Abstracts 1/2024 deutsch

Walter-RoggMelanie: Die bayerische Landtagswahl vom 8. Oktober 2023: Votum für Kontinuität der schwarz-orangenen Koalition.

Die Bayernwahl am 8. Oktober 2023 hat zu einem Rechtsruck geführt. Die Freien Wähler (FW) und die AfD sind die Wahlgewinner und legen im Vergleich zu 2018 nochmals deutlich zu. Die Parteien der Berliner Ampel sind die Wahlverlierer. Vor allem die Grünen bekommen weniger Stimmen als fünf Jahre zuvor, sie bleiben aber gemeinsam mit den FW und der AfD relativ gleichauf hinter der immer noch dominierenden CSU. Die CSU verharrt auf dem niedrigsten Ergebnis seit 1950, und die SPD erzielt ihr schlechtestes Ergebnis in einem westlichen Bundesland. Die Liberalen werden am härtesten abgestraft, sie scheitern zum siebten Mal in zehn Wahlperioden an der Fünf-Prozent-Hürde. Massive Probleme wie steigende Inflation und Energiepreise sowie ernster werdende Herausforderungen durch den Klimawandel, die Migration und einen zunehmenden Rechtspopulismus stellen auch das reiche Bundesland Bayern auf den Prüfstand und lassen bei der Wahl landesspezifische Themen in den Hintergrund treten. Maßgeblich für das Ergebnis war die allgemeine Zufriedenheit mit der Arbeit des Ministerpräsidenten, der Wunsch nach Stabilität und Kontinuität in schwierigen Zeiten, aber auch eine wachsende Sorge, dass die CSU die Probleme nicht mehr alleine bewältigen kann. Deshalb stimmten die Bürger für die Weiterführung der schwarz-orangenen Koalition, die nur 19 Tage nach der Wahl gebildet wurde. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 1, S. 3 – 24]

Debus, Marc und Thorsten Faas: Die hessische Landtagswahl vom 8. Oktober 2023: Die Schwäche der Ampelparteien und das überraschende Ende von Schwarz-Grün.

Die hessische Landtagswahl vom 8. Oktober 2023 fand in einem polarisierten politischen Klima statt, das durch wachsende Kritik an der Bundesregierung und die vielfältigen Implikationen des Überfalls Russlands auf die Ukraine für die deutsche und europäische Politik gekennzeichnet war. Gleichzeitig arbeitete die Landesregierung aus CDU und Bündnis 90/Die Grünen relativ konfliktfrei und blieb auch nach dem Wechsel im Amt des Ministerpräsidenten von Volker Bouffier zu Boris Rhein stabil. Die Sozialdemokraten als größte Oppositionspartei nominierten mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser eine in der hessischen Landespolitik wie auch bundesweit bekannte Politikerin als Spitzenkandidatin. Das Ergebnis der Landtagswahl spiegelte den schwachen Rückhalt der die Bundesregierung tragenden Parteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP in der Wählerschaft wider. Die CDU profitierte von der hohen Unzufriedenheit mit der Bundesregierung sowie dem Ministerpräsidentenbonus und errang beinahe einen doppelt so hohen Stimmenanteil wie die AfD, die mit 18,2 Prozent der Stimmen zweitstärkste Kraft wurde und ihr bislang bestes Ergebnis bei einer westdeutschen Landtagswahl erzielen konnte. Die Linke verfehlte den erneuten Einzug in den hessischen Landtag. Die CDU konnte sich ihren Koalitionspartner zwischen Bündnis 90/Die Grünen und SPD aussuchen und entschied sich – wohl auch aufgrund größerer inhaltlicher Schnittmengen, wie eine Analyse der Wahlprogramme zeigt – für die Sozialdemokraten als neuen Juniorpartner, gegenüber dem sich die Union im Hinblick auf die Ämterverteilung wie auch den Inhalten des Koalitionsabkommens sehr gut durchsetzen konnte. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 1, S. 25 – 42]

CarstensenFranziska: Das reformierte Fragerecht im Berliner Abgeordnetenhaus: wirklich eine Stärkung des Parlaments?

Das Abgeordnetenhaus von Berlin beschloss Anfang 2014 eine umfassende Reform des Fragerechts: Große Anfragen wurden abgeschafft, und das mündliche Fragerecht wurde auf spontanes Fragen begrenzt. Seitdem stehen im Berliner Parlament nur noch einfache schriftliche und mündliche Fragen als Instrumente zur Verfügung, die von einzelnen Abgeordneten und nicht von Fraktionen ausgeübt werden können. Begleitend dazu wurden die finanziellen Mittel für die Anstellung von persönlichen Mitarbeitern für Abgeordnete erhöht. Nach der Reform wurden mündliche Fragen weniger genutzt, während es einen massiven Anstieg von schriftlichen Fragen gab. Zudem wurden Fragen nun häufiger auch von Abgeordneten der die Regierung tragenden Fraktionen gestellt, und sie thematisierten öfter Zahlenangaben wie bei Fragen nach Statistiken und Kosten. Es lässt sich ein Fokus auf häufiges Fragen und schnelles Antworten feststellen, der zu Lasten größerer Frageprojekte geht, die der Entwicklung von eigenen Konzepten (gerade von Seiten der Opposition) dienen würden. Die Frage, ob mit der Reform eine Stärkung des Parlaments, womit ihre Befürworter sie beworben hatten, erreicht wurde, lässt sich anhand der vorgestellten Befunde problematisieren. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 1, S. 43 – 62]

GrabmeierJohannes: Grundmandat, Bewertung des Gleichheitsgebots, Verzerrung – Fallstricke bei der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen in Mecklenburg-Vorpommern.

Der Landtag Mecklenburg-Vorpommern der 8. Wahlperiode hat 79 Abgeordnete in sechs Fraktionen, die mit folgenden Sitzstärken vertreten sind: SPD 34, AfD 14, CDU 12, Linke 9 sowie Grüne und FDP mit je 5. Bei der Frage der Besetzung von zwei Untersuchungsausschüssen kam es zum Streit. Mit Mehrheit setzte der Landtag zwei Ausschüsse mit neun Mitgliedern – vier SPD-Abgeordneten und je einem aus den fünf weiteren Fraktionen – auf Vorschlag der Regierungskoalition von SPD und der Linken ein. Der Vorschlag der Fraktionen von CDU, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP, die Ausschüsse mit 13 Mitgliedern und der Sitzverteilung 6:2:2:1:1:1 auszustatten, wurde abgelehnt. Die von der CDU-Fraktion als Antragstellerin angestrengten Organstreitverfahren LVerfG 3/22 und 4/22 vor dem Landesverfassungsgericht blieben im Urteil vom 23. Februar 2023 erfolglos. Die dabei aufgetretenen Problemfelder lassen sich mit den Stichwörtern Grundmandat, Bewertung des Gleichheitsgebots und Verzerrung umreißen. Alle drei erwiesen sich für die Akteure als Fallstricke. Dies wird im Beitrag in Form von Anmerkungen zum Urteil des Landesverfassungsgerichts thematisiert. Gleichzeitig werden Lösungsansätze zur Vermeidung solcher Streitigkeiten und auch zu ihrer adäquaten Beurteilung aufgezeigt. Allen voran steht ein Gütemaß für die Erfüllung des Spiegelbildlichkeitsprinzips, das unabhängig von dem gewählten Zuteilungsverfahren für jede denkbare Sitzverteilung eine Gütezahl liefert. Damit kann sowohl die Erfüllung des Gleichheitsgebots bewertet als auch die Verzerrung einer Verteilung quantifizierbar und damit objektiv betrachtet werden. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 1, S. 63 – 75]

AngerTim-Niklas und Martin Klausch: Planspielangebote der Landesparlamente. Eine Bestandsaufnahme.

Die Mehrzahl der deutschen Landesparlamente bietet Planspiele für Jugendliche an. Diese Veranstaltungen sollen Heranwachsenden die Prozesse innerparlamentarischer Willensbildung und Entscheidungsfindung nachvollziehbar vermitteln. Der Beitrag präsentiert eine nach inhaltlichen und organisatorischen Kriterien strukturierte Bestandsaufnahme des aktuellen Angebotsspektrums. Alle Planspiele simulieren die Gesetzgebungsfunktion des jeweiligen Parlaments. Andere Parlamentsfunktionen werden nur ergänzend oder gar nicht thematisiert. Zwei Drittel der Planspiele sind für Schulklassen konzipiert. Sie dauern in der Regel maximal einen Tag und können mehrmals im Jahr bis zu mehrmals pro Woche stattfinden. Demgegenüber bieten vier Parlamente mehrtägige Planspiele für Einzelpersonen an, die allerdings viel seltener durchgeführt werden als die Programme für Schulklassen. Ergänzend zu der generellen Angebotsübersicht werden detaillierte Einblicke in die Veranstaltung „Jugend im Parlament“ der Hamburgischen Bürgerschaft gegeben, die im Rahmen einer Hospitation gewonnen wurden. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 1, S. 76 – 92]

SonnicksenJared: Konträr oder konstruktiv? Zur produktiven Widersprüchlichkeit zwischen Föderalismus und parlamentarischer Demokratie. 

Das Verhältnis zwischen Föderalismus und parlamentarischer Demokratie wurde lange Zeit als anfällig für Funktionsprobleme und damit teilweise als inkompatibel betrachtet. Demnach steht der ebenen-übergreifenden Politikkoordinierung, die für die Funktionsfähigkeit des Föderalismus erforderlich ist, der für das parlamentarische Regierungssystem charakteristische Parteienwettbewerb entgegen. Das Zusammenwirken beider Prozesse galt entweder als anfällig für Blockaden der intergouvernementalen Koordinierung oder als Ursache einer Entparlamentarisierung der Politik. Angesichts der vielfältigen Praxis föderaler Systeme greift jedoch eine solche Perspektive zu kurz. Zwar stellen Demokratie und Föderalismus keine inhärenten Pendants dar, aber ebenso wenig muss die Verbindung der zwei unterschiedlichen Systemdimensionen auf Inkompatibilität hinauslaufen. Vielmehr ist die Suche nach der Vereinbarkeit der unterschiedlichen, teils entgegenstehenden Anforderungen und Funktionslogiken eine dauerhafte Aufgabe jeder föderalen Demokratie. Je nach Muster der Bewältigung dieser Spannungsverhältnisse kann sich das Zusammenwirken von Föderalismus und parlamentarischer Demokratie produktiv erweisen und verschiedene Modi demokratischen Regierens ermöglichen. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 1, S. 93 – 108]

KleinMarkus, Christoph Kühling und Frederik Springer: Die Wahl des Oberbürgermeisters der Stadt Kassel vom 12. und 26. März 2023: Der Kampf zweier Sozialdemokraten und eine Stichwahl gegen sich selbst.

Die Wahl des Oberbürgermeisters der Stadt Kassel im März 2023 war in zweifacher Hinsicht besonders: Zum einen kandidierte im ersten Wahlgang eine Kandidatin der SPD gegen den amtierenden Oberbürgermeister, der ebenfalls der SPD angehörte, aber als unabhängiger Kandidat antrat. Zum anderen zog der Amtsinhaber nach dem ersten Wahlgang, im dem er die meisten Stimmen erhalten hatte, seine Kandidatur zurück. Im Ergebnis stand damit nur noch der Zweitplatzierte des ersten Wahlgangs in der Stichwahl. Auf Grundlage einer Befragung der Kasseler Bevölkerung und der amtlichen Wahlstatistik kann gezeigt werden, dass der Oberbürgermeister im ersten Wahlgang von einem starken Amtsbonus profitierte. Dass die SPD ihm die Unterstützung entzog, schadete ihm kaum. Der zweite Wahlgang änderte durch den Nicht-Antritt des Amtsinhabers seinen Charakter. Das Verfehlen einer Stimmenmehrheit für den verbliebenen Kandidaten hätte nunmehr Neuwahlen bedeutet. Dies rückte für viele Wähler die Frage in den Vordergrund, ob sie Neuwahlen für wünschenswert hielten oder nicht. In der Stichwahl ergab sich schließlich nur deshalb eine Mehrheit für den verbliebenen Kandidaten der Grünen, weil einige Wähler diese Neuwahlen vermeiden wollten. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 1, S. 109 – 127]

RisseHorst: Berlin-Wahl 2021 – 3. und 4. Akt des Dramas. 

Am 19. Dezember 2023 erging das Urteil des BVerfG zur Berliner Chaos-Wahl am 26. September 2021. Das Urteil bezieht sich nur auf die Bundestagswahl, die an diesem Tag gemeinsam mit den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus stattfand. Wie vielfach berichtet, kam es zu einer ungewöhnlich großen Anzahl von Unregelmäßigkeiten, weshalb der Berliner VerfGH die auf Berlin bezogenen Wahlen insgesamt für ungültig erklärte und eine vollständige Wiederholungswahl anordnete. Da die Bundestagswahl und die Berliner Wahlen verbunden waren, stellt sich die Frage, ob das BVerfG einerseits und der Berliner VerfGH andererseits die gleichen Kriterien für die Bestimmung von Wahlfehlern und den Umgang mit ihnen anwandte. Denn anders als der VerfGH ordnete das BVerfG eine Wiederholungswahl zum Bundestag nur für etwa ein Fünftel der Wähler an. Eine genauere Analyse der beiden Urteile zeigt, dass insbesondere die Konsequenzen von Wahlfehlern von den beiden Gerichten unterschiedlich bewertet wurden. Während das BVerfG dem Fortbestand des einmal gewählten Parlaments einen sehr hohen Stellenwert einräumte und so zu einer möglichst eingegrenzten Wiederholungswahl kam, zog der VerfGH aus der Masse der Fehler den gegenteiligen Schluss. Im Interesse eines möglichst einheitlichen Verständnisses der einschlägigen Rechtsbegriffe wäre es angezeigt gewesen, dass der VerfGH seine beabsichtigte Entscheidung dem BVerfG vorab vorgelegt hätte. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 1, S. 128 – 141]

RüttersPeter: Die AfD im 20. Bundestag: noch immer nur bedingt parlamentsfähig.

Wie schon bei etlichen Landtagswahlen gelang der 2013 gegründeten Alternative für Deutschland (AfD) bei der Bundestagswahl im September 2021 der Wiedereinzug ins Parlament, wenn auch – im Vergleich zum Wahlergebnis von 2017 – mit geringerem Stimmenanteil (10,3 statt 12,6 Prozent) und Mandatsverlusten (83 Sitze statt 94). Von den verbliebenen Abgeordneten konnten 58 (fast 70 Prozent der AfD-Abgeordneten im 20. Bundestag) ihr Mandat verteidigen. Mit Hilfe einer Analyse des (politischen) Sozialprofils der ausgeschiedenen, der wiedergewählten und der neugewählten Abgeordneten wird der Frage nach „Parlamentsfähigkeit“ und „Parlamentswilligkeit“ der AfD-Abgeordneten im 20. Bundestag nachgegangen. Schwerpunkt ist die parteipolitische und politische institutionelle Erfahrung, die die Abgeordneten vor dem Beitritt zur AfD und vor der Wahl in den Bundestag in etablierten Parteien und demokratischen Institutionen (Parlamenten, Wahlgremien kommunaler Selbstverwaltung) gewonnen haben. Die insgesamt geringe „berufspolitische“ Erfahrung von AfD-Abgeordneten im 19. Bundestag konnte von den 25 neu in den Bundestag gewählten Abgeordneten nicht kompensiert werden. Grundsätzlich reduzierte sich der politische Erfahrungsraum der Abgeordneten bis auf sehr wenige Ausnahmen. Entsprechend Relevanz hatte die innerparteiliche „Selbstrekrutierung“ durch den Wechsel von einem Landesparlament zum Bundestag und von parteinahen Anstellungen zu erfolgreichen Kandidaturen. All das dürfte eine „bewegungsorientierte“ politische Strategie von Partei und Fraktion begünstigen und Erwartungen an eine konstruktive und kooperative Mitarbeit im Bundestag dämpfen. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 1, S. 142 – 170]

Gabriel, Oscar W.: Responsivität im polarisierten Pluralismus – Teil 2: Die Rolle der Parteien.

In der empirischen Repräsentationsforschung gilt die Kongruenz zwischen den Einstellungen von Wählern und Gewählten als ein wichtiger Gradmesser politischer Responsivität. Am Beispiel von vier ausgewählten politischen Orientierungen untersucht dieser Beitrag für die Wahljahre 2009 bis 2021 die Übereinstimmung zwischen den Präferenzen der von den sechs im Bundestag vertretenen Parteien nominierten Kandidaten und der Bevölkerung. Für die vier Einstellungen ergeben sich unterschiedliche Befunde. Über alle Parteien hinweg bestehen große Ähnlichkeiten zwischen den politischen Präferenzen von Wählern und Politikern. Relativ stark stimmen die Positionen der Wähler und Politiker auf der Links-Rechts-Skala und ihre Einstellungen zum Klimaschutz miteinander überein, deutlichere Differenzen ergeben sich bei Einstellungen zur Steuerung der Migration. Die Präferenz für höhere Sozialausgaben oder Steuersenkungen liegt dazwischen. Stärker als bei den anderen Parteien sind die Differenzen zwischen den politischen Überzeugungen der Wähler und Politiker der SPD, der Linken und der AfD ausgeprägt. Neben der Parteipräferenz übt das Bildungsniveau den stärksten Einfluss auf die zwischen Wählern und Politikern bestehende Distanz aus. [ZParl, 55. Jg. (2024), H. 1, S. 171 – 204]

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