Abstracts 3/2013 deutsch

Kühne, Alexander: Repräsentation enträtselt oder immer noch „the Puzzle of Representation“? Entwicklungen und Lehren aus unterschiedlichen Forschungsstrategien.
Im Gefolge der Arbeitsteilung moderner, komplexer Gesellschaften ist das Repräsentationsprinzip der zentrale Mechanismus politischer Machtübertragung. Vor diesem Hintergrund gilt Repräsentation als Schlüsselbegriff sowohl der empirischen als auch theoretischen politikwissenschaftliche Forschung. Der Blick auf den Forschungstand zeigt: (1) Seit den 1960er Jahren bestimmen zwei voneinander isolierte Forschungsstränge die Repräsentationsforschung: Im empirischen Strang haben sich einerseits Rollentheorie, Kongruenz- sowie formalistische Ansätze kaum gegenseitig befruchtet. Andererseits hat die theoretisch-normative Entwicklung des Repräsentationskonzeptes mit Ausnahme der Studie von Hanna F. Pitkin nur wenige Auswirkungen auf empirische Arbeiten gehabt. (2) In den letzten zwanzig Jahren erfährt die Repräsentationstheorie einen pragmatischeren Impuls. Zunehmend diskutiert werden Fragen der Umsetzbarkeit theoretisch-normativer Erkenntnisse insbesondere im Bereich der deskriptiven Repräsentation. (3) Das Gros der Publikationen ist von angloamerikanischen Theoriekonstrukten vorgeprägt. Der deutschen Repräsentationsforschung gelang es, amerikanische Ansätze – trotz zum Teil eingeschränkter Anwendbarkeit außerhalb der USA – zu übernehmen sowie eigenständige und empirisch ertragreiche Untersuchungen zu entwickeln. Jedoch entsteht vereinzelt eine Ungleichzeitigkeit. Auch greift die deutsche Forschung nur selten auf die heutzutage in den USA dominierende Rational-Choice-Theorie zurück. (4) Es gilt – mit wenigen Einschränkungen – für die Repräsentationsforschung immer noch die Jahrzehnte alte Kritik, dass vergleichende Forschung häufig keine echte Komparatistik sei; es bleibt vielmehr bei gesammelten Einzeldarstellungen ohne systematischen Vergleich. [ZParl, 44. Jg., H. 3, S. 459 – 485]

 

Siefken, Sven T.: Repräsentation vor Ort: Selbstverständnis und Verhalten von Bundestagsabgeordneten bei der Wahlkreisarbeit.
Die funktionelle Bedeutung der Wahlkreise für die Arbeit von Bundestagsabgeordneten kann aus rechtlicher und politikwissenschaftlicher Sicht von vier zentralen Perspektiven aus diskutiert werden: Erstens sind Wahlkreise die organisatorische Einheit für die Besetzung der Direktmandate im Rahmen der Bundestagswahlen (Wahl). Zweitens, und zeitlich davor, stellen die Parteien in den Wahlkreisen ihre Kandidaten für die Direktmandate im Rahmen von Wahlkreiskonferenzen als Parteimitglieder- oder Delegiertenversammlungen auf (Nominierung). Drittens sind die Wahlkreise eine Quelle von Fach- wie Alltagswissen für die Abgeordneten, die im Rahmen der Parlamentsarbeit genutzt wird (Information). Viertens sind sie ein Ort politischer Kommunikation, in der Repräsentanten und Repräsentierte sich miteinander austauschen (Kommunikation). Aus der funktionalen Bedeutung der Wahlkreise folgen verschiedene Erwartungen an die Ausgestaltung der Wahlkreisarbeit durch die Abgeordneten in Bezug auf die Schwerpunktsetzung bei der Terminwahl vor Ort, die Inhalte politischer Kommunikation (Policy versus Politics) und die Nutzung unterschiedlicher Kanäle (neue und alte Medien), das Rollenverhalten und die Einflüsse von externen Faktoren wie dem Mandatstyp (Direkt- versus Listenmandat) oder Eigenarten des Wahlkreises. Diese werden auf Basis von Beobachtungsdaten und Interviewaussagen aus dem Projekt CITREP („Citizens and Representatives in France and Germany”) analysiert, wobei Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit bereits vorliegenden Untersuchungen dargestellt werden, so dass eine Gesamtschau der empirischen Erkenntnisse zur Wahlkreisarbeit von Abgeordneten im Alltagsgeschäft der Repräsentation außerhalb von Wahlkämpfen vorgelegt werden kann. [ZParl, 44. Jg., H. 3, S. 486 – 506]

 

Schindler, Danny: Die Mühen der Ebene: Parteiarbeit der Bundestagsabgeordneten im Wahlkreis
Ausgehend von der Annahme, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestag zahlreichen Anreizen zur Verankerung in ihren unteren Parteigliederungen ausgesetzt sind, wird das Verhältnis von Wahlkreisarbeit und Parteiarbeit untersucht. Beobachtungs- und Interviewdaten aus dem CITREP-Projekt („Citizens and Representatives in France and Germany”) ergeben ein deutliches Bild: Im Hinblick auf die Gesamtdauer der besuchten Veranstaltungen kann die eigene Parteiorganisation als wichtigste Bezugsgruppe im Wahlkreis gelten. Zugleich zeichnet sich diese Basisarbeit aber durch vielfältige Formen und Funktionen aus. Eine große Rolle spielt im Rahmen der parteiinternen Kommunikation die Orientierungsleistung der Abgeordneten sowie die Identifikation mit dem Wahlkreis. Folgt man einem weiten Verständnis von Parteiarbeit, ist zudem festzustellen: Mandatsinhaber kommunizieren im Wahlkreis häufig als Repräsentanten ihrer Parteien, grenzen sich gelegentlich aber auch von diesen ab. Während sich die parlamentarische Parteienkonkurrenz in moderater Form in der Wahlkreiskommunikation niederschlägt, gilt das kaum für die persönliche Abgeordnetenkonkurrenz. Auch im Rahmen ihrer Wahlkreisarbeit, so lässt sich insgesamt schlussfolgern, tragen die Mitglieder des Bundestages zur Funktionsfähigkeit der „parlamentarischen Parteiendemokratie“ bei. [ZParl, 44. Jg., H. 3, S. 507 – 525]

 

Küpper, Moritz und Georg Wenzelburger: Seiteneinsteiger in den Bundestag. Eine Analyse von Cross-Over-Karrieren von 1949 bis 2009
Das politikwissenschaftliche Wissen über Seiteneinsteiger in die Politik ist lückenhaft und speist sich hauptsächlich aus qualitativen Einzelfallstudien oder aus breiter angelegten Analysen von Karriereverläufen, die die Frage des Zugangs von Quereinsteigern in die Politik nur als Seitenaspekt betrachten. Eine systematisch-quantitative Analyse aller Seiteneinsteiger in den Bundestag zwischen 1949 und 2009, die die Besonderheiten dieser Gruppe von Abgeordneten im Vergleich zu den Nicht-Seiteneinsteigern herausarbeitet, schließt die Forschungslücke. Dabei zeigt sich, dass Seiteneinsteiger im Vergleich zu den übrigen Bundestagsabgeordneten höher gebildet (und besonders häufig habilitiert) sind, vor allem in der Nachkriegszeit und in den 1970er Jahren in den Bundestag einzogen sowie häufiger in kleinen Parteien (und hier insbesondere in der PDS/Linkspartei) anzutreffen sind als in den großen Volksparteien CDU, CSU und SPD, wobei die SPD ein besonders ungünstiges Umfeld für Seiteneinsteiger bietet. [ZParl, 44. Jg., H. 2, S. 526 – 545]

 

Delius, Martin F., Michael Koß und Christian Stecker: „Ich erkenne also Fraktionsdisziplin grundsätzlich auch an …“ – Innerfraktioneller Dissens in der SPD-Fraktion der Großen Koalition 2005 bis 2009.
Durch die Auswertung von 162 namentlichen Abstimmungen und sechs qualitativen Interviews mit Mitgliedern der SPD-Fraktion wird das Spannungsfeld von inhaltlichem Dissens und Koalitionsdisziplin am Beispiel der SPD-Fraktion in der Großen Koalition 2005 bis 2009 beleuchtet. Es zeigt sich, dass Angehörige der Parlamentarischen Linken ebenso wie ostdeutsche Abgeordnete überdurchschnittlich häufig gegen die Fraktionsmehrheit stimmen. Direkt gewählte Abgeordnete weichen dagegen kaum häufiger von der Fraktionslinie ab. Ein signifikanter Unterschied ist nur bei denjenigen Abgeordneten feststellbar, deren Wahlkreise besonders umkämpft waren. Dennoch werden direkt und über die Liste gewählte Abgeordnete unterschiedlich wahrgenommen. Wie erwartet stimmen Amts- und Mandatsträger seltener gegen die Fraktionslinie, parlamentarische Neulinge hingegen häufiger. Letztere durchlaufen eine Eingewöhnungsphase, die in der Regel jedoch schon im Laufe der Legislaturperiode beendet ist. [ZParl, 44. Jg., H. 3, S. 546 – 566]

 

Deiss-Helbig, Elisa: „Ich bin einer von Euch“ – Zur Bedeutung sozialer Kongruenz von Abgeordneten und Bürgern für das Gelingen von Repräsentation.
In regelmäßigen Abständen wird sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch in der wissenschaftlichen Debatte die Unzufriedenheit der Bürger mit ihren gewählten Repräsentanten beklagt. Ein Argument unter vielen ist das der sozialen Distanz zwischen Wählern und Abgeordneten, die Tatsache also, dass die sozio-demographische Zusammensetzung der Parlamente in starkem Maße von der Verteilung dieser Merkmale in der Gesellschaft abweicht. Sozio-demographische Merkmale von Abgeordneten können Wählern als „information short-cuts“ für bestimmte inhaltliche Positionen der Repräsentanten dienen. Zudem kann soziale Kongruenz auch eine vertrauensbildende Funktion haben. Zusätzlich dazu, kommt der politischen Übereinstimmung zwischen Wählern und Abgeordneten eine zentrale Position im Repräsentationsverhältnis zu. Mit Hilfe eines experimentellen Designs wird untersucht, inwieweit diese Faktoren zu einem besseren Repräsentationsgefühl der deutschen Bevölkerung beitragen. Die Ergebnisse zeigen: Trotz der immer wieder aufkommenden These einer „Parteienverdrossenheit“, strukturieren Parteien maßgeblich das Repräsentationsverhältnis zwischen Bürgern und Repräsentanten. Jedoch sollte der Einfluss sozialer Kongruenz nicht unterschätzt werden. Eine Übereinstimmung bezüglich der Beschäftigung zwischen Repräsentant und Repräsentiertem – und in geringerem Maße auch hinsichtlich des Alters – führt zu einem besseren Vertretenheitsgefühl. [ZParl, 44. Jg., H. 3, S. 566 – 580]

 

Dageförde, Mirjam: Weit entfernt vom „idealen Abgeordneten“? Zu Normen und Praxis parlamentarischer Repräsentation aus Sicht der Bürger.
Das Verhältnis von Bürgern und Abgeordneten bildet ein Kernelement politischer Repräsentation, welches bisher insbesondere hinsichtlich der Einstellungen und des Verhaltens von Abgeordneten analysiert wurde. Die Anforderungen, die Bürger an politische Repräsentation im Allgemeinen und an ihre Abgeordneten im Speziellen stellen, sind hingegen weit weniger erforscht. Gleiches gilt für die Perzeption politischer Repräsentation durch die Bevölkerung. Um diese Forschungslücken zu schließen, wird anhand der Rollentheorie untersucht, welche Normen Bürger hinsichtlich des Verhaltens von Abgeordneten formulieren und inwiefern diese aus Sicht der Bevölkerung erfüllt werden. Die Ergebnisse belegen, dass die Orientierung der Abgeordneten an die Interessen des Wahlkreises, der eigenen Wähler sowie der gesamten Bevölkerung für die Wählerschaft ähnlich wichtige Aspekte darstellen, während die Orientierung an die Partei als weniger wichtig erachtet wird. Vergleicht man diese Anforderungen mit dem perzipierten Verhalten, so lassen sich relativ große Differenzen zwischen Norm und Praxis parlamentarischer Repräsentation feststellen: Ein Großteil der Bevölkerung nimmt wahr, dass Abgeordnete vor allem die Interessen der eigenen Partei vertreten. Ebenso nehmen Bürger wahr, dass Repräsentanten ihr Mandat relativ frei ausüben, obwohl die Wählerschaft eine stärkere Orientierung an ihre Interessen fordert. [ZParl, 44. Jg., H. 3, S. 580 – 592]

 

Gabriel, Oscar W.: Repräsentationsschwächen und die zweite Transformation der Demokratie: Wer will in Deutschland direkte Demokratie?
Die Repräsentation der Wertvorstellungen und Interessen der Bürger durch die politischen Institutionen und Akteure gehört zu den wichtigsten Qualitätsstandards der repräsentativen Demokratie. Nur wenn bei den Mitgliedern der politischen Gemeinschaft die Überzeugung vorhanden ist, ihre Vorstellungen in der Summe der im politischen System getroffenen Entscheidungen wiederzufinden, wird die Demokratie ihrem normativen Anspruch gerecht, Herrschaft des Volkes und für das Volk zu sein. Dem entsprechend findet sich in der seit den 1970er Jahren anhaltenden Debatte über die Krise der repräsentativen Demokratie immer wieder die Annahme, eine als unzulänglich empfundene Erfüllung der Repräsentationsfunktion durch die Institutionen  und Akteure der Demokratie habe zu einer Erosion der Unterstützung der repräsentativen Demokratie und zu dem Ruf nach der Erweiterung direktdemokratischer Verfahren geführt. Vor dem Hintergrund dieser Diskussion wird der Zusammenhang zwischen dem Gefühl, im politischen System gut repräsentiert zu werden, und der Unterstützung der direkten Demokratie untersucht. Dabei werden die Einstellungen zur Repräsentationsleistung des politischen Systems differenzierter erhoben als in den meisten vorliegenden Studien, indem nach repräsentierenden Akteuren (Bundesregierung, Bundestag, einzelne Abgeordnete, Parteien) und zu repräsentierenden Belangen (Werte, wirtschaftliche Interessen, einzelne Sachfragen, Gruppeninteressen) unterschieden wird. In der empirischen Analyse wird der Frage nachgegangen, wie diese unterschiedlichen Dimensionen des Repräsentationsbewusstseins die Präferenz für eine direkte Demokratie beeinflussen. Das Gefühl, in der Politik nicht gut vertreten zu werden, erweist sich als wichtige Triebkraft der Forderung nach direktdemokratischen Verfahren. Fast ebenso wichtig sind allerdings Parteipräferenzen, insbesondere die Unterstützung einer Oppositionspartei. [ZParl, 44. Jg., H. 3, S. 592 – 612]

 

Ley, Richard: Die Bestimmung des Stellvertreters des Ministerpräsidenten als Teil der Regierungsbildung – Allgemeine Grundsätze und verfassungsrechtliche Besonderheiten  in Rheinland-Pfalz.
Die Bestimmung eines Stellvertreters ist eine Pflicht des Ministerpräsidenten. Nur dadurch ist gewährleistet, dass im Verhinderungsfall Aufgaben und Funktionen des wichtigsten Verfassungsorgans der Exekutive gewahrt bleiben. Die Stellvertretung ist kein zusätzliches Amt, sondern nur eine zusätzliche Funktionszuweisung. Art. 105 Abs. 2 S. 3 LV-RP und Art. 46 LV-BY haben dafür die Zustimmung des Landtags vorgeschrieben, das heißt erst mit dem Beschluss des Landtags wird die Bestimmung des Stellvertreters rechtskräftig. Das Mitwirkungsrecht der Landtage ist nur für die Bestimmung und nicht für die Abberufung des Stellvertreters vorgeschrieben, anders als bei der Abberufung eines Ministers (Art. 98 Abs. 2 S. 4 LV-RP, Art. 45 LV-BY). Das Possessivpronomen in den Landesverfassungen und dem Grundgesetz zeigt, dass die Stellvertreterfunktion personenbezogen ist, das heißt mit dem Rücktritt des Ministerpräsidenten endet die Stellvertreterfunktion. In Rheinland-Pfalz führt dies, da es keine dem Art. 69 Abs. 2 GG entsprechende Regelung gibt, dazu, dass beim Rücktritt des Ministerpräsidenten wohl die Funktion des Stellvertreters erlischt, dieser jedoch weiterhin sein Amt als Minister wahrnehmen kann. Diese Besonderheit hat in der Vergangenheit bei zwei Regierungswechseln zu Pannen geführt und zwar mit dem Ergebnis, dass zum Beispiel die derzeitige Ministerpräsidentin keinen rechtmäßigen Stellvertreter hat. [ZParl, 44. Jg., H. 3, S. 613 – 628]

 

Strohmeier, Gerd: Kann man sich auf Karlsruhe verlassen? Eine kritische Bestandsaufnahme am Beispiel des Wahlrechts.
Da sich Volksherrschaft bei Wahlen im Wahlergebnis manifestiert und das Wahlrecht das Wahlergebnis ein Stück weit präjudiziert, kommt denen, die über das Wahlrecht entscheiden, eine sehr große Verantwortung zu – allerdings nicht nur denen, sondern auch jenen, die den Rahmen für diese Entscheidung schaffen. Von herausragender Bedeutung ist dabei unter anderem die Frage, inwiefern sich derjenige, der über das Wahlrecht entscheidet – der Gesetzgeber – auf denjenigen verlassen kann, der den Rahmen für diese Entscheidung schafft – das Bundesverfassungsgericht. Dieser Frage wird am Beispiel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Überhangmandaten, dem Effekt des negativen Stimmgewichts und dem Wahlrecht von Auslandsdeutschen nachgegangen. Dabei zeigt sich, dass das Bundesverfassungsgericht in allen drei Bereichen in den letzten Jahren deutliche Kehrtwenden vollzogen hat, die zudem nicht überzeugend beziehungsweise hinreichend begründet waren. Zudem wird deutlich, dass die Urteilsbegründungen in Teilen widersprüchlich, unpräzise oder unzutreffend waren und eine zunehmende Abkehr vom Grundsatz des „judicial restraint“ bedeuten. [ZParl, 44. Jg., H. 3, S. 629 – 644]

 

Karpen, Ulrich: Demokratie und parlamentarische Kontrolle der Entscheidungen im Europäischen Stabilitäts-Mechanismus und Fiskalpakt?
Am 12. September 2012 hat das Bundesverfassungsgericht in einem Einstweiligen Anordnungsverfahren – also nach summarischer Prüfung – über den ESM-Vertrag und den Fiskalpakt entschieden. Das Gericht hält den ESM-Vertrag für verfassungskonform, verpflichtet allerdings die anderen Verfassungsorgane, einige völkerrechtliche Vertragsauflagen zu machen, vorwiegend zur Einhaltung einer Garantieobergrenze und bestimmter parlamentarischer Kontrollrechte. Im Zentrum der Entscheidung steht wiederum – wie schon in vier anderen wichtigen Entscheidungen zur Europäischen Einigung – die Frage, wieweit die Integration voranschreiten darf, bis die Bundesrepublik Deutschland ihre staatliche Identität verliert und in einem quasi-bundesstaatlichen System „Europa“ aufgeht. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat auf eine Vorlage des Supreme Court der Irischen Republik am 27. November 2012 entschieden, der ESM-Vertrag verstoße nicht gegen die „No Bail Out-Klausel“ des Art. 125 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU. Das Gericht musste sich wiederum mit fundamentalen Verfassungsfragen befassen, wie dem Demokratiegebot, den parlamentarischen Kontrollrechten und der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland. Es handelt sich um ein „hochpolitisches Urteil“, das wiederum Fragen des „gouvernement des juges“ aufwirft. [ZParl, 44. Jg., H. 3, S. 645 – 658]

 

Schultze, Rainer-Olaf: Governance – ein neues Regime?
Vor dem Hintergrund des tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels seit den 1980er Jahren analysiert der Beitrag neue Formen des Regierens unter Governance-Bedingungen und kontrastiert Anspruch und Wirklichkeit der neo-demokratischen Reformagenda, die ihrem Anspruch nach sowohl auf partizipatives Regieren durch die breite Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure als auch auf effizientes Regieren  durch Governance-Netzwerke und rationale Verhandlungslösungen  setzt. Anspruch und Wirklichkeit klaffen jedoch weit auseinander. Zwar haben die Governance-Strukturen das Regieren in der repräsentativen Demokratie nachhaltig verändert, doch haben sich die damit verknüpften Hoffnungen alles andere als erfüllt. Die Macht- und Einflussverluste der Parlamente sind nicht gestoppt; die Asymmetrien in der Organisations- und Konfliktfähigkeit der Interessen bestehen fort und die Versuche neo-demokratischer Transparenz, Accountability und zivilgesellschaftlicher Beteiligung erschöpfen sich jedenfalls bislang weitgehend in Symbolpolitik. Sollen die Hoffnungen real werden, bedarf es der „Ermächtigung“ der Minderheiten wie der nicht oder nur wenig konfliktfähigen Interessen durch die doppelstrategische Kombination von repräsentativ-demokratischer Wahlpolitik und zivilgesellschaftlicher Partizipation in den Governance-Strukturen einerseits wie des direkt-demokratischen bürgerschaftlichen Protestes andererseits. [ZParl, 44. Jg., H. 3, S. 659 – 674]

Kommentare sind geschlossen.