Niedermayer, Oskar: Immer noch eine „nationale Nebenwahl“? Die Wahl zum Europäischen Parlament am 25. Mai 2014
Ausgehend von dem Konzept der Europawahlen als „nationale Nebenwahlen“, werden zunächst sieben Hypothesen zu den Orientierungen sowie der Wahlbeteiligung und dem Wahlverhalten der Bürger bei Europawahlen im Vergleich zu nationalen Parlamentswahlen entwickelt. Nach einer Zusammenfassung der Ausgangslage vor der Wahl werden diese Hypothesen anhand der Analyse des Wahlkampfes und Wahlergebnisses der Europawahl in Deutschland empirisch überprüft und im Großen und Ganzen bestätigt. Im dritten Teil wird die Analyse in einer kurzen Zusammenfassung auf alle 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ausgeweitet. Auch wenn sich nicht jede einzelne der sieben Hypothesen europaweit empirisch vollständig bestätigen lässt, zeigt sich auch hier, dass das Konzept für die Analyse von Europawahlen immer noch eine gute Ausgangsbasis darstellt. Abschließend wird die Zusammensetzung des neuen Europäischen Parlaments im Vergleich zur Situation nach den Europawahlen von 2009 diskutiert. [ZParl, 45. Jg., H. 3, S. 523 – 546]
Röllgen, Jasmin: Innere Sicherheit als Thema der Parteiprogramme zur Wahl des Europäischen Parlaments 2014
Innere Sicherheit ist in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ein kontroverses und zur normativen Debatte einladendes Politikfeld. Die NSA-Affäre 2013 brachte zudem auf Informations- und Kommunikationstechnologien basierende Maßnahmen Innerer Sicherheit wieder stärker in die öffentliche Debatte, sensibilisiert für Fragen europäischer Sicherheit vor außereuropäischer Überwachung und offenbart den Konflikt zwischen dem Interesse, innere Sicherheit mittels Maßnahmen aus der Informationstechnologie zu gewährleisten und dem Interesse nach informationeller Selbstbestimmung. Fraglich ist, in welcher Weise die europäischen Parteien diese Aspekte in ihren Wahlmanifesten zum Europäischen Parlament 2014 berücksichtigen und wie die NSA-Affäre die Programmatiken prägt. Eine Analyse britischer und deutscher Parteien zeigt Unterschiede in der politikfeldspezifischen Programmatik. Am Beispiel der Abhörtätigkeit europäischer und US-amerikanischer Geheimdienste wird ersichtlich, inwiefern aktuelle medienöffentliche Debatten Einzug in die Wahlprogramme erhalten. [ZParl, 45. Jg., H. 3, S. 546 – 566]
Rütters, Peter: Zum Sozialprofil der deutschen Abgeordneten nach der Wahl 2014 zum Europäischen Parlament 2014
Die Wahl zum Europäischen Parlament (EP) in Deutschland wurde nicht nur durch das erfolgreiche Auftreten der Alternative für Deutschland (AfD) geprägt, sondern auch durch das modifizierte Wahlrecht. Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts musste die bisherige Sperrklausel, die den Zugang zum EP regulierte, entfallen. Nicht sechs Parteien, wie in den vorangegangen Wahlperioden, sondern nunmehr 14 Parteien sind in der 8. Wahlperiode im EP vertreten, davon sieben mit nur einem Abgeordneten. Damit stellt sich die Frage, ob und welche Auswirkungen die veränderte Parteiherkunft von Abgeordneten auf das Sozialprofil der deutschen EP-Abgeordneten insgesamt hat. Finden sich markante Veränderungen in der Altersstruktur, beim Schul- und Bildungsniveau, in der Geschlechterzusammensetzung, bei der Parlaments- und Regierungserfahrung? Hatte der zu erwartete Einzug neuer Parteien in das EP Folgen für die Nominierungspraxis der etablierten Parteien, und wurde deren personelle Erneuerung beeinflusst? Nicht die Abgeordneten der neu ins EP eingezogenen Parteien weisen relevante Abweichungen zum bisherigen Sozialprofil der MdEP auf. Die Veränderung ist mittelbar und findet sich bei den etablierten Parteien: unter anderem verminderte oder stagnierte ihre personelle Erneuerung, der Altersdurchschnitt der Abgeordneten stieg, der Anteil der weiblichen CDU-Abgeordneten wurde noch geringer. Dennoch: Nicht beim Sozialprofil der Abgeordneten, sondern auf der politischen Ebene werden die relevanten Veränderungen als Folge des geänderten Wahlrechts auftreten. [ZParl, 45. Jg., H. 3, S. 566 – 581]
Kintz, Melanie: Die Berufsstruktur des Deutschen Bundestages – 18. Wahlperiode
Das Ausscheiden der FDP bei der Bundestagswahl 2013 und der Einzug von mehr als 200 neuen Bundestagsabgeordneten haben zu Verschiebungen in der Berufsstruktur des 18. Deutschen Bundestages geführt. Anknüpfend an frühere Dokumentationen und unter Nutzung des Hess’schen Kategorienschemas werden Entwicklungstrends in der Berufsstruktur deutscher Parlamentarier untersucht. Besonderes Augenmerk fällt dabei auf die Konsequenzen des Ausscheidens der FDP, dem Einfluss neuer Abgeordneter auf die Berufsstruktur, die Unterschiede in den beruflichen Profilen ost- und westdeutscher Abgeordneter sowie auf jüngere Abgeordnete. Dabei fällt einerseits auf, dass mehr Angestellte aus politiknahem Berufsbereichen, besonders aus dem Mitarbeiterkreis der Fraktionen und Parteien stammen. Andererseits sind durch das Ausscheiden der FDP weniger Freiberufler im Bundestag vertreten. Unterschiede zwischen west- und ostdeutschen Abgeordneten bestehen weiterhin. So sind ostdeutsche Abgeordnete weniger unter den Freiberuflern, Selbständigen und (höheren) Beamten zu finden, kommen aber stärker als ihre westdeutschen Kollegen aus dem Mitarbeiterkreis der Fraktionen und Parteien. [ZParl, 45. Jg., H. 3, S. 582 – 595]
Brummer, Klaus: Die begrenzten „war powers“ des Bundestags
Der Bundestag gilt weltweit als eines der Parlamente mit den größten „war powers“. Seine starke Stellung bei Fragen der Entsendung nationaler Streitkräfte wird jedoch nicht nur durch die Kompetenzen der Bundesregierung geschmälert. Auch aufgrund (1) des geringen Willens von Abgeordneten der Regierungsfraktionen, ihre Widerstände gegen einen Einsatz in Abstimmungen zum Ausdruck zu bringen, (2) der fehlenden Einigkeit unter den Oppositionsfraktionen, infolge derer kein nennenswerter Druck auf die Bundesregierung ausgeübt werden kann, sowie (3) von fraktionsübergreifenden Unstimmigkeiten unter Fachpolitikern, die ebenfalls eine klare inhaltliche Positionierung des Parlaments verhindern, vermindern sich die (in-)formellen Einflussnahmemöglichkeiten des Bundestags. Das Auftreten dieser Handlungsbegrenzungen wird anhand der Entscheidung zur Beteiligung der Bundeswehr an UNIFIL illustriert. [ZParl, 45. Jg., H. 3, S. 596 – 614]
Becker, Manuel: Historische Argumentationsmuster in parlamentarischen Debatten: Die Frage nach dem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union
Die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union wurde während der Regierungszeit der rot-grünen Koalition zwischen 1998 und 2005 im parlamentarischen Plenum besonders engagiert debattiert. Eine Analyse der Logik und Funktionsweise von historischen Argumenten in der parlamentarischen Debatte zeigt, dass die beiden wesentlichen inhaltlichen Argumentationsfelder die historisch-moralische Verantwortung gegenüber der Türkei sowie die historisch-kulturellen Wurzeln Europas sind. Im Bereich der formalen Argumentationsmuster werden Strategien der historischen Überhöhung, des historischen Vergleichs und des Argumentierens mit Autoritäten herausgearbeitet. Ein Grundproblem des historischen Argumentierens im politischen Diskurs liegt vor allem darin, dass historische Argumente selten rationalen Kriterien entsprechen und einer wissenschaftlichen Prüfung oftmals nicht standhalten. Interessanterweise wurden alle drei denkbaren Antworten auf die Frage nach dem Türkei-Beitritt, also die Ablehnung, die Befürwortung und auch die Indifferenz mit historischen Argumenten gerechtfertigt. Vor diesem Hintergrund scheint es angeraten, die Analyse und die Evaluation historischer Argumente in parlamentarischen Debatten künftig noch stärker in der Parlamentarismusforschung zu verankern. [ZParl, 45. Jg., H. 3, S. 615 – 631]
Jochem, Sven: Habermas on Ice – Deliberative Verfassungsexperimente, demokratischer Nepotismus und Parteienwettbewerb in Island
Island erlebte eine schwere Finanzkrise mit durchaus erfolgreichem Krisenmanagement, erregte aber vor allem durch das weltweit einzigartige deliberative Verfassungsexperiment Aufmerksamkeit, das letztlich an der Dynamik des Parteienwettbewerbs gescheitert ist. Es wird gezeigt, dass nepotistische Verwerfungen der isländischen Demokratie nicht von empirischen Demokratiemessungen erfasst werden und diese Defekte ihrerseits die Schwere der Finanzkrise in Island mit beeinflussten. Die isländische Form der Demokratie erschwerte eine deliberative Verfassungsreform. Letztlich scheiterte die Verfassungsreform am Parteienwettbewerb in einer gespaltenen Gesellschaft ohne konsensfördernde demokratische Institutionen. [ZParl, 45. Jg., H. 3, S. 632 – 646]
Kalagi, Sarah: Die Rolle von Anwaltskanzleien bei der Gesetzesvorbereitung in der Ministerialverwaltung: Ursachen und Probleme am Beispiel der Finanzmarktstabilisierungsgesetze
Im Herbst 2009 geriet eine bisher kaum bekannte Form der Politikberatung in den Fokus der Öffentlichkeit: Verschiedene Bundesministerien beauftragen seit Jahren Anwaltskanzleien mit der Formulierung von Gesetzesentwürfen. Trotz des aus demokratietheoretischer Sicht bedenklichen Charakters der ausgelagerten Gesetzesarbeit herrscht ein Mangel an empirischen Fallstudien zur Ausleuchtung der Ursachen und Probleme dieser Praxis. Die Untersuchung der finanzmarktpolitischen Politikformulierung mithilfe von Anwaltskanzleien auf Basis von Dokumentenanalysen und Experteninterviews ergab, dass sowohl sach- als auch machtpolitische Erklärungsfaktoren eine Rolle spielten: Einerseits benötigten die Ministerien Personal und Spezialwissen, um eine komplexe Materie innerhalb kurzer Zeit zu bearbeiten. Andererseits nutzten sie die Auslagerung auch für die Durchsetzung ihrer eigenen Position während der Ressortabstimmung. Die demokratische Legitimation der Gesetzesauslagerung war vor allem aufgrund der unzureichenden parlamentarischen Kontrolle kaum gegeben. Zudem weisen die Ergebnisse darauf hin, dass die ministerielle Gestaltungsmacht ebenfalls beschränkt war. Dies ist besonders problematisch, da private Interessen ein hohes Einflusspotenzial auf die Politikformulierung sowie Umsetzung besaßen. [ZParl, 45. Jg., H. 2, S. 647 – 668]
van Schendelen, Rinus: Politische Parteien und Interessengruppen auf der nationalen Ebene und in der EU: umgekehrte demokratische Verhältnisse?
Während Parteien und Parlamente auf nationalstaatlicher Ebene eine vergleichsweise starke Machtposition gegenüber Interessengruppen haben, verkehrt sich die Situation auf europäischer Ebene. Interessengruppen verstehen das Spiel der Beeinflussung in der EU bereits wesentlich besser. Basierend auf neuen empirischen Erkenntnissen über die Europäisierung dieser Akteure werden ihre Verhaltensweisen auf beiden politischen Ebenen einer neuen Bewertung unterzogen: Wenn nationale Parteien und Parlamente ihren Einfluss auf der EU-Ebene steigern wollen, müssen sie ihre Präsenz, Etablierung und Professionalität verbessern, indem sie ambitionierter, intelligenter und umsichtiger agieren, kurz sachlich-politische Qualitäten des Public Affairs Management erwerben. Eine Analyse der Anpassungsmöglichkeiten kommt zu der Schlussfolgerung, dass diese Akteure (1) die interparlamentarische COSAC äquivalent zu den EuroFeds der Interessengruppen, (2) die Beziehungen zu befreundeten Interessengruppen und (3) die verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten mit den Bürgern strukturell häufiger und besser nutzen müssen. [ZParl, 45. Jg., H. 3, S. 669 – 692]
Reiners, Markus: Partizipatorische Modernisierungstrends. Bewertung von Referenden und Lösungen zur Krise repräsentativer Demokratie am Beispiel von Stuttgart 21
Probleme der Politikvermittlung und -umsetzung rücken immer stärker in den Mittelpunkt öffentlicher Debatten. Es ist jedoch zu fragen, ob eine verstärkte Implementierung direktdemokratischer Beteiligungsformen zur Verbesserung des behaupteten Demokratiedefizits in der bundesdeutschen repräsentativ ausgestalteten Politik beitragen kann oder ob derartige Instrumente eher als Innovationshemmung anzusehen sind. Die Debatte findet ihren „explosiven Niederschlag“ in der Konfrontation um Stuttgart 21 und setzt sich in den Volksvertretungen fort. Eine Gegenüberstellung der Argumentationsstränge um repräsentative und direktdemokratische Partizipationsformen macht deutlich, dass ein Umsteuern auf andere Systemvarianten nicht fruchtbar erscheint. Die Frage ist dennoch, wie solche Großvorhaben künftig besser lösbar sein könnten. Die Wissenschaft hält hierfür Antworten bereit. [ZParl, 45. Jg., H. 3, S. 693 – 707]