Kolkmann, Michael: Zurück zum „Divided Government“: Die US-amerikanischen Kongresswahlen vom 8. November 2022.
In US-amerikanischen Zwischenwahlen büßt die Partei des regierenden Präsidenten traditionell Kongresssitze ein. Bei den Wahlen vom 8. November 2022 verzeichnete Präsident Joe Biden ein überraschend gutes Ergebnis: zwar verloren seine Demokraten die Mehrheit im Repräsentantenhaus an die Republikaner, im Senat konnten sie ihre bislang äußerst knappe Mehrheit um einen Sitz ausbauen. Das politische Geschehen in Washington wird in den nächsten beiden Jahren also vom „divided government“ geprägt, also einer Kontrolle des Repräsentantenhauses auf der einen Seite und des Senats sowie des Weißen Hauses durch unterschiedliche Parteien. Der neue Kongress weist in vielfacher Hinsicht beim Blick auf seine Zusammensetzung Rekordwerte auf. Die Wahl von Kevin McCarthy zum neuen Speaker, der dafür 15 Wahlgänge benötigte, wirft ein Schlaglicht auf die Parlamentsarbeit der neuen Mehrheit, da die Republikanische Fraktion äußerst heterogen zusammengesetzt ist und die Organisation von gesetzgeberischen Mehrheiten ähnlich schwierig werden dürfte wie die Wahl ihres Speakers. Inhaltlich werden sich die Republikaner vor allem auf Untersuchungen der Biden-Administration fokussieren. Überlagert wird die Arbeit des 118. Kongresses durch den beginnenden Kongress- und Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 2024. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 1, S. 3 – 22]
Cammisa, Anne Marie: Den US-Kongress ins 21. Jahrhundert führen: Strategien und Prozesse in Zeiten von Pandemie und Polarisierung.
Der Beitrag wirft einen Blick darauf, vor welchen Herausforderungen das politische System der USA in Zeiten von Populismus und Polarisierung steht, um das tief gespaltene Land für das digitale Zeitalter politisch zu reformieren. Wie nötig das ist, aber auch mit wie vielen Schwierigkeiten verbunden, hat die Corona-Pandemie gezeigt. Die Herausforderungen, die die horizontale und vertikale Gewaltenteilung in den USA für die Bewältigung der Pandemie bedeuteten, werden dabei detailliert herausgearbeitet. Auch die technisch-organisatorischen Kapazitäten und personellen Ressourcen des US-Kongresses haben sich als nicht adäquat erwiesen. Es sind „significant changes“ der parlamentarischen Prozesse nötig. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 1, S. 23 – 34]
Adorf, Philipp: Die Auseinandersetzung mit Covid-19 in den USA – eine parteipolitische Pandemie?
Die Coronapandemie wurde in den Vereinigten Staaten von Anfang an politisiert. Für den damaligen Präsidenten Donald Trump war sie nicht viel mehr als ein weiterer Versuch des politischen Gegners und der Medien, ihm Schaden zuzufügen. Das Demokratische Lager sah in Trumps Vorgehen abermals ein Beispiel der Unfähigkeit des Präsidenten und der wachsenden wissenschaftsfeindlichen Stimmung innerhalb der Republikanischen Partei. Dass die Anhängerschaften der beiden Parteien die Pandemie unterschiedlich interpretierten, lässt sich insbesondere auf das Ausmaß der „gefühlsbezogenen“ Polarisierung zurückführen. Der politische Gegner wird nunmehr immer stärker als Feind wahrgenommen, der in allen politikbezogenen Fragen falsch liegt und oftmals als Bedrohung für die Werte und Demokratie des Landes angesehen wird. Dementsprechend verschmolz das Verhalten hinsichtlich Masken, Abstandsregeln und Impfung mit der politischen Zugehörigkeit; ein Prozess, der ein gemeinsames Vorgehen bei der Bekämpfung der Pandemie erschwerte. Auch in anderen politischen Bereichen ist zu erwarten, dass die wachsende Antipathie der beiden Lager füreinander in einem wachsenden Ausmaß konkrete politische Präferenzen formen wird. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 1, S. 35 – 51]
Lemke, Christiane: Perspektiven für die transatlantischen Beziehungen nach den US-Kongresswahlen 2022.
Vor dem Hintergrund des knappen Wahlsiegs der Republikaner im Repräsentantenhaus wird in diesem Beitrag der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen die geänderten Mehrheitsverhältnisse im Kongress für die transatlantischen Beziehungen haben werden. Wo stehen die Republikaner, und welche Kursänderungen sind in der jetzigen Legislaturperiode zu erwarten? Kann Europa weiterhin auf den verlässlichen Partner in Washington setzen, oder wird das Repräsentantenhaus die außenpolitische Agenda von Biden blockieren? In dem Beitrag werden verschiedene Szenarien entwickelt, die aus den neuen Machtverhältnissen in Washington abgeleitet werden können. Zugrunde liegt dabei die theoretische Annahme, dass Außenpolitik vornehmlich durch die innenpolitischen Konstellationen und Kontroversen geprägt wird und sich die zunehmende Polarisierung zwischen den Republikanern und den Demokraten auch auf außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen auswirkt. Im Ergebnis wird argumentiert, dass das transatlantische Verhältnis in den kommenden zwei Jahren durch eine doppelte Spannung bestimmt werden wird, und zwar innerhalb des Regierungssystems sowie im Parteiensystem selbst. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 1, S. 52 – 68]
Wurthmann, L. Constantin: Kooperation oder Abgrenzung? Einstellungen zum oppositionellen Umgang der CDU/CSU mit der Linken und der AfD.
Sollte sich die CDU/CSU gegenüber der Linken und der AfD politisch öffnen? Diese Frage wird unlängst häufiger vor allem im Osten der Bundesrepublik Deutschland gestellt, obwohl beide Parteien, aber auch die gemeinsame Bundestagsfraktion, hierzu unmissverständliche Positionen haben. Der vorliegende Beitrag untersuchst erstmalig auf Basis von Daten, die im Nachgang an die Bundestagswahl 2021 gesammelt wurden, wie seitens der Bevölkerung sowie unter jenen, welche die CDU/CSU als wahrscheinliche Wahloption betrachten, unterschiedliche Formen oppositioneller Zusammenarbeit als erste Öffnungsstrategie wahrgenommen werden. Hierbei zeigt sich eine sehr starke Ablehnung der Bevölkerung und auch der potenziellen Unionswählerschaft für jedwede Kooperation mit der AfD – von der Zustimmung zu AfD-Anträgen bis hin zur Öffnung für Koalitionen. Weniger deutlich in der Ablehnung sind die Einstellungen gegenüber Kooperationsformen mit der Linken, gleichwohl auch hier eine tendenzielle Ablehnung festzustellen ist. Für eine Öffnung gegenüber der AfD und eine Ablehnung ebendieser gegenüber der Linken zeigt vor allem die individuelle Selbstpositionierung als sehr konservativ einen sehr starken Effekt auf eine solche Einstellung. Gerade im ersteren Fall handelt es sich allerdings um eine marginalisierte Minderheit – selbst bei potenziellen Wählern von CDU und CSU. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 1, S. 69 – 86]
Wimmel, Andreas: Opposition gegen die Umsetzung von EU-Recht im Bundestag.
Eine Aufgabe nationaler Parlamente besteht in der Umsetzung von EU-Recht in die innerstaatliche Rechtsordnung. Dieser Aufsatz überprüft, ob und unter welchen Bedingungen Oppositionsfraktionen im Bundestag eine solche Übertragung unterstützen. Die Ergebnisse einer statistischen Auswertung aller Abstimmungen über nationale Umsetzungsgesetze seit 1990 zeigt einen stabilen Trend hin zu einer konkurrierenden Opposition, der sich auch im Abstimmungsverhalten proeuropäischer Oppositionsfraktionen manifestiert. Hinzu kommt, dass die relativ hohen Ablehnungsquoten nicht mit einer kritischen Haltung gegenüber der inhaltlichen Übersetzung in innerstaatliches Recht erklärt werden können, weil nicht nur gegen Richtlinien, sondern auch gegen Verordnungen und EuGH-Urteile opponiert wird, die der Regierung kaum Umsetzungsspielräume lassen. Beide Befunde bestätigen die EU-Politisierungsthese, nach der Europapolitik zu einem integralen Bestandteil des nationalen Parteienwettbewerbs geworden ist. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 1, S. 87 – 104]
Jesse, Eckhard: Die Fünfprozentklausel aus politikwissenschaftlicher Sicht: Geschichte, Wirkung, Kritik, Reformen.
Die Fünfprozenthürde für den Bundestag hat sich bewährt und sollte bewahrt werden. Auf der einen Seite konnte sie Splitterparteien aus dem Deutschen Bundestag fernhalten, auf der anderen Seite versperrte sie Neugründungen nicht den Weg in das Bundesparlament. Hingegen unterlaufen die Grundmandatsklausel und die Minderheitenklausel den Sinn der Fünfprozenthürde. Sie sind abschaffungswürdig. Stattdessen sollte jeder Wähler eine Nebenstimme erhalten. Sie käme dann zum Zuge, wenn der Wähler für eine Partei votiert, die an der Fünfprozentklausel scheitert. Eine solche Reform würde die Vorteile der Sperrklausel beibehalten und deren Nachteile beseitigen. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 1, S. 105 – 123]
Kitzing, Michael: Ein Handbuch zur deutschen Parteiengeschichte 1861 bis 1933. Überlegungen zu einem jahrzehntealten Forschungsdesiderat.
Noch immer stellen die von Dieter Fricke (Jena) in den 1960er-1980er Jahren herausgebrachten Lexika die Standardwerke für die parteiengeschichtliche Forschung bis 1945 dar. Obwohl die Arbeiten Frickes eine solide Faktenbasis bieten, sind sie jedoch durch sozialistische Rhetorik geprägt und zudem methodisch inzwischen überaltert. Der Aufsatz untersucht nun: Welche Fragestellungen sind heute an die Parteien des Kaiserreichs und der Weimarer Republik heranzutragen? Ähnlich wie bei Fricke soll weiterhin nach Entstehungszusammenhang, Programmatik, Organisation und tagespolitischer Arbeit der Parteien gefragt werden. Doch darüber hinaus sollen zudem kulturhistorische Aspekte wie die Frage nach dem Verhältnis von Partei und Öffentlichkeit wie auch die Selbstinszenierung der jeweiligen Parteien erörtert werden. In gleicher Weise soll der Blick auf die internationale Vernetzung der Parteien geworfen werden, genauso wie ein heutiges Handbuch stärker noch die Parteien in den Gliedstaaten des Reiches in den Fokus nehmen soll. Zuletzt erörtert der Aufsatz noch, wie im Zusammenhang mit dem Handbuch zur deutschen Parteiengeschichte zugleich ein Beitrag zur politischen Bildung geleistet werden kann. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 1, S. 124 – 142]
Horst, Patrick: Von Obama über Clinton, Sanders und Warren zu Biden: Die Demokratische Partei zwischen Populismus, Pragmatismus und Progressivismus.
Populismus, Pragmatismus und Progressivismus haben die Entwicklung der Demokratischen Partei von Barack Obamazu Joe Biden geprägt. Die von Obamas Populismus geschürten Erwartungen haben insbesondere bei jüngeren Generationen zu Enttäuschungen, sozialem Protest und einem „sozialistischen Erwachen“ (John Judis) geführt. Progressive Politiker wie Bernie Sanders und Elizabeth Warren konnten diese Enttäuschung in den Vorwahlen der Demokraten 2016 und 2020 mobilisieren. Es gewannen mit Hillary Clinton und Joe Biden zwar die zentristischen und pragmatischen Präsidentschaftsbewerber; dennoch hat der ideologische Linksrutsch der Partei, der durch entschiedenen Widerstand gegen Präsident Donald Trump noch befeuert wurde, Regierungsprogramm und Regierungstätigkeit der Partei im Bund und in den Einzelstaaten weiter nach links geführt. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 1, S. 143 – 161]
Adorf, Philipp: Die Republikaner im Zwischenwahljahr: Unter der Kontrolle Donald Trumps oder auf dem Pfad der Befreiung vom Populistenpräsidenten?
Auf Republikanischer Seite ging man in das Wahljahr 2022 mit der Erwartung, beide Kammern des Kongresses zu erobern. Doch stellte sich das Ergebnis als Ernüchterung heraus. Insbesondere die eigene Kandidatenwahl schmälerte die Chancen der parlamentarischen Machtübernahme. Unerfahrene und oftmals ideologisch radikale Kandidaten verloren zahlreiche Wettbewerbe, die wenige Monate vor der Wahl noch als vielversprechend für das Republikanische Lager erschienen. Die Verantwortung für diese mediokere Kandidatenauslese und das Ergebnis ließ sich gerade bei Donald Trump finden. Trump-treue Kandidaten schnitten merklich schlechter als andere Republikanische Amtsanwärter ab. Trotz dieser für das Trump-Lager enttäuschenden Ergebnisse haben sich die Republikaner nicht von der nationalpopulistischen Agenda des ehemaligen Präsidenten abgewandt. Nicht nur am radikalen Rand der Partei wird der Ausgang der vorherigen Präsidentschaftswahl weiterhin infrage gestellt. Darüber hinaus unterstützen oftmals Mehrheiten der Republikanischen Wählerschaft die teilweise antidemokratischen Positionen Trumps. Somit bietet sich das Bild einer Partei, die weiterhin auf dem Radikalisierungspfad schreitet. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 1, S. 162 – 179]
Schmahl, Stefanie: Wahlsystem der verbundenen Mehrheitsregel (Kappungssystem) versus modifiziertes echtes Zwei-Stimmen-Wahlrecht (asymmetrisches Grabenwahlrecht): Welches System ist verfassungskonform? – Zugleich eine Replik auf Joachim Behnke in Heft 3/2022 der ZParl.
Mit dem Ziel, die Größe des Bundestages auf 598 Abgeordnete zu begrenzen, planen die Regierungsfraktionen eine Reform des Bundeswahlgesetzes auf der Grundlage eines Wahlsystems der verbundenen Mehrheitsregel (Kappungssystem). Gegen dieses Wahlmodell bestehen verschiedene verfassungsrechtliche Bedenken. Vor allem ist fragwürdig, gegen den Mehrheitswillen der Wähler Direktmandate in den Wahlkreisen nicht zuzuteilen, sondern diese Zuteilung von einer Hauptstimmendeckung abhängig zu machen. Dem Demokratieprinzip ist eine „proporzkonditionierte Mehrheitsregel“ fremd. Demgegenüber ist ein echtes Zwei-Stimmen-Wahlrecht (Grabenwahlrecht) verfassungsrechtlich unproblematisch. Danach wird ein Teil der Abgeordneten durch Mehrheitswahl in den Wahlkreisen und ein Teil der Abgeordneten durch bundesweite Verhältniswahl nach Landeslisten gewählt. Eine gegenseitige Verrechnung von Wahlkreis- und Listenstimmen gibt es nicht. Der Sorge, dass ein Zwei-Stimmen-Wahlrecht kleinere Parteien benachteiligt, kann durch ein asymmetrisches Wahlsystem, das die Balance zwischen den Sitzanteilen der Mehrheits- und der Verhältniswahl in Richtung Verhältniswahl verschiebt, entgegengetreten werden. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 1, S. 180 – 192]