Pukelsheim, Friedrich: Bundestag der Tausend – Berechnungen zu Reformvorschlägen für das Bundeswahlgesetz.
Als Folge des 2013 novellierten Bundeswahlgesetzes wuchs der 19. Deutsche Bundestag 2017 auf die Rekordgröße von 709 Abgeordneten an. Um zukünftige Bundestage auf die vom Gesetz vorgegebene Sollgröße von 598 Sitzen zurückzuführen, berief der Bundestagspräsident eine Arbeitsgemeinschaft Wahlrechtsreform mit dem Ziel, in vertraulichem Rahmen eine entsprechende Gesetzesreform auszuarbeiten. Der Aufsatz berichtet von Berechnungen zu Reformvorschlägen, die der Autor im Auftrag der AG erstellte und auf einer Sitzung im November 2018 erläuterte. Im April 2019 stellte die AG ihre Arbeit ohne Ergebnis ein. Der Aufsatz wird ergänzt mit einem kurzen Blick auf weitere Reformmodelle, zu denen der Autor nicht befragt war, die aber in der Literatur als alternative Lösungswege diskutiert werden. [ZParl, 50. Jg. (2019), H. 3, S. 469 – 477]
Jacob, Marc S. : Von der Quadratur des Kreises zur Wahlsystemreform? Verhandlungen über das Wahlrecht im 19. Deutschen Bundestag.
Das Bundestagswahlrecht ist seit der Wahl 2017 durch die deutliche Überschreitung der Mindestmandatsanzahl wieder vermehrt Gegenstand von Kritik. Um die Möglichkeiten einer Wahlsystemreform auszuloten, initiierte der Bundestagspräsident eine informelle interfraktionelle Arbeitsgruppe, die aus Mitgliedern aller Fraktionen bestand. Weil wenig über die parlamentarischen Verhandlungsprozesse im Kontext von Wahlsystemreformen bekannt ist, nimmt dieser Beitrag in den Blick, wie die Fraktionen in der 19. Wahlperiode über das Wahlrecht verhandelt und welche Interessen sie dabei verfolget haben. Hierzu wurden mit vier Mitgliedern der Arbeitsgruppe Interviews geführt. Die Ergebnisse von Wahlsystemreformen können mit dem Eigeninteresse und den Wertvorstellungen der Akteure erklärt werden. Da sich die Mitglieder dem Eigeninteresse der Fraktionen und Abgeordneten bei Wahlrechtsfragen bewusst waren, zogen sie externe Expertise, wie den Bundeswahlleiter, in ihre Verhandlungen mit ein. Während man mit dem Eigeninteresse der Fraktionen die allgemeine Wahlsystempräferenz erklären kann, waren die Wertvorstellungen entscheidend für die konkrete Ausgestaltung der Fraktionspräferenzen. [ZParl, 50. Jg. (2019), H. 3, S. 478 – 493]
Fürnberg,Ossip: Stimmensplitting als eine Form expressiven Wählens? Motive und Effekte aus der Perspektive des Wahlsystems.
Seit der Bundestagswahl 1953 haben Wähler bei Bundestagswahlen zwei Stimmen und damit die Möglichkeit, ihre Stimmen zu splitten. Ursachen für Stimmensplitting werden in Deutschland seit 60 Jahren untersucht. Bisher ist es noch nicht gelungen, dieses Phänomen zu erklären. In Demokratien nutzen Bürger die Beteiligung an Wahlen, um die personelle und parteipolitische Zusammensetzung von Parlamenten zu beeinflussen. Aus dieser Perspektive werden verschiedene Splittingmotive diskutiert. Ein wesentlicher Teil der in der Literatur behandelten Motive beinhaltet keine intendierten Effekte auf die Zusammensetzung des Parlaments im Sinne des Wahlsystems. Ein erster empirischer Einblick in die Motivlage von Stimmensplittern zeigt, dass hinter einer gesplitteten Stimme fast immer ein expressives Statement oder strategische Überlegungen stehen, die auf unvollständigen oder falschen Kenntnissen des Wahlsystems beruhen. [ZParl, 50. Jg. (2019), H. 3, S. 494 – 510]
Troitzsch, Klaus G.: Sympathieskalometer und Wahlentscheidung – Ergebnisse aus dem GLES-Panel und dem Politbarometer zur Zeit der Bundestagswahl 2017.
Seit Jahrzehnten werden Sympathien der Wähler für Parteien und Politiker mit Skalometerfragen erhoben. Mit solchen Daten und den Antworten auf Sonntags- oder Rückerinnerungsfragen sowie mit Methoden der Faktoren- und der Diskriminanzanalyse kann untersucht werden, wie sich die Wählerschaften der Parteien unterscheiden und gegebenenfalls auch ähnlicher werden. Dabei wird deutlich, dass sich Anhängerschaften der meisten Parteien in den letzten Jahrzehnten ähnlicher geworden sind. Zugleich können sich jedoch auch Unterschiede ergeben, wenn Wählerbefragungen persönlich oder telefonisch oder aber online durchgeführt werden. In letzteren ist eine wesentliche stärkere Polarisierung zwischen den Parteianhängerschaften zu erkennen als in den ersten beiden. [ZParl, 50. Jg. (2019), H. 3, S. 511 – 522]
Jäckle, Sebastian undThomas Metz: „Schönheit ist überall ein gar willkommener Gast“ – Zum Einfluss des Aussehens auf die Wahlchancen von Direktkandidaten bei der Bundestagswahl 2017
Beeinflusst das Aussehen von Direktkandidaten für den Bundestag deren Wahlchancen? Anhand einer Online-Umfrage unter 5.400 Teilnehmern für alle 299 Wahlkreise kann ermittelt werden, ob der jeweilige Gewinner oder Zweitplatzierte im direkten Vergleich attraktiver, kompetenter bzw. sympathischer wirkte. Nutzt man diese relativen Aussehensbewertungen als Prädiktoren in Regressionsanalysen zur Erklärung des Erststimmenergebnisses zeigt sich, dass attraktivere Kandidaten ihren Wahlkreis mit einem größeren Vorsprung gewinnen. Dieser Zusammenhang bleibt bestehen, wenn man auf Wahlkreisebene für eine breite Palette alternativer Erklärungsfaktoren kontrolliert. Einen ähnlichen Vorteil haben Kandidaten, die kompetenter aussehen, für Sympathie findet sich dagegen kein signifikanter Effekt. Im Vergleich zur Wahl 2013 hat sich der positive Effekt der Attraktivität leicht verstärkt, wohingegen wahrgenommene Kompetenz etwas weniger stark wirkt. Kompetent auszusehen hilft vor allem Kandidaten, die als Amtsinhaber bereits das Direktmandat besitzen. Zudem ist das Aussehen eher in Wahlkreisen relevant, in denen Frauen antreten, und der Attraktivitätseffekt nimmt zu, je älter ein Direktkandidat im Vergleich zu seinem Mitbewerber ist. [ZParl, 50. Jg. (2019), H. 3, S. 523 – 544]
Berz, Jan: 14 Jahre Bundeskanzlerin Angela Merkel: Unterstützung durch Annäherung.
Am 14. März 2018 trat Angela Merkelihre vierte Amtszeit als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland an. Wie hat sich in den vergangenen dreizehn Jahren die Wahrnehmung der Bundeskanzlerin in der Bevölkerung entwickelt? Eine detaillierte Analyse zeigt: Entgegen den Stimmenverlusten der Union in der vergangenen Bundestagswahl war die Bundeskanzlerin zu diesem Zeitpunkt so beliebt wie nie zuvor in ihrer Amtszeit. So beurteilte bei der vergangenen Bundestagswahl selbst die Mehrheit der Anhänger der SPD, der Grünen und der Linken, die Bundeskanzlerin positiv. Wie kam es zu dieser Entwicklung? Hierzu werden Umfragedaten von 2005 bis 2018 analysiert und Ursachen für die Veränderungen in der Wahrnehmung der Bundeskanzlerin diskutiert. Zunehmende Zufriedenheit mit der Leistung der Bundesregierung und gesunkene ideologische Distanz zwischen der Bundeskanzlerin und den Wählern erklären diese positive Entwicklung. [ZParl, 50. Jg. (2019), H. 3, S. 545 – 556]
Chmelar,Kristina: Ja, wird alles besser? Die Wahl zum tschechischen Abgeordnetenhaus vom 20./21. Oktober 2017.
Die Wahl zum tschechischen Abgeordnetenhaus am 20. und 21. Oktober 2017 verleitete selbst die differenziertesten Analytiker zu reißerischen Deutungen: Manch einer läutete die Totenglocke für das bekannte Parteiensystem, andere konstatierten die politisch-kulturelle Verschiebung des Landes an die europäische Peripherie. Tatsächlich mündete die Wahl in ein Ergebnis, das eine Rekonfiguration des tschechischen Parteiensystems fixiert. Kaum jemand hatte damit gerechnet, dass (1) mit den liberalen Piraten, der rechtsradikalen Bewegung Freiheit und direkte Demokratie und den gemäßigten Bürgermeistern und Unabhängigen gleich drei neue Gruppierungen in das Abgeordnetenhaus einziehen würden, dass (2) die ANO mit einem derart großen Vorsprung gewinnen würde und dass (3) Sozialdemokraten wie Kommunisten so hohe Stimmverluste würden hinnehmen müssen. Um das Wahlergebnis umfassend zu verstehen, bedarf es nicht nur einer Beschäftigung mit der Wahl im engeren Sinne, sondern einer Verortung im breiteren Kontext der Politischen Kultur des Landes sowie einer Reflektions des Einflusses der so genannten Flüchtlingskrise. [ZParl, 50. Jg. (2019), H. 3, S. 557 – 578]
Formánková, Hana und Astrid Lorenz: Veränderung als Konstante. Die Entwicklung des tschechischen Parteiensystems seit 1989 und ihre strukturellen Ursachen.
Tschechien galt lange Zeit als das Erfolgsbeispiel in Ostmitteleuropa. Die optimistische Interpretation einer schnellen Konsolidierung des Parteiensystems änderte sich in den vergangenen Jahren hin zu einem Krisennarrativ. Das Szenario einer punktuellen Krise ist jedoch unangebracht. Denn das Parteiensystem hat sich trotz der erfolgreichen institutionellen Demokratisierung auch innerhalb von dreißig Jahren nach dem Ende des Sozialismus nicht stabilisiert und entspricht in relevanten Punkten nicht den Erwartungen der Parteien- und Konsolidierungsforschung. Die tschechische Entwicklung lässt sich nicht abschließend über die Standardindikatoren der Parteienforschung erschließen. Daher werden Kontextfaktoren für die Erklärung hinzugezogen: Merkmale der Staatsbildung, ökonomische Rahmenbedingungen sowie gesellschaftliche und politische Faktoren. Es wird beleuchtet, wie diese strukturellen Faktoren die Entwicklung der Parteien und ihres Gefüges nachhaltig beeinflussten und dafür plädiert, sie generell in Analysen von Parteiensystemwandel aufzunehmen. [ZParl, 50. Jg. (2019), H. 3, S. 579 – 597]
Van Kessel, Alexander und Carla van Baalen: Wie der König aus der Kabinettsbildung verschwand. Der Fall der Niederlande (1815 bis 2017).
2012 ging die Führungsrolle bei der Bildung einer Koalitionsregierung in den Niederlanden vom König auf das Parlament über. Seitdem hat der direkt gewählte Teil des Parlaments die Autorität, die „Informateurs“ und „Formateurs“, die den Prozess der Kabinettsbildung überwachen, zu benennen. Vormals galt dies als Prärogative der Krone, die laut Verfassung Minister ernennt und entlässt. Die 2012er Verfahrensänderung ist der jüngste Schritt eines seit 1848 andauernden Prozesses, die Rolle des Monarchen bei der Koalitionsbildung zurückzudrängen. [ZParl, 50. Jg. (2019), H. 3, S. 598 – 612]
Strebel, Michael: Soll das Parlament ein Exekutivmitglied abwählen können? Eine Frage mit Brisanz im politischen System der Schweiz.
Die Exekutiven in der Schweiz sind fest für eine Amtsdauer gewählt und eine Abwahl während der Legislatur ist nicht vorgesehen ist. Diese mächtige Stellung wird umso brisanter, wenn einem Exekutivmitglied moralische oder strafrechtliche Verfehlungen angelastet werden. Einige wenige Kantone haben entweder in der Kantonsverfassung (Bern, Uri, Solothurn, Schaffhausen, Thurgau, Tessin) oder in der Gesetzgebung (Neuenburg, Graubünden, Nidwalden) die Amtsenthebung von Exekutivmitgliedern geregelt, wie auch das nationale Parlament. Bei der letzteren Variante handelt es sich um fein austarierte rechtsstaatliche Verfahren, wie bei einer Amtsenthebung vorzugehen ist. Diese Bestimmungen sowie die nachgezeichneten Motive für die Einführungen der Regelungen bringen zum Ausdruck, dass eine politische Abwahl weder erwünscht noch beabsichtigt ist. Es gab Parlamente, die bewusst auf eine Regelung verzichteten, weil kein Handlungsbedarf erkannt wurde oder andere Mechanismen wie politischer Druck wirken. Eine Analyse von aktuellen Fällen zeigt, wie problematisch es sein kann, wenn keine Regelungen für eine Abberufung bestehen. [ZParl, 50. Jg. (2019), H. 3, S. 613 – 629]
Behnke, Joachim: Einfach, fair, verständlich und effizient – personalisierte Verhältniswahl mit einer Stimme, ohne Direktmandate und einem Bundestag der Regelgröße.
Mit 709 Sitzen erreichte der Bundestag durch den Ausgleich von Überhangmandaten bei der Bundestagswahl 2017 eine nie zuvor gekannte Größenordnung, die allgemein als abhilfebedürftig angesehen wird. Eine effektive Verhinderung des Entstehens der Überhangmandate könnte am Wahlkreiszuschnitt ansetzen und entweder die Anzahl der Wahlkreise auf ca. 200 verringern oder Zweipersonenwahlkreise schaffen. Diese Maßnahmen wären allerdings nur mit einem größeren zeitlichen Vorlauf umsetzbar. Andere Maßnahmen des Umgangs mit vorhandenen Überhangmandaten könnten hingegen unmittelbar umgesetzt werden und würden auch im Fall eines neuen Wahlkreiszuschnitts als ergänzende Maßnahme benötigt werden. Eine Verringerung des Ausgleichs durch die Zulassung von unausgeglichenen Überhangmandaten ist aus normativen Gründen inakzeptabel, genauso wie eine Kompensation der Überhangmandate durch Listenmandate. Eine Streichung von „überschüssigen“ Direktmandaten wäre hingegen effektiv und normativ zu begründen. Noch erfolgsversprechender erscheint es allerdings, die Direktmandate ganz abzuschaffen und das Personenwahlprinzip dadurch zu verwirklichen, dass die erfolgreichsten Wahlkreiskandidaten einer Partei mit einem Mandat belohnt werden, und zwar nur in der Höhe, wie es dem proportionalen Stimmenanteil entspricht. In Verbindung mit Zweipersonenwahlkreisen ließe sich dieses System, „BaWü-Plus“, außerdem dazu einsetzen, den Anteil der Frauen im Parlament zu erhöhen. [ZParl, 50. Jg. (2019), H. 3, S. 630 – 654]