Niedermayer, Oskar: Die Berliner Abgeordnetenhauswahlen vom 26. September 2021 und vom 12. Februar 2023: Von Rot-Rot-Grün über Rot-Grün-Rot zu Schwarz-Rot.
Die nach der Wahl von 2016 gebildete rot-rot-grüne Koalition hatte von Anfang an mit massiven Problemen zu kämpfen. Vor allem die SPD verlor an Zustimmung, was zur Ablösung Michael Müllers durch Franziska Giffey als Spitzenkandidatin zur Wahl von 2021 führte. Die SPD gewann die Wahl, allerdings mit dem schlechtesten Ergebnis ihrer Nachkriegsgeschichte. Die Grünen kamen mit Stimmengewinnen auf den zweiten Platz. Auch die CDU und die FDP konnten leicht zulegen, während die Linke leichte und die AfD deutliche Verluste hinnehmen mussten. Obwohl Giffey ihr politisches Gewicht für eine Regierungsbildung mit Grünen und FDP in die Waagschale warf, setzten sich im linken SPD-Landesverband die Befürworter einer auch von den Grünen klar präferierten rot-grün-roten Koalition durch. Der neue Senat bestand neben der Regierenden Bürgermeisterin Giffey aus je drei Senatorinnen und Senatoren aus den drei Koalitionsparteien. Da die Wahl jedoch von den Behörden unsachgemäß vorbereitet war und eine Vielzahl von gravierenden, auch mandatsrelevanten Wahlfehlern auftrat, erklärte der Berliner Verfassungsgerichtshof im November 2022 die Wahl für ungültig und ordnete eine komplette Wiederholung an, die am 12. Februar 2023 stattfand. Die Wiederholungswahl wurde mit deutlichem Vorsprung von der CDU gewonnen. Alle Regierungsparteien mussten Verluste hinnehmen, die AfD gewann leicht hinzu, während die FDP den Wiedereinzug ins Abgeordnetenhaus verfehlte. Das Wahlverhalten der verschiedenen sozialen Gruppen änderte sich nicht wesentlich. Bei den Kandidatenorientierungen schnitt Franziska Giffey im Vergleich zur Konkurrenz von CDU (Kai Wegner) und Grünen (Bettina Jarasch) am besten ab, auch wenn alle ihre Werte 2023 zurückgingen und sich der Abstand zu Wegnerdeutlich verringerte. Bei den Orientierungen gegenüber den politischen Inhalten zeigte sich ein äußerst pessimistisches Meinungsklima, das sich in der schlechten Bewertung des Senats niederschlug. Die CDU bildete zwar für viele keine wirklich überzeugende Alternative, ihr wurde aber in Meinungsumfragen zumeist die höchste Problemlösungskompetenz zugewiesen. Noch vor dem Ende der CDU-geführten Sondierungsgespräche entschied sich die SPD-Führung überraschend und zum Ärger von Grünen und Linken, trotz immer noch vorhandener rot-grün-roter Mandatsmehrheit eine Koalition mit der CDU anzustreben. Die Koalitionsverhandlungen des Spitzenpersonals verliefen reibungslos, die SPD war jedoch gespalten, und die Mitglieder votierten nur knapp für den Koalitionsvertrag. Der Start der neuen Regierung war äußerst holprig, da Wegner erst im dritten Wahlgang gewählt wurde. Dem Senat gehören neben Wegner je fünf Mitglieder der CDU und SPD an. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 2, S. 223 – 252]
Klein, Markus: Die niedersächsische Landtagswahl vom 9. Oktober 2022: Eine Wahl im Zeichen der Energiekrise und des Konflikts um die Atomkraft.
Die Landtagswahl in Niedersachsen vom 9. Oktober 2022 war die erste Wahl in Deutschland nach der Einstellung der russischen Gaslieferungen nach Westeuropa. Der Wahlkampf stand dementsprechend im Zeichen der Energiekrise und des damit verbundenen Konflikts um die Weiternutzung der deutschen Kernkraftwerke. Landespolitischen Themen kam demgegenüber kaum Bedeutung zu. Wahlsieger wurde die SPD, die mit leichten Verlusten ihre Stellung als stärkste Partei im Niedersächsischen Landtag behaupten konnte. Ausschlaggebend hierfür war nicht zuletzt die hohe Popularität des amtierenden Ministerpräsidenten Stephan Weil, dem die Wähler zutrauten, das Land durch die Krise zu führen. Die CDU büßte massiv Stimmen ein und musste ihr schlechtestes Wahlergebnis in Niedersachsen seit 1955 hinnehmen. Die Grünen hingegen konnten deutlich zulegen und erzielten ihr bestes niedersächsisches Ergebnis seit Gründung der Partei. Die AfD verbesserte sich ebenfalls deutlich, während die FDP aus dem Landtag ausschied. Nachdem die beiden bislang in einer Großen Koalition regierenden Parteien SPD und CDU bereits vor der Wahl angekündigt hatten, ihre Zusammenarbeit nicht fortsetzen zu wollen, kam es nach der Wahl zur Bildung einer rot-grünen Landesregierung. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 2, S. 253 – 271]
Carstensen, Franziska, Jakob Hirn und Kevin W. Settles: Alte Gesichter, neue Chancen? Wechsel im Ministerpräsidentenamt nach und zwischen Landtagswahlen (1950 bis 2022).
Können Ministerpräsidenten trotz ihrer nicht-direkten Wahl auf einen Amtsbonus bei Landtagswahlen setzen? Veränderungen im Amt des Ministerpräsidenten nach (und zwischen) Landtagswahlen in Deutschland von 1950 bis 2022 zeigen: Die Bedeutung der Landesparlamente und ihrer Fraktionen ist bei der Bestellung dieses Amtes nicht zu unterschätzen. Es wurden im Untersuchungszeitraum sogar mehr neue Amtsinhaber während einer Wahlperiode als nach Landtagswahlen von den Landesparlamenten gewählt. Für die Wahlen während Wahlperioden konnten vier unterschiedliche Rücktrittsgründe von Vorgängern im Amt identifiziert werden: Nachfolgeregelungen glückten besonders gut nach Rücktritten aus persönlichen Gründen. Zudem lässt sich ein indirekter Amtsbonus bestätigen: Parteien amtierender Ministerpräsidenten, die eine volle Amtszeit absolviert hatten, erlitten im Vergleich zu denen, die eine kürzere Amtszeit hatten, durchschnittlich weniger Stimmenanteilsverluste. Darüber hinaus ist eine Zunahme der Wahlniederlagen von Amtsinhabern bei Landtagswahlen seit 1990 zu verzeichnen. Parteien von Amtsinhabern haben bei Landtagswahlen zwischen 1991 und 2022 durchschnittlich mehr Stimmenanteile verloren als in der Zeit bis 1990; besonders ausgeprägt ist dies seit 1991 wiederum bei Parteien von Ministerpräsidenten, die kürzer als eine Wahlperiode im Amt waren. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 2, S. 272 – 297]
Lutz-Auras, Ludmila und Dennis Bastian Rudolf: Politisches Damengambit – Wahrnehmungen und subjektive Ursachen weiblicher Unterrepräsentanz im Landtag Mecklenburg- Vorpommerns.
Warum nehmen Parlamentarierinnen die Unterrepräsentanz von Frauen in Parlamenten und Politik überhaupt als Problem wahr? Diese Frage stellt sich unmittelbar, wenn prinzipiell unklar bleibt, inwiefern deskriptive Formen der Repräsentation mit Hanna Fenichel Pitkin als zielführend oder effektiv für politische Entscheidungen und Repräsentationsprozesse gelten können. Aufbauend auf demokratietheoretischen Erörterungen widmet sich die qualitative Interviewstudie unter Parlamentarierinnen der achten Wahlperiode des Landtags Mecklenburg-Vorpommerns (seit 2021) dieser Frage aus praktischer Perspektive. Auf Grundlage der subjektiven Ursachen für die anhaltende geringere Präsenz von Frauen als Männern im Parlament, die sich vor allem auf institutionelle und kulturelle Aspekte sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bzw. Mandat beziehen, konnten vier Argumentationsweisen für das Phänomen skizziert werden: (1) formal-deskriptive, (2) substantiell-deskriptive, (3) kulturell-diskursive sowie (4) keine Problemwahrnehmung. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 2, S. 298 – 315]
Diesing, Johannes: Die Abgeordneten im Landtag Mecklenburg-Vorpommerns: Sozialprofil im Wandel.
Im Zuge des Transformationsprozesses nach der Wiedervereinigung kam es in Ostdeutschland zu einem Elitentransfer aus dem Westen in den Osten. Dieser Transfer betraf viele gesellschaftliche Bereiche, so auch das Personal des politischen Systems in den neuen Ländern. 30 Jahre nach der politischen Wende ist davon auszugehen, dass sich das Sozialprofil der Abgeordneten in den Landesparlamenten erneut geändert hat, weil mittlerweile Politiker aus der Generation der sogenannten Wendekinder in die Parlamente gewählt wurden. Dies wird für den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern und seinen gewählten Mitgliedern der 1. (1990 bis 1994), 6. (2011 bis 2016) und 8. (seit 2021) Wahlperiode untersucht. Aus den öffentlich verfügbaren Informationen der Handbücher des Landtages werden die biografischen Daten zu Geburtsort und Umzug nach Mecklenburg-Vorpommern sowie die beruflichen Hintergründe der Abgeordneten sowie weitere Variablen erfasst und ausgewertet, um Veränderungen über die letzten 30 Jahre und Kontinuitäten festzustellen. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 2, S. 316 – 327]
de Nève, Dorothée: Koalitionspolitische Herausforderungen und Corona-Krisenmodus – schwarz-grüne Bildungspolitik in Hessen.
Mit der ersten schwarz-grünen Regierungskoalition in einem Flächenland setzte die hessische Landespolitik (erneut) relevante politische Akzente, die bundespolitische Signalwirkung entfalten. Was zunächst als riskantes Experiment galt, funktionierte letztlich weitestgehend harmonisch. Bei der Landtagswahl 2018 haben die Wählerinnen und Wähler insofern Schwarz-Grün im Amt bestätigt. In diesem Beitrag wird erstens der Prozess der schwarz-grünen Annäherung in Hessen erörtert. Zweitens wird die politische Praxis dieser ungleichen Regierungspartner am Beispiel der Bildungspolitik untersucht. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 2, S. 328 – 353]
Klein, Markus, Christoph Kühling und Frederik Springer: Der Bürgerentscheid über die Abwahl des Frankfurter Oberbürgermeisters vom 6. November 2022: Vorgeschichte, Ablauf, Ergebnis, Verfahrensdefizite und Reformvorschläge.
Aufgrund des Vorwurfs der Vorteilsannahme im Amt kam es am 6. November 2022 zu einem Bürgerentscheid über die Abwahl des Frankfurter Oberbürgermeisters Peter Feldmann. Der Beitrag stellt zunächst die verfahrensrechtliche Ausgestaltung des Abwahlverfahrens in Hessen dar und beleuchtet dabei insbesondere die Höhe des erforderlichen Zustimmungsquorums kritisch: Das Quorum habe unerwünschte Konsequenzen für den politischen Wettbewerb und die Politische Kultur. So verändert es etwa die Wahlkampflogik, indem es eine einseitige Mobilisierung der Gegner des Amtsinhabers fördert. Amtlichen Wahldaten belegen, dass die Beteiligung am Bürgerentscheid in Stadtteilen, in denen Feldmann bei der Oberbürgermeisterwahl 2018 besonders gut abgeschnitten hatte, tatsächlich geringer ausfiel. Für eine mögliche Reform der Hessischen Gemeindeordnung könnte man am Quorum ansetzen, etwa dessen Senkung oder gar Abschaffung ins Auge fassen. Aber auch weitergehende Reformen wie der völlige Verzicht auf ein Abwahlverfahren werden diskutiert. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 2, S. 354 – 375]
Gabriel, Oscar: Responsivität im polarisierten Pluralismus – Zur Entwicklung der Einstellungskongruenz zwischen Politikern und Wählern auf umstrittenen Politikfeldern.
Bürgernähe von Politikern ist eines der wichtigsten Merkmale einer repräsentativen Demokratie. Sie lässt sich daran messen, ob und inwieweit die Präferenzen von Politikern und Bevölkerung übereinstimmen. Insbesondere in Zeiten eines beschleunigten gesellschaftlichen Wandels stehen die politischen Entscheidungsträger vor der Herausforderung, sich neuen Problemen zu stellen und diese so zu lösen, dass sie von der Öffentlichkeit als gerecht und angemessen empfunden werden. Seit zwei Jahrzehnten sind neben den traditionellen politischen Themen auch neue Fragen auf die politische Tagesordnung getreten. Der Umgang mit zwei Problemen, der zunehmenden grenzüberschreitenden Migration und dem Klimawandel, ist besonders umstritten. Auf der Grundlage von Meinungsumfragen vor den letzten vier Bundestagswahlen wird hier die Struktur und die Veränderungen der Einstellungskongruenz zwischen den Bundestagskandidaten, den Bundestagsabgeordneten und der Wählerschaft untersucht. Während sich die beiden Gruppen von Politikern und Bevölkerung in ihrer Positionierung auf dem Links-Rechts-Kontinuum und ihren sozioökonomischen Grundvorstellungen unterscheiden – sich aber nicht grundsätzlich entgegenstehen –, zeigt sich in der Klimaschutz- und Migrationspolitik eine völlig andere Konstellation. Politiker und Bevölkerung sind sich weitgehend einig in der Befürwortung eines stärkeren Engagements gegen den Klimawandel; in der Migrationspolitik hingegen befürwortet die Mehrheit der Bevölkerung einen restriktiven Kurs, während die Mehrheit der Politiker eine liberale Einwanderungspolitik bevorzugt. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 2, S. 408 – 439]
Kurz, Kira Renée: Mehr Demokratie wagen! Eine politikwissenschaftliche Replik auf die juristische Einschätzung zur Absenkung der Altersgrenze für das aktive Wahlrecht zum Deutschen Bundestag.
In dieser aus politikwissenschaftlicher Sicht verfassten Ergänzung und Kritik von Lukas Sairingers juristischer Einschätzung der Thematik in ZParl 2/2022 werden insbesondere Bedenken bezüglich der Würde der gewählten Institution und der politischen Reife jüngerer Wähler auf empirischer Grundlage entkräftet. Die Untersuchung kommunaler Wahlen und Wahlen auf Landesebene in Deutschland sowie nationaler Wahlen in Österreich und Schottland zeigt den potenziell positiven Einfluss einer Wahlaltersabsenkung auf das politische Engagement junger Menschen und demokratische Prozesse. Ebenso werden jedoch Probleme deutlich, die aus der momentanen föderalen Heterogenität entstehen, so dass für eine Vereinheitlichung plädiert wird. Eine Absenkung der Altersgrenze sollte dabei durch Programme im Bereich der politischen Bildung begleitet werden, um sozio-ökonomisch bedingten Unterschieden bei politischer Partizipation langfristig entgegenzuwirken. [ZParl, 54. Jg. (2023), H. 2, S. 440 – 451]