamentarischen Systems schlecht verträgt. Zum anderen würde eine Abschichtung der Regierungssysteme in Bund und Gliedstaaten die Eigenständigkeit der Länderpolitik unabhängig von der föderalen Aufgabenverteilung stärker hervorheben. Bei der Umsetzung der Reform sind die institutionellen Pfadabhängigkeiten zu bedenken. Deshalb empfiehlt sich nicht die Einführung eines präsidentiellen Systems in Reinform, sondern eine parlamentarisch-präsidentielle Mischlösung, die den direkt gewählten Regierungschef in den Willen der Parlamentsmehrheit einbindet. [ZParl, 44. Jg., H. 2, S. 296 – 314]
Jung, Otmar: „Entspricht der Landtag … dem Volksbegehren“ – Probleme eines kupierten direktdemokratischen Verfahrens am Beispiel Brandenburg 2013.
Beim in Deutschland üblichen so genannten indirekten Verfahren der Volksgesetzgebung kann das Parlament eine volksbegehrte Vorlage übernehmen. Dies kommt gar nicht so selten vor. Der aktuelle brandenburgische Fall lehrt, dass eine solche Übernahme nicht schlechterdings erfreulich ist im Sinne der politischen Kultur. Die Sachgegner bekommen nämlich bei einem derartig kupierten direktdemokratischen Verfahren überhaupt keine förmliche Artikulationsmöglichkeit. Dies wirkt jedenfalls dann unfair, wenn sie nach den demoskopischen Daten gute Chancen auf einen Sieg beim Volksentscheid hätten. Zugleich wird mit der Verfahrensabkürzung die befriedende Wirkung einer breiten und fairen öffentlichen Auseinandersetzung vor der Abstimmung vergeben. Im brandenburgischen Fall kommt noch hinzu, dass auch die Volksvertreter im Parlament diese Auseinandersetzung nicht führten, sondern mehr oder minder vor den Initiatoren „einknickten“. Grundsätzlich sollten Parlamente die direktdemokratischen Verfahren, wenn sie einmal in Gang gekommen sind, „lassen“ und nur ganz ausnahmsweise intervenieren. [ZParl, 44. Jg., H. 2, S. 315 – 328]
Leonardy, Uwe: Die Rollen des Ganzen und der Teile in bundesstaatlichen Territorialreformen: Ein Verfassungsvergleich zur Länderneugliederung.
Angesichts der herannahenden Schuldenbremse wird die Länderneugliederung mit zunehmender Brisanz auf die politische Tagesordnung kommen. Ihr bisheriges Scheitern ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass die Verfahrensregeln für sie eher ihrer Verhinderung denn ihrer Herbeiführung dienen und Art. 29 GG deshalb eine verfassungsunwürdige Verfassungsnorm darstellt. Vergleicht man die einschlägigen Verfahrensregeln in den 19 wichtigsten Bundesstaaten weltweit und untersucht sie darauf, welche Rollen in territorialen Reformen dem Gesamtstaat und seinen Teilen zukommen, gelangt man zu dem Ergebnis, dass nirgends die Rolle des Gesamtstaats trotz der Bedeutung der territorialen Struktur und eines relativen Gleichgewichts in ihr so schwach ist wie in Deutschland. Für eine Erneuerung des föderalen Systems ist deshalb ein Verfahrensmodell erforderlich, das jene Rollen gegeneinander ausgleicht. [ZParl, 44. Jg., H. 2, S. 329 – 348]
Reiners, Markus: Weichenstellung und Durchsetzbarkeit einer landespolitischen Strukturreform: Etablierung einer dreigliedrigen Verwaltung in Sachsen.
Der Freistaat Sachsen baut seine Verwaltungsstrukturen um. Die bisherigen dezentralen Strukturen erinnerten an den Import der Strukturen aus den westlichen Bundesländern Anfang der 1990er Jahre. Aufgrund mittlerweile veränderter Rahmenbedingungen und nachdem das Bundesland ein hohes Maß an Selbstbewusstsein erlangt hat, stehen heutzutage mehr Zentralisierungseffekte im Mittelpunkt. Hierzu hat die Sächsische Regierung ihre Standortkonzeption neu ausgerichtet und insbesondere seine drei Mittelbehörden auf eine Instanz verkürzt. Der Prozess ist langfristig auf zehn Jahre angelegt. Fraglich ist demnach, worauf sich diese Maßgaben zurückführen lassen und ob damit die richtigen Weichen gestellt werden. Dazu wird vergleichend auch auf andere Bundesländer geblickt. [ZParl, 44. Jg., H. 2, S. 349 – 365]
Buchstein, Hubertus: Lostrommel und Wahlurne – Losverfahren in der Politik der parlamentarischen Demokratie.
Während im gegenwärtigen Parlamentarismus Losverfahren lediglich eine untergeordnete Rolle als „tie-breaker“ in gewissen Pattsituationen haben, spielten Lotterien in den Demokratien des antiken Griechenlands eine sehr viel größere Rolle bei der Rekrutierung des politischen Personals. Der Siegeszug des modernen Parlamentarismus beruhte auf der Überzeugung von der Überlegenheit von Wahlen gegenüber allen anderen Varianten bei der Bestellung politischer Spitzenämter. In diesem Aufsatz wird dennoch für eine Rückerinnerung an das traditionelle Losverfahren geworben und zwar in Form der Einrichtung von „Loskammern“. Diese bestehen aus 100 bis 200 nach dem Zufallsprinzip ermittelten Bürgern. Sie sollen die gewählten Parlamente aber nicht vollständig ersetzen, sondern lediglich für eine eng umrissene Gruppe von Entscheidungsmaterien zum Einsatz gelangen, bei denen den Mitgliedern von gewählten Parlamenten eine spezifische Befangenheit unterstellt werden kann (zum Beispiel Wahlgesetzgebung, Politikerbezahlung oder Wahlkampfkostenregulierung). [ZParl, 44. Jg., H. 2, S. 384 – 403]
Lhotta, Roland: Gehen Sie nicht über Los! Eine Erwiderung auf Hubertus Buchstein.
Der Beitrag setzt sich kritisch mit Hubertus Buchsteins Plädoyer für den Einsatz des Zufalls im Rahmen der parlamentarischen Demokratie auseinander und versucht den Nachweis zu führen, dass die Institutionalisierung des Zufalls beziehungsweise einer zufallsgenerierten pouvoir neutre in Gestalt eines „House of Lots“ die institutionelle Logik des (Wahl-)Amtes in der repräsentativen Demokratie verkennt. Der Zufall als eine Art Agent des Guten und Gerechten, der laut Buchstein bei Neutralitätsdefiziten der gewählten Politiker und Willensdefiziten des Wahlvolkes zum Einsatz kommen soll, wirkt in Richtung einer Entkopplung von Amt, Entscheidung und Verantwortung und entpuppt sich im House of Lots als eine „Perfektionsagentur“, in der die repräsentativ als defizitär eingeschätzte parlamentarische Demokratie wieder zu fairen und gerechten Entscheidungen kommen soll. Dies offenbart aber eine konzeptuelle Überforderung von Repräsentation, die letztlich aus der Nichtakzeptanz der Herrschaft von Berufspolitikern sowie aus der (vermuteten) Abwesenheit eines informierten politischen Willens beim Wahlvolk resultiert und mit der zufallsgenerierten Besetzung einer deliberativen pouvoir neutre nicht kompensiert werden kann und auch nicht kompensiert werden sollte, zumal dies die Bedeutung des Amtes in der repräsentativen Demokratie verkennt und zudem den Bürger entmündigt. [ZParl, 44. Jg., H. 2, S. 404 – 418]