Patzelt, Werner J.: Die Gründergeneration des ostdeutschen Parlamentarismus. Teil 1: Persönlicher Hintergrund und Amtsverständnis.
Wer waren jene Abgeordneten, die nach der Wiedervereinigung den Parlamentarismus in Ostdeutschland neu begründeten? Befragungen – schriftlich von allen, in Form vom Intensivinterviews mit einer Zufallsstichprobe – aus den Jahren 1991/92 und 1994, auch unter Einschluss der Westberliner bzw. westdeutschen Parlamentarier, erlauben es, ein detailliertes Bild zu zeichnen. In ihm werden die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Ost- und Westabgeordneten ebenso deutlich wie Wandlungen in der Rolle des Abgeordneten während der ersten Wahlperiode nach der Wiedervereinigung. Im hier publizierten ersten Teil der Analyse wird der politische und berufliche Hintergrund der ersten ostdeutschen Abgeordnetengeneration gezeichnet, ihr parlamentarischer Lernprozess umrissen sowie ihr Amtsverständnis mitsamt den persönlichen Loyalitätsbindungen dargestellt. [ZParl, 51. Jg. (2020), H. 3, S. 509 – 533]
Carstensen, Franziska: Mehrebenenparlamentarismus? Das Beziehungsgeflecht deutscher Landesparlamente.
Der Begriff des Mehrebenenparlamentarismus wird mitunter verwendet, um die Position der deutschen Landesparlamente zu kennzeichnen. Werden die Beziehungen dieser Parlamente hinsichtlich ihrer Gliederungseinheiten Leitung, Verwaltung, Ausschüsse, Fraktionen und Abgeordneten untersucht, stellt sich heraus, dass sie innerhalb Deutschlands rege sind, am wenigsten Austausch allerdings bei den Ausschüssen zu finden ist. Die Beziehungen außerhalb Deutschlands werden vor allem von den Parlamentsleitungen und -verwaltungen unterhalten. Angesichts dieser Entwicklungen kann die Begrifflichkeit des Mehrebenenparlamentarismus diskutiert werden. Es zeigt sich unter anderem, dass es nicht nur interparlamentarische und EU-bezogene Relationen gibt. Stattdessen kann für den weniger schillernden Begriff der institutionellen Beziehungen von Parlamenten plädiert werden, der die tatsächlichen Beziehungen, Bemühungen und Kontakte der Landesparlamente treffender und vollkommen ausreichend kennzeichnet. Darüber hinaus lassen sich die institutionellen Beziehungen zur Selbstorganisationsfunktion zuordnen und somit in einen allgemeinen Katalog von Parlamentsfunktionen integrieren. [ZParl, 51. Jg. (2020), H. 3, S. 534 – 553]
Feser, Andreas: Nicht auf Polarisierung setzen! Schlussfolgerungen aus den Wahlergebnissen 2019 und 2020 für das Parteiensystem in Deutschland.
Auch für Wahlanalysen gilt: Gefährlich sind falsche Diagnosen, wenn sie zu falschen Therapien führen. Aktuelle Diagnose-Trends für das Parteiensystem sind „Polarisierung“ und „neue Cleavages“. Diese Entwicklungen müssten das Parteiensystem übersichtlicher machen. Programmatisch lassen sich aber eher Fliehkräfte als eine Polarisierung beobachten. „Polarisierung“ und „neue Cleavages“ müssten Wahlergebnisse in Bund und Ländern ähnlicher machen. Traditionell waren bei allen Wahlen im Bund und in den Ländern die gleichen Parteien die beiden stimmenstärksten Parteien, regionale Unterschiede gab es allenfalls bei der Platzierung der kleineren Parteien. Aktuell gehören in unterschiedlichen Ländergruppen unterschiedliche Parteien zu den beiden stimmenstärksten Parteien. Keine Partei wird der Herausforderung, mit ihrem Politikangebot auf Bundesebene in regional unterschiedlich akzentuierten Parteiensystemen bestehen zu müssen, mit einer Strategie gerecht, die auf Polarisierung setzt. [ZParl, 51. Jg. (2020), H. 3, S. 554 – 575]
Horst, Patrick: Die Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft vom 23. Februar 2020: SPD-Bürgermeister behauptet sich gegen Grünen-Herausforderin und setzt rot-grüne Koalition fort.
Die Ausgangslage vor der Bürgerschaftswahl war für die regierende rot-grüne Koalition günstig. Die Hamburger erwarteten ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher und seiner grünen Herausforderin Katharina Fegebank, die leidenschaftlich für Klima- und Mobilitätswende eintrat. Der Zweikampf der rot-grünen Spitzenpolitiker in Hamburg brachte die Opposition zum Verschwinden. Je intensiver die Themen im Wahlkampf diskutiert wurden, desto stärker konnte sich der Bürgermeister als Garant „städtischer Grundfunktionen“ von seiner Herausforderin absetzen. Am Wahlabend fühlte sich die SPD mit einem Ergebnis von 39,2 Prozent und 15 Punkten Vorsprung auf die Grünen als Sieger. Vizekanzler Olaf Scholz, Tschentschers Vorgänger im Amt des Hamburger Bürgermeisters, brachte sich wieder als Kanzlerkandidat der SPD ins Spiel. Wirklicher Sieger der Wahl waren jedoch die Grünen, die ihren Stimmenanteil gegenüber 2015 verdoppelten und das zweitbeste Ergebnis bei einer Landtagswahl in Deutschland erzielten. Der Endspurt der SPD im Wahlkampf und der Einigungsdruck durch die Mitte März einsetzende Coronakrise führten dennoch dazu, dass sich die SPD in den Koalitionsverhandlungen gegenüber den Grünen weitgehend durchsetzen konnte. [ZParl, 51. Jg. (2020), H. 3, S. 576 – 596]
Rütters, Peter: Die AfD in den Parlamenten – die „zweite Runde“.
Bei den sechs Parlamentswahlen 2019/2020 (Europäisches Parlament, Bremen, Hamburg, Brandenburg, Sachsen und Thüringen) gelang der rechtspopulistischen AfD die Erneuerung und meistens eine Vergrößerung ihrer parlamentarischen Präsenz. Den Wahlerfolgen vorausgegangen war eine ideologische Neuausrichtung der AfD seit ihrer Spaltung 2015, so dass inzwischen rechts- und nationalkonservative, rechtspopulistische und völkisch-nationalistische Positionen in der Partei dominieren. Ob und wie sich diese programmatische Veränderung bei den wieder- und neugewählten Abgeordneten zeigt, wird mit Hilfe des Sozialprofils der Abgeordneten untersucht. Bei der Frage nach der „Parlamentsfähigkeit“ der Abgeordneten spielt der Aspekt der politischen Professionalisierung eine wichtige Rolle. Bezogen auf die Zusammensetzung der AfD-Abgeordneten zeigen sich dabei verschiedene Entwicklungen, die eine „bewegungsorientierte“ und anti-parlamentarische Ausrichtung der Fraktionen verstärkten: (1) Eine Re-Nominierung gelang nur einem Teil der bisherigen AfD-Abgeordneten; überwiegend gestalteten diese den ideologischen Wandel der Partei mit, repräsentieren ihn und bilden inzwischen einen „parlamentserfahrenen“ Kern der jeweiligen Fraktion; (2) eine politischen Professionalisierung und die beginnende Selbstrekrutierung in der AfD zeigt sich bei Abgeordneten, die vor dem Mandat als Partei-, Fraktions- oder Abgeordneten-Mitarbeiter angestellt waren; (3) dieser Personenkreis überschneidet sich z.T. mit Abgeordneten, die ihre Nominierung durch ihr Engagement in der Jugendorganisation der AfD vorbereiteten; (4) hinzu kommen einige Parlamentsneulinge, die langjährig in rechtspopulistischen Kleinstparteien (DSU, Die Freiheit) aktiv waren. Die Mehrzahl der neuen AfD-Abgeordneten – insbesondere in Brandenburg, Sachsen und Thüringen und im EP – charakterisiert nach wie vor politische, kommunalpolitische und parlamentarische Erfahrungsarmut bis zu ihrem AfD-Beitritt. Für eine konstruktive Oppositionspolitik im Parlament fehlt den AfD-Abgeordneten teils der politische Wille, teils die politische und institutionelle Erfahrung. [ZParl, 51. Jg. (2020), H. 3, S. 597 – 621]
Maier, Jürgen: „Salz in der Suppe“ oder „Klimakiller“? Empirische Befunde zum Wandel der parlamentarischen Streitkultur nach dem Einzug der AfD in die deutschen Landtage.
Der vorliegende Beitrag untersucht, ob der Einzug der Alternative für Deutschland (AfD) in die Parlamente zu einer Veränderung der parlamentarischen Streitkultur geführt hat. Basierend auf einer Inhaltsanalyse von Haushaltsdebatten für den Zeitraum 2012-2017 wird die Häufigkeit von Unterbrechungen und die Verwendung von unzivilisierten Äußerungen bei der Unterbrechung des Redners („Incivility“) in sieben deutschen Landtagen vor und nach dem Einzug der AfD verglichen. Die gemessenen Veränderungen werden der Entwicklung in zwei Bundesländern gegenübergestellt, in denen der AfD der Einzug in den Landtag nicht gelungen ist. Es zeigt sich, dass die Häufigkeit von Unterbrechungen – und damit die Konflikthaltigkeit der parlamentarischen Auseinandersetzung – durch die Präsenz der AfD zugenommen hat. Allerdings finden sich keine Anhaltspunkte, dass der Anstieg von „Incivility“ mit dem Einzug der AfD in die Landesparlamente zusammenhängt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die AfD konfrontativ auftritt, steigt mit ihrer parlamentarischen Bedeutung. Demgegenüber spielt es keine Rolle für das Auftreten der AfD in Parlamentsdebatten, ob sie sich eher bewegungs- oder eher parlamentsorientiert versteht. [ZParl, 51. Jg. (2020), H. 3, S. 622 – 638]
Jutzi, Siegfried: Aus für Thüringer Paritätsgesetz. Zum Urteil des Verfassungsgerichtshofs Thüringen vom 15. Juli 2020 – VerfGH 2/20.
Nach dem Landeswahlgesetz des Landes Thüringen sollte bei der nächsten Landtagswahl eine Paritätsregelung zur Anwendung gelangen. Jede Landesliste einer politischen Partei sollte abwechselnd mit Frauen und Männern besetzt werden. Der Verfassungsgerichtshof des Landes hat das Gesetz für nichtig erklärt. Es beeinträchtige das Recht auf Freiheit und Gleichheit der Wahl für Wähler und Wahlbewerber sowie das Recht der politischen Parteien auf Betätigungsfreiheit, Programmfreiheit und die Chancengleichheit. Diese Rechte erstreckten sich auch auf wahlvorbereitende Akte wie die Aufstellung von Listenkandidaten. Die Entscheidung wird im Ergebnis zustimmend kommentiert. [ZParl, 51. Jg. (2020), H. 3, S. 639 – 649]
Grau, Andreas: „1968“ in Schleswig-Holstein – „Ein Novum in der jüngeren deutschen Parlamentsgeschichte“. Die CDU und der Versuch einer parlamentarischen Untersuchung der „Unruhe in der Jugend“.
Angesichts der bundesweiten Studentenproteste richtete die CDU-Fraktion im Landtag von Schleswig-Holstein im Mai 1968 einen Arbeitskreis ein, um die „Unruhe in der Jugend“ zu untersuchen. Im Sommer 1968 wurde auch vom Landtag ein Sonderausschuss gebildet, um die Ursachen für die Studentenproteste herauszufinden. Der Sonderausschuss veranstaltete bis Anfang 1970 mehrere Anhörungen mit politischen Jugendverbänden und Sachverständigen. In seinem Abschlussbericht übte der Ausschuss nicht nur Kritik an der Arbeit des Landtages, sondern auch an den etablierten Parteien. Die in dem Bericht genannten Reformvorschläge haben bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren. Der Landtag von Schleswig-Holstein war das einzige Parlament in der Bundesrepublik Deutschland, das sich so umfassend mit der Kritik und der Situation der Jugend befasst hat. Während die CDU-Landtagsfraktion und die CDU Schleswig-Holsteins sich erstaunlich offen und selbstkritisch gegenüber den Jugendprotesten zeigten, macht ein Blick auf den CDU-Bundesvorstand deutlich, dass dieser weniger Verständnis für die Proteste hatte und keinen Anlass zu Reformen sah. [ZParl, 51. Jg. (2020), H. 3, S. 650 – 666]
Raisch, Judith und Reimut Zohlnhöfer: Beeinflussen Klima-Schulstreiks die politische Agenda? Eine Analyse der Twitterkommunikation von Bundestagsabgeordneten.
Haben sich die Proteste der FridaysForFuture (FFF)-Bewegung im klimapolitischen Agenda-Setting in Deutschland bemerkbar gemacht? Und beeinflusst die Parteizugehörigkeit von Bundestagabgeordneten die Häufigkeit und Art ihrer Bezugnahme auf die Bewegung? Diese Fragen untersucht der vorliegende Beitrag am Beispiel von mehr als 78.000 Tweets von 89 Bundestagsabgeordneten aus allen im Bundestag vertretenen Parteien zwischen November 2017 und April 2019. Die Untersuchung ergibt, dass Abgeordnete aller Parteien der Klimapolitik nach Protestbeginn mehr Aufmerksamkeit schenken als vor Protestbeginn. Wie von der Issue Ownership-Literatur erwartet, zeigt sich zudem, dass Abgeordnete von Grünen und Linken in ihren Tweets öfter auf die FFF-Bewegung verweisen, diese positiver darstellen und die Proteste stärker bewerben sowie Tweets zu FFF häufiger zur Kritik an der Klimapolitik der Regierung nutzen als AfD, FDP, CDU und CSU. SPD-Abgeordnete weisen dagegen ein Twitterverhalten auf, das in vielen Bereichen dem der Grünen und Linken entspricht. [ZParl, 51. Jg. (2020), H. 3, S. 667 – 682]
Linden, Markus: Masse oder Qualität? Über das Neben- und Gegeneinander von parlamentarischen und privaten Petitionsplattformen.
Der Beitrag skizziert die jüngere Entwicklung des Petitionswesens in Deutschland. Thematisiert werden die wichtigsten privaten und staatlichen Plattformen für öffentliche, digital-mitzeichenbare Petitionen. Die teilweise geforderte Anbindung der privaten Plattformen an das parlamentarische Petitionswesen wäre kontraproduktiv. Dagegen sprechen insbesondere die beobachtbaren Möglichkeiten der Einflussnahme auf den Petitionsverlauf sowie die zivilgesellschaftlich-unternehmerischen Verbindungen zwischen den verschiedenen privaten Kampagnen- und Petitionsplattformen. Stattdessen wird für eine Aufwertung des parlamentarischen Petitionswesens plädiert. Zwei konkrete Maßnahmen erscheinen hier vielversprechend: Die Einführung einer aktuellen Petitionsstunde im Plenum des Deutschen Bundestags und die Etablierung der digital mitzeichenbaren öffentlichen Petition in allen Bundesländern. Fragmentierungs-, Ökonomisierungs- und Deparlamentarisierungsprozessen kann so wirksam entgegengetreten werden. [ZParl, 51. Jg. (2020), H. 3, S. 683 – 702]
Sarcinelli, Ulrich: Der Staat in Zeiten des Internets. Auf der Suche nach einer Legitimationsarchitektur für die digitale Kommunikationsgesellschaft – Ein Essay.
Über die Rolle des Staates nachzudenken, mag einem in der Corona-Pandemie vorkommen wie „Eulen nach Athen (zu) tragen“. Bekanntermaßen sind Krisenzeiten Zeiten der Exekutive. Gefragt ist mehr denn je ein handlungsfähiger starker Staat. Allerdings hat sich die Architektur von Staatlichkeit verändert. Schon lange vor der Krise beschäftigte sich die politik- und sozialwissenschaftliche Forschung mit diesem Thema. Nicht zuletzt war und ist es die Digitalisierung, die die internationale Vernetzung vorantreibt und die Frage nach den Legitimationsbedingungen aufwirft. Denn Herrschaft wird zunehmend mit Mehrebenen-Arrangements verbunden und die Zurechnung von politischer Verantwortung diffundiert. Der Beitrag argumentiert, dass der Staat auch in der viel beschworenen „postnationalen Konstellation“ eine, wenn nicht die entscheidende, Legitimationsinstanz bleibt. Um der Erhaltung und Weiterentwicklung der liberalen Demokratie willen bedarf es jedoch einer neuen Ordnungspolitik für die digitale Kommunikationsgesellschaft, bei der es auf den Staat nicht weniger ankommt als auf eine aktive Zivilgesellschaft. [ZParl, 51. Jg. (2020), H. 3, S. 703 – 721]