Abstracts deutsch 1-2021
Vögele, Catharina und Ursula Alexandra Ohliger: Regieren nach oder getrieben von Umfrageergebnissen? Wie Bundes- und Landtagsabgeordnete die mediale Umfrageberichterstattung wahrnehmen.
Die vorliegende Studie untersucht die Wahrnehmung von Chancen und Risiken der politischen Umfrageberichterstattung durch politische Akteure auf Bundes- und Landesebene. Eine quantitative Online-Befragung von Abgeordneten des Bundestags sowie aller deutschen Landtage zeigt, dass die Wahrnehmung der Abgeordneten in Deutschland ambivalent ausfällt: Während Abgeordnete beider politischer Ebenen ein großes bis sehr großes Interesse an Meinungsumfragen aufweisen, stehen die politischen Akteure dem Nutzen der Meinungsforschung für die Ausübung ihres Mandats ambivalent gegenüber. Bezüglich des wahrgenommenen Nutzens der Umfrageberichterstattung, der eigenen Beauftragung von Meinungsumfragen sowie der gewünschten Häufigkeit der Umfrageberichterstattung zeigen sich Unterschiede zwischen den befragten Abgeordneten je nach Parteizugehörigkeit. Die Politiker setzen Meinungsumfragen vorrangig ein, um Wahlkampagnen strategisch zu planen sowie in der Öffentlichkeit kommunizierte und populäre Themen zu identifizieren. Eine große Mehrheit der befragten Politiker ist der Meinung, dass die Veröffentlichung von Umfrageergebnissen einen Einfluss auf die Wähler hat, dieser Einfluss eher negativ ist und rechtliche Beschränkungen für die Veröffentlichung von Wahlumfragen eingeführt werden sollten. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 1, S. 3 – 28]
Holtkamp, Lars und Benjamin Garske: Erklärungsfaktoren kommunaler Wahlbeteiligung. Bürgermeister- und Ratswahlen im Vergleich.
Die Höhe der Wahlbeteiligung ist auf kommunaler Ebene im (Flächen-)Bundesländervergleich nur partiell untersucht worden. In der Analyse steht die Frage nach den aus dem Forschungsstand abgeleiteten Zusammenhängen zwischen einzelnen Faktoren und der Beteiligung bei Stadtrats- und (Ober-)Bürgermeisterwahlen im Vordergrund, und inwieweit diese auch auf Aggregatdatenebene beobachtet werden können. In der Analyse kann dann gezeigt werden, dass nahezu alle aus der Literatur bekannten Hypothesen zur kommunalen Wahlbeteiligung insb. bei den Wahlen zur Kommunalvertretung gegen den Zufall abgesichert und im Flächenbundesländervergleich bestätigt werden können. Neben Hypothesen zu sozioökonomischen Variablen (Arbeitslosenquote, etc.) erweisen sich dabei institutionelle Faktoren in Teilen als ebenso erklärungskräftig. Zuvorderst ist hier die bereits in der Literatur als zentral ausgemachte Kopplung der Wahl mit höherer Ebene zu nennen, die die Wahlbeteiligung deutlich erhöht. Viele dieser Hypothesen wurden im Fortgang auf die Haupt- und Stichwahlen der (Ober-)Bürgermeister übertragen. Die herausgestellten Zusammenhänge konnten auch hier weitgehend nachgewiesen werden. Mit der Kandidatenanzahl steigt die Wahlbeteiligung deutlich. Eine geringe Wahlbeteiligung kann insb. bei Wiederwahl von Amtsinhaberkandidaturen beobachtet werden. Interessant ist, dass sozio-ökonomische Variablen in Stichwahlen einen zum Teil stärkeren (statistischen) Zusammenhang zur Wahlbeteiligung aufweisen als bei Hauptwahlen. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 1, S. 29 – 42]
Klein, Markus, Frederik Springer, Philipp Becker und Yvonne Lüdecke: Wer kandidiert für wen? Rekrutierungspotenzial politischer Parteien und kommunaler Wählergemeinschaften im Vergleich.
In Deutschland sind auf kommunaler Ebene in den Stadt- und Gemeinderäten, den Stadtverordnetenversammlungen und Kreistagen schätzungsweise 200.000 Mandate zu besetzen. Für das Funktionieren der lokalen Demokratie ist es von elementarer Bedeutung, dass sich für diese Mandate genügend Bewerberinnen und Bewerber finden lassen. Vor diesem Hintergrund wird das Rekrutierungspotenzial politischer Parteien und kommunaler Wählergemeinschaften im Hinblick auf Kandidatinnen und Kandidaten für Mandate auf kommunaler Ebene vergleichend untersucht. Die Datengrundlage bildet eine im Rahmen der Deutschen Parteimitgliederstudie 2017 durchgeführte repräsentative Bevölkerungsbefragung. Es zeigt sich, dass gut ein Viertel der Bevölkerung prinzipiell für eine Kandidatur auf kommunaler Ebene zu gewinnen ist. Zehn Prozent würden dabei nur für eine Partei, sechs Prozent nur für eine kommunale Wählergemeinschaft und weitere zehn Prozent für beide politischen Gruppierungen kandidieren. Diese drei Kandidatenpotenziale weisen im Hinblick auf ihre sozialstrukturelle Zusammensetzung und ihre politischen Einstellungen ein jeweils spezifisches Profil auf. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 1, S. 43 – 58]
Juen, Christina-Marie, Markus Tepe und Michael Jankowski: Abstiegserfahrungen in der Kommune und der Aufstieg Unabhängiger Wählergemeinschaften. Neue Befunde aus einem Mehrebenen-Kommunalwahlpanel.
Unabhängige Wählergemeinschaften (UWG) haben sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem festen Bestandteil der Kommunalpolitik in ganz Deutschland entwickelt. Trotz ihres politischen Bedeutungszuwachses sind die Ursachen ihres Aufstiegs kaum erforscht. Neuere Studie argumentieren, dass UWG nicht nur für eine ideologiefreie Sachpolitik stehen, sondern aufgrund ihres Anti-Parteien Charakters auch attraktiv sind für Wähler, die mit den etablierten Parteien unzufriedenen sind. Unter der Annahme, dass die Ablehnung politischer Parteien mit der Erfahrung lokaler Deprivation korrespondiert, untersucht dieser Beitrag auf Grundlage eines kleinräumigen Mehrebenen-Paneldatensatzes, wie sich sozioökonomische (Abwanderung, Überalterung, sinkende Steuereinnahmekraft) und polit-kulturelle (Fragmentierung, Wahlenthaltung) Deprivationsprozesse auf den Wahlerfolg von UWG auswirken. Die empirischen Befunde legen nahe, dass UWG erfolgreicher in Kommunen sind, in denen die Wahlbeteiligung gesunken und die politische Fragmentierung zugenommen hat. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 1, S. 59 – 77]
Pollex, Jan, Sebastian Block, Martin Gross, Dominic Nyhuis und Jan Velimsky: Ein zunehmend bunter Freistaat: Die Analyse der bayerischen Kommunalwahlen im März 2020 unter besonderer Berücksichtigung kreisfreier Städte.
Kommunalwahlen erfahren trotz ihrer zentralen Bedeutung für die politische Willensbildung bisher nur eine geringe politikwissenschaftliche Aufmerksamkeit. Um zur Behebung dieses Missstands beizutragen, analysiert der vorliegende Beitrag die Kommunalwahlen in Bayern im Jahr 2020. Obwohl die CSU weiterhin die stärkste Kraft im Freistaat bleibt, konnten Bündnis 90/Die Grünen vor allem in den bayerischen Großstädten deutliche Zugewinne verbuchen. Bei den Oberbürgermeisterwahlen gingen die Grünen hingegen leer aus. Bei den Stichwahlen standen sich Kandidatinnen und Kandidaten von CSU/CDU und SPD gegenüber, die meist zugunsten der Sozialdemokraten ausgingen. Neben den Wahlergebnissen geht der Beitrag ebenfalls auf die Kandidatenlisten, die Zusammensetzung der Stadträte sowie auf die Koalitionsbildungen ein. Er liefert damit ein umfassendes Bild der Kommunalwahlen, die nicht zuletzt aufgrund des besonderen Wahlsystems eine Sonderstellung im deutschen politischen System einnehmen. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 1, S. 78 – 94]
Fitzpatrick, Jasmin und Sabrina J. Mayer: Mehr als immer nur dagegen? Die legislative Agenda grüner Parteien in Deutschland und Österreich in Zeiten Großer Koalitionen.
Für die Untersuchung, für welche Themen die deutschen und österreichischen Grünen Parteien das Initiativrecht in Zeiten Großer Koalitionen nutzen, wurde eine inhaltsanalytische Auswertung aller Gesetzesentwürfe dieser Parteien zwischen 2007/2008 sowie 2013 und 2017 mit Hilfe der deutschen Variante des Comparative Agendas Project Master Codebooks durchgeführt. Zusätzlich werden grüne Themen identifiziert, die in der Programmatik der Grünen eine so zentrale Rolle spielen, dass sie im Programm erwähnt werden. Wir beobachten für Deutschland, dass eine unter Druck geratene Oppositionspartei ihr parlamentarisches Themenprofil diversifiziert und stärker auf eigene Themen fokussiert. Diese Entwicklung ist jedoch kein genereller grüner Trend: Während sich der Anteil der Initiativen mit grünen Themen in Deutschland nach dem Atomausstieg mehr als verdoppelt hat, ging er in Österreich leicht zurück. In beiden Ländern beobachten wir zudem einen Anstieg hinsichtlich der unterschiedlichen Themenfelder die Initiativen mit grünen Thematiken abdecken. Diese thematische Divergenz liefert Anhaltspunkte, dass Initiativen vermehrt dazu genutzt werden, sich ein diverses grünes Profil zu schaffen. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 1, S. 95 – 107]
Pallaver, Günther: Verfassungsreferendum zur Verkleinerung des italienischen Parlaments. Zur Wirkung eines Meinungsklimas aus tiefsitzendem Misstrauen und populistischem Groll.
Beim Verfassungsreferendum am 20. und 21. September 2020 stimmten die Italiener über die Verkleinerung des Parlaments von 945 auf 600 Abgeordnete ab. Bei einer Wahlbeteiligung von 51 Prozent stimmten 70 Prozent für diesen Vorschlag. Der Beitrag beschreibt die historische Entstehungsgeschichte, den Verlauf, der zum Referendum geführt hat, sowie das Wahlergebnis und die damit verbundenen Folgen. Im Mittelpunkt steht aber die Frage, weshalb dieses Referendum ein so eindeutiges Ergebnis erbracht hat. Dabei wird von der These ausgegangen, dass diese hohe Zustimmung deshalb zustande gekommen ist, weil das Meinungsklima seit Jahren auf der Seite der Befürworter stand, das Parlament zu verkleinern. Dieses Meinungsklima ist das Ergebnis einer Jahrzehnte langen Debatte über und gegen die politische „casta“, die dazu geführt hat, dass Parteien und Parlament in der öffentlichen Meinung immer mehr an Vertrauen verloren haben, bis selbst die Parteien der Verkleinerung zustimmten. Der Versuch der Gegner, dieses Meinungsklima noch kurz vor der Abstimmung zu kippen, um eine Mehrheit gegen die Verkleinerung des Parlaments zu mobilisieren, musste wegen der längst zementierten Meinung zum Thema scheitern. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 1, S. 108 – 124]
Decker, Frank: Bürgerräte – Abhilfe gegen die Repräsentationskrise oder demokratiepolitisches Feigenblatt?
In der Bundesrepublik wurde unter den Rezepten gegen die Repräsentationsschwäche der parlamentarischen Parteiendemokratien in den letzten Jahrzehnten vor allem die direkte Demokratie favorisiert. Inzwischen ist bei deren Befürwortern ein Sinneswandel eingetreten – die SPD und nicht zuletzt die Grünen rücken von ihren einstigen pro-plebiszitären Positionen ab. Stattdessen propagieren sie jetzt solche Verfahren der Bürgerbeteiligung, die lediglich konsultativen Charakter haben und auch „von oben“, also von Parlament und/oder Regierung eingesetzt werden können. Als Vorteil heben sie dabei zugleich die Zufallsauswahl der Teilnehmer hervor, die ein hohes Maß an sozialer Repräsentativität gewährleiste. Die von den Verfahren erhoffte Stärkung der Selbstwirksamkeit der Bürger wird aber nur eintreten, wenn deren Empfehlungen in die Entscheidungen tatsächlich einfließen. Die auf Initiative und unter Federführung des Vereins „Mehr Demokratie“ 2019 bzw. 2021 zustande gekommenen Bürgerräte werden dem nicht gerecht und wecken eher den Verdacht einer Alibiveranstaltung. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 1, S. 125 – 140]
Müller, Melanie und Marcus Höreth: Minderheitsregierung im Bund? Lehren zum Oppositionsverhalten aus Schweden.
Regierungsstabilität ist im deutschen Bundestag traditionell an eine parlamentarische Mehrheit und eine oppositionelle Minderheit gebunden. Nichtsdestotrotz zeigen Minderheitsregierungen in anderen westlichen Demokratien, dass sie trotz fehlender Parlamentsmehrheit zusammen mit der Opposition stabil und effektiv regieren. Der Beitrag untersucht am schwedischen Fall, wie in einer Minderheitsregierung Oppositionsparteien in den Gesetzgebungsprozess einbezogen werden, und nach welchen Mustern sich Oppositionsparteien verhalten, um Regierungsstabilität zu wahren ohne dabei ihre Alternativfunktion zu vernachlässigen. Das Papier verbindet dabei theoretisch-konzeptionelle Überlegungen zum adäquaten Oppositionsverständnis in der Bundesrepublik mit empirischen Befunden zu Kooperationen und Konflikten zwischen Oppositionsparteien und Minderheitsregierungen. Die Ergebnisse zeigen, dass Oppositionsparteien strategisch zwischen konfrontativen (Westminster-Style) und konsensualen Verhaltensmustern (republikanisch) wechseln. Durch diese flexible Mehrheitsfindung können sich Oppositionsparteien gegenüber dem Elektorat abwechselnd als Policy-Maker oder auch als alternativer Gegenspieler der Regierung präsentieren. Dieses Oppositionsverhalten ist unter den Bedingungen eines pluralisierten und fragmentierten Parteiensystems und daraus resultierender Schwierigkeiten bei der Bildung einer stabilen Regierungsmehrheit funktionslogisch adäquat. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 1, S. 141 – 158]
Pilniok, Arne: Das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz als Herausforderung für die Parlamente.
Die digitale Transformation verändert Staat, Verwaltung und Gesellschaft nachhaltig. Dieser Prozess wird durch die vieldiskutierten Technologien Künstlicher Intelligenz noch intensiviert. Damit gehen vielfältige Herausforderungen für die Parlamente – und mittelbar zugleich für die Parlamentsforschung – einher. Deren unterschiedliche Dimensionen werden bisher nicht umfassend diskutiert, obwohl die technologischen Entwicklungen alle parlamentarischen Funktionen und deren Prämissen betreffen. Dieser Beitrag systematisiert und strukturiert daher die verschiedenen Auswirkungen des Zeitalters Künstlicher Intelligenz auf die parlamentarische Demokratie. So verändern sich die Bedingungen demokratischer Repräsentation, die innovationsoffene Regulierung der digitalen Techniken wird zur parlamentarischen Aufgabe, die parlamentarische Kontrolle muss auf den Einsatz von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz in Regierung und Verwaltung eingestellt werden sowie möglicherweise die Wissens- und Organisationsstrukturen parlamentarischer Arbeit angepasst werden. Damit ergeben sich Anknüpfungspunkte für zukünftige detaillierte Analysen, um diese Veränderungsprozesse angemessen zu erfassen und aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven zu begleiten. [ZParl, 52. Jg. (2021), H. 1, S. 159 – 181]