Vatter, Adrian, Rahel Freiburghaus und Ladina Triaca: Deutsches Bundesrats- vs. Schweizer Senatsmodell im Lichte sich wandelnder Parteiensysteme: Repräsentation und Legitimität Zweiter Kammern im Vergleich.
Das deutsche Bundesratsmodell und das schweizerische Senatsmodell stellen zwei Organisationsformen föderaler Kammern dar, die in der Literatur als zwei grundlegende Alternativen gegenüber gestellt werden. Hierbei ist von besonderem Interesse, wie sich die transformierenden Parteiensysteme im Kontext der beiden bikameralen Organisationsformen auf die Grundprinzipien der Repräsentation und Legitimität auswirken. Ein Vergleich macht dabei deutlich, dass zahlreiche Gemeinsamkeiten bestehen. Ungeachtet der zugrundeliegenden bikameralen Organisationsformen („Bundesrats-„ oder „Senatsmodell“) hat die Parteilogik gegenüber den territorialen Repräsentationsinteressen an Bedeutung gewonnen und hängt die Wahrnehmung der Legitimität föderaler Kammern heute stark von der Transparenz und Offenlegung ihrer Entscheidungsprozesse ab. [ZParl, 48. Jg. (2017), H. 4, S. 741 – 763]
Renzsch, Wolfgang: Vom „brüderlichen“ zum „väterlichen“ Föderalismus: Zur Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ab 2020.
Bundestag und Bundesrat haben eine Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ab 2020 beschlossen, die die Struktur des deutschen Bundesstaates gravierend verändert. Insbesondere durch die Abschaffung des horizontalen Finanzausgleichs unter den Ländern (Länderfinanzausgleich) und dessen Ersatz durch einen „Finanzkraftausgleich“ im Rahmen der vertikalen Umsatzsteuerverteilung zwischen Bund und Ländern verändert sich die grundlegende Struktur des deutschen Bundesstaates von einem „brüderlichen“ zu einem „väterlichen“. Anstelle des „bündischen Eintretens füreinander“ der Länder untereinander wird in Zukunft der Bund noch weit mehr als jetzt schon in die Rolle des „väterlichen“ Betreuers der Länder bei Problemen kommen. Im Gesetzpaket zeichnet es sich ab: die Länder überlassen dem Bund den Autobahnbau gänzlich und räumen den Behörden des Bundes verstärkte Kontrollen bei der Verwendung von Bundesmitteln ein. Anstelle des Ideals eines Gleichgewichtes von Bund und Ländern tritt eine Dominanz des Bundes. [ZParl, 48. Jg. (2017), H. 4, S. 764 – 772]
Finke, Patrick und Antonios Souris: Die Veralltäglichung von Parteipolitik im Bundesrat? Ein neuer Datensatz zu den Voten in den Ausschüssen.
Der Analyse von Parteipolitik im Bundesrat steht die weitgehend fehlende amtliche Erfassung des individuellen Abstimmungsverhaltens der Landesregierungen im Plenum entgegen. Dieses Defizit kann durch eine Fokussierung auf die zugänglichen, gut dokumentierten Ländervoten in den Ausschüssen des Bundesrates überwunden werden. Ein neuer Datensatz ermöglicht eine systematische, über einen langen Zeitraum angelegte empirische Untersuchung darüber, welche Landesregierung in den Ausschüssen zu welcher Frage wie abgestimmt hat. Dadurch kann die vermutete Überlagerung von Landesinteressen durch Parteipolitik identifizierbar gemacht werden. Anhand erster empirischer Ergebnisse im Rahmen einer Auswertung des Wirtschafts- und Umweltausschusses lässt sich feststellen, dass in beiden Ausschüssen parteipolitisch geprägte Entscheidungsmuster erkennbar sind. Das Ausmaß der Parteipolitik ist allerdings unterschiedlich ausgeprägt und variiert über Zeit und damit vor allem entsprechend der im Bund regierenden Koalitionen. Daran zeigt sich, dass der Datensatz einen neuen Zugang zur Bundesratsforschung eröffnet, aber auch gleichzeitig neue Fragen aufwirft, auf welche Weise die Landesregierungen, und damit Parteien, den Bundesrat und seine Ausschüsse als politische Arena nutzen. [ZParl, 48. Jg. (2017), H. 4, S. 773 – 784]
Kempf, Udo: Die französischen Präsidentschaftswahlen vom 23. April und 7. Mai 2017 im Schatten des Terrors.
Keine der bisherigen Präsidentschaftswahlen der V. Republik war von solchen Besonderheiten gekennzeichnet wie die jüngste: Staatspräsident François Hollande kandidierte wegen schlechter Umfragewerte nicht erneut. Bei den Vorwahlen der Volksparteien siegten überraschend Kandidaten aus dem „zweiten Glied“: bei den Sozialisten Benoît Hamon, bei den Républicains François Fillon. Während Ersterer wegen seiner utopischen Programmaussagen nicht die ungeteilte Unterstützung seiner Parteifreunde fand und damit chancenlos war, versank Fillon in einem Affärensumpf. Für die Stichwahl am 7. Mai qualifizierten sich die Rechtspopulistin Marine Le Pen und der parteilose „Senkrechtstarter“ Emmanuel Macron. Der Sozialliberale hatte aus dem Nichts heraus seine neue Bewegung gegründet und stand für eine Alternative zum bisherigen Rechts-links-Parteienstaat. Erstmals nahm weder ein Kandidat der Rechten noch der Linken am entscheidenden Wahlgang teil. Macrons sozialliberales und proeuropäisches Programm überzeugte – trotz hoher Stimmenthaltungen – die Mehrheit der Wähler. Aber ein gutes Drittel stimmte in der Stichwahl für die antieuropäisch, protektionistisch und staatsinterventionistisch argumentierende Rechtsradikale, die ihren Stimmenanteil gegenüber 2012 verdoppeln und somit den Front National landesweit etablieren konnte. [ZParl, 48. Jg. (2017), H. 4, S. 785 – 804]
Kimmel, Adolf: Die Wahlen zur französischen Nationalversammlung am 11. und 18. Juni 2017.
Die seit 2002 gültige Regel, dass der neu gewählte Präsident bei der Parlamentswahl wenige Wochen später eine Mehrheit in der Nationalversammlung erhalten würde, die er für die Durchführung seines Programms benötigt, schien diesmal gefährdet. Aber obwohl Präsident Emmanuel Macron „seine“ Partei La République en Marche (LRM) erst einige Monate vor seiner Wahl gegründet hatte und sie noch kaum verwurzelt war, gewann sie die absolute Mehrheit der Mandate. Von den sieben Fraktionen stellt die konservative Partei Les Républicains (LR) die stärkste Oppositionsfraktion. Die sozialistische PS – zuvor stärkste Fraktion – verlor 250 von 280 Sitzen. Der rechtpopulistische Front National blieb hinter dem Ergebnis der Präsidentenwahl zurück und erreichte nicht einmal Fraktionsstärke. In der Nationalversammlung gibt es nicht mehr die bisherige Links-Rechts-Struktur. LRM versteht sich als Partei der Mitte und die Opposition kommt von links und rechts. Ob die vom Präsidenten angekündigte Parlamentsreform kommen und sie das Parlament beleben wird, ist noch nicht absehbar. Gegenüber der Regierung wird der Präsident die dominierende Position behaupten. [ZParl, 48. Jg. (2017), H. 4, S. 805 – 823]
Sturm, Roland: Eine Regierungschefin besiegt sich selbst. Die britischen Parlamentswahlen vom 8. Juni 2017.
Die britische Parlamentswahl vom Juni 2017 sollte die Position der Regierungschefin in den Brexit-Verhandlungen stärken. Dies misslang gründlich. Die Konservative Partei verlor ihre Parlamentsmehrheit und ist nun auf die Duldung durch die nordirische DUP angewiesen. Die innerparteilichen Gegner Theresa Mays wurden gestärkt und die oppositionelle Labour Party erholte sich politisch wider Erwarten. Für die kleineren Parteien war die Wahl ebenfalls ein Misserfolg. Die Liberaldemokraten wurden für ihre anti-Brexit-Haltung nicht belohnt. Die schottische SNP büßte wegen ihrer inzwischen weit unpopuläreren Forderung nach schottischer Unabhängigkeit einen erheblichen Teil ihrer Sitze ein. Die UKIP verlor nach dem erfolgreichen Referendum von 2016 für einen Brexit ihren Markenkern und hatte kein überzeugendes neues Politikangebot. Trotz des Fixed-term Parliaments Act von 2011 waren vorgezogene Neuwahlen möglich, weil keine Partei sich diesem Vorhaben entgegenstellte. [ZParl, 48. Jg. (2017), H. 4, S. 824 – 837]
Peterlini, Oskar: Italien – Aufbruch zur Mehrheitsdemokratie? Verfassungsreformen, Wahlgesetze und Verfassungsgerichtsurteile.
In welche Richtung bewegt sich Italiens Demokratie? Die Nachkriegsverfassung von 1948 ist von einem großen demokratischen und sozialen Auftrag beseelt. Der Staatsaufbau allerdings war eher zentralistisch. In Rom teilte sich eine Vielzahl von Parteien, rund um die Democrazia Cristiana (DC), die Macht. Zusammen mit dem damaligen reinen Proporzwahlrecht handelte es sich um eine, wenn auch teilweise versteckte, Konsensdemokratie. 2001 gelang eine tiefgreifende Reform der Verfassung: Die Regionen wurden als Gesetzgebungsorgane gestärkt, die Staatsgewalten stärker vertikal geteilt, die Konkordanz auf mehrere Regierungsebenen ausgeweitet. Bevor die Reform ganz vollzogen war, drehte sich der Wind bereits wieder. Nach einem gescheiterten Versuch Silvio Berlusconis 2005, drückte die Regierung von Matteo Renzi ein Reformprojekt durchs Parlament, das ebenso in die gegenteilige Richtung weist: Der Staatsapparat Italiens sollte effizienter, die Macht wieder in Rom und in einer einzigen politischen Kammer konzentriert werden. Ein neues Wahlsystem sollte einer einzigen Partei die Mehrheit garantieren. Beide Pläne fielen, die Verfassungsreform 2016 bei einem Referendum, das Wahlgesetz Italicum in wesentlichen Punkten 2017 beim VfGH durch. Die Richtung scheint aber trotzdem Richtung Mehrheitsdemokratie vorgegeben zu sein. [ZParl, 48. Jg. (2017), H. 4, S. 838 – 860]
Adorf, Philipp: Feindliche Übernahme oder Fortführung eines bewährten Kurses? Eine Analyse von Donald Trumps Sieg unter Berücksichtigung der Transformation der Republikanischen Partei.
Donald Trumps Erfolg in den Präsidentschaftswahlen mag für einige Analysten und auch Wissenschaftler überraschend gekommen sein. Der politisch unerfahrene Unternehmer musste sich in den Vorwahlen immerhin gegen die geballte Kraft der Republikanischen Elite behaupten. Sein Sieg basierte jedoch auf einem Kurs, den die Republikanische Partei seit Jahrzehnten verfolgt. Trumps Populismus, verbunden mit xenophoben Appellen an die weiße Wählerschaft, konnte eine breite Masse der republikanischen Vorwählerschaft ansprechen, da diese Gruppe der weißen Amerikaner mit tendenziell rassistischen Standpunkten seit einem halben Jahrhundert von Republikanischen Strategen und führenden Politikern umworben wird. Dieses Segment sah zudem die Amtszeit Präsident Barack Obamas als Zeichen, dass nun die weiße Bevölkerungsmehrheit im Land eine neue politische Minderheit darstelle. Die Erfolge der Tea Party und Trumps können zu einem nicht unbeträchtlichen Maße als Trotzreaktion auf diese Veränderungen betrachtet werden. Gerade letzterer verstand es auf seinem Weg zum Wahlsieg, sich dieses ausbreitende Gefühl des sozialen Abstiegs innerhalb der weißen Arbeiterklasse zunutze zu machen. [ZParl, 48. Jg. (2017), H. 4, S. 861 – 882]
Oswald, Michael: Die Tea Party: Wie die Republikanische Partei und der Konservativismus über eine strategische Protestbewegung verändert wurden.
Die Tea Party ist 2017 an ihrem Ziel angelangt: Ihre Ideologie veränderte sowohl den amerikanischen Konservatismus als auch die Republikanische Partei. Dabei durchdrang sie auch den Kongress. Schließlich fand die Tea Party in Donald Trump auch einen Präsidenten, der ihre Deregulierungsvorstellungen umsetzt. Die Tea Party ist jedoch alles andere als eine organische Bürgerbewegung – sie wurde von Action Groups strategisch entwickelt. Damit wurde über eine Protestbewegung ein Einfluss von Großindustriellen in die Politik eingespeist, wie es Lobbyisten nicht mal zu erträumen gewagt hätten. Eine ideologisch-strategische Blaupause vereinte hierfür die drei größten Teilsegmente der Republikanischen Klientel und ließ aus dieser Masse an Unterstützern eine geballte Wucht an Anti-Establishment-Ressentiments von allen Winkeln des Landes nach Washington D.C. transportieren. Damit opponierte sie gegen jedwede etablierte Politik und Kompromisse. Das Ergebnis ist die heutige starre und extreme konservative Haltung in der Politik und die resultierende Deregulierung. [ZParl, 48. Jg. (2017), H. 4, S. 882 – 898]
Schmedes, Hans-Jörg: Regieren im semi-souveränen Parteienbundesstaat. Die administrativen und politischen Koordinierungsstrukturen in der Praxis des deutschen Föderalismus.
In Deutschland vollzieht sich die Gesetzgebung im föderalen Interessensausgleich zwischen dem Bund und den Ländern sowie zwischen den – gegebenenfalls inkongruenten – politischen Mehrheiten auf beiden staatlichen Ebenen. Der Bundesrat verkörpert in besonderer Weise das Spannungsverhältnis zwischen parlamentarischer Konkurrenz- und bundesstaatlicher Verhandlungsdemokratie und stellt eine zentrale Komponente der im Grundgesetz angelegten Verschränkung und Balancierung der öffentlichen Gewalt dar. Das föderale Miteinander zwischen dem Bund und den Länder wird überlagert von den Strukturen und Gesetzmäßigkeiten des Parteienwettbewerbs. Infolge des in Deutschland hochgradig integrierten und zentralisierten Parteiensystems sowie der parteipolitischen Zusammensetzung der Länderkammer existieren vielfache Wechselwirkungen zwischen dem Verhalten der im Bundesrat vertretenen Landesregierungen und dem Parteienwettbewerb auf der Ebene des Bundes und der Länder. Das Spannungsverhältnis zwischen föderaler Verhandlungs- und parteipolitischer Wettbewerbslogik zeigt sich sehr deutlich an den Entscheidungsfindungsprozessen des Bundesrates, die durch ein Ineinandergreifen von formell-administrativen und informell-politischen Koordinierungsstrukturen gekennzeichnet ist. Dem deutschen Parteiensystem wird dabei ein erheblicher Anteil an der Herausbildung konsensdemokratischer Praktiken gerade in Zeiten divergenter Mehrheiten von Bundestag und Bundesrat zugeschrieben. [ZParl, 48. Jg. (2017), H. 4, S. 899 – 921]